Achte Familie: Finken (Fringillidae)

[274] Unserem Edelfinken zu Liebe benennen wir eine ungefähr fünfhundert Arten umfassende, mit alleiniger Ausnahme Australiens über alle Erdtheile verbreitete Familie die der Finken (Fringillidae). Der Schnabel der zu ihr zählenden Sperlingsvögel ist kegelförmig, verschieden dick, an der Wurzel mit einem mehr oder minder deutlichen Wulste umgeben, der Oberschnabel oft ein wenig länger als der untere und mit schwachem Haken über diesen herabgebogen, ausnahmsweise auch mit letzterem gekreuzt, an den Schneiden bis zum Mundwinkel eingezogen, der Fuß mäßig lang, meist ziemlich kurzzehig und durchgehends mit schwachen Nägeln bewehrt, der Lauf hinten mit ungetheilten Schienen bekleidet, der Handtheil des Fittigs stets mit neun Schwingen besetzt, der Flügel übrigens verschieden lang, der Schwanz immer kurz, höchstens mittellang, das Gefieder, mit wenigen Ausnahmen, dicht anliegend, nach Geschlecht und Alter in der Färbung meist erheblich, zuweilen auch gar nicht verschieden.

Innerhalb der angegebenen Grenzen bewohnen die Finken alle Gürtel der Breite und Höhe, alle Oertlichkeiten von der Küste des Meeres an bis zu den höchsten Spitzen der Berge hinauf, einsame Inseln nicht minder als volksbelebte Städte, die Wüste wie den Wald, nacktes Gestein wie alle denkbaren Pflanzenbestände. Viele von den nordischen Arten sind Zugvögel, die im Süden des gemäßigten Gürtels und in den Gleicherländern lebenden ausnahmslos Standvögel; aber auch viele von denen, welche im Sommer auf eisigen Gefilden ihre Nahrung finden und nisten, verlassen dieselben nicht, so streng der Winter sein möge. Die wandernden Arten stellen sich mit der Schneeschmelze ein und meiden die Heimat erst, wenn der Winter in sie einzieht.

Alle Finken zählen zu den begabten Sperlingsvögeln, mag auch der Volksmund von einzelnen das Gegentheil behaupten. Sie sind sehr geschickte Läufer oder richtiger Hüpfer, gute Flieger und größtentheils angenehme, einzelne von ihnen sogar vortreffliche Sänger, ihre Sinne wohlentwickelt und ihre geistigen Fähigkeiten denen der meisten übrigen Sperlingsvögel mindestens gleich, sie daher wohl befähigt, die verschiedensten Oertlichkeiten auszunutzen. Meist gesellig, leben viele unter sich doch nur im Herbste und Winter friedfertig zusammen, wogegen auf den Brutplätzen erbitterter Streit nie endet. Solcher hat aber immer nur in Eifersucht seinen Grund; denn Futterneid, obwohl auch ihnen nicht fremd, erregt sie nicht in besonderem Grade. Sämereien der verschiedensten Pflanzen und im Hochsommer Kerbthiere bilden ihre Nahrung, letztere auch vorzugsweise die Atzung der Jungen; an beiden aber fehlt es selten, und wenn es wirklich der Fall ist, einigt die gemeinsame Noth. Fast alle Arten bauen sorgsam hergestellte, dickwandige, außen und innen zierlich gestaltete, sauber ausgekleidete Nester aus verschiedenen pflanzlichen und thierischen Stoffen, brüten zweimal, einzelne auch dreimal im Jahre, legen fünf bis acht auf lichterem Grunde dunkler gefleckte und gestrichelte Eier, ziehen demnach eine zahlreiche Nachkommenschaft heran und gleichen somit die vielen Verluste aus, welche allerlei Raubthiere ihrem Bestande zufügen. Auch der Mensch tritt ihnen zuweilen feindlich entgegen, um sie von seinen Nutzpflanzen abzuwehren; im allgemeinen aber sind sie wohlgelitten, schaden auch in der That nur ausnahmsweise und zeitweilig, bringen dafür erheblichen Nutzen und erfreuen außerdem durch ihr lebhaftes Betragen und die angenehmen Lieder, welche sie zum besten geben. Ihrer Anspruchslosigkeit und leichten Zähmbarkeit halber eignen sie sich mehr als die meisten Angehörigen ihrer Ordnung zu Käfigvögeln. Von Alters her sind sie Haus- und Stubengenossen des Menschen, und einzelne von ihnen werden, wenigstens hier und da, noch mehr als die Nachtigall geschätzt, verehrt, ja förmlich vergöttert. Eine Art, und zwar der einzige Sperlingsvogel, ist sogar zum förmlichen Hausthiere geworden, hat sich als solches die ganze Erde erobert und belebt durch seinen angenehmen Gesang das einsamste Blockhaus auf frisch gerodeter Waldstelle wie das Dachstübchen des Arbeiters. Mehr als ein Fink gehört in Deutschland zum Hause, zur Familie, läßt diese ihre Armut vergessen und erheitert den arbeitsmüden Mann durch den belebenden, frischen Klang, welchen sein Lied in die Werkstatt bringt. Mehr noch über ihre Bedeutung zu sagen, erscheint unnöthig; denn so nützlich sie sonst auch sein mögen durch Verzehren der Unkrautsämereien und Kerbthiere wie durch ihr wohlschmeckendes Fleisch, so [275] sehr sie jeden Naturfreund durch ihr helles Lied draußen im Felde und Walde erfreuen: größeren Ruhm können sie sich doch nicht erringen, als sie im Käfige durch Beglückung des Menschen bereits sich erworben haben.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 274-276.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Dulk, Albert

Die Wände. Eine politische Komödie in einem Akte

Die Wände. Eine politische Komödie in einem Akte

Diese »politische Komödie in einem Akt« spiegelt die Idee des souveränen Volkswillen aus der Märzrevolution wider.

30 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon