Schneefink (Montifringilla nivalis)

[298] Hoch oben auf den Alpengebirgen der Alten Welt, von den Pyrenäen an bis nach Sibirien hin, im Sommer immer über der Grenze des Holzwuchses, lebt ein unserem Edelfinken verwandter Vogel, der Schnee- oder Steinfink (Montifringilla nivalis und glacialis, Fringilla nivalis und saxatilis, Plectrophanes fringilloides, Emberiza, Chionospina, Orites, Geospiza und Leucosticte nivalis). Er unterscheidet sich von den vorstehend beschriebenen Arten durch den langen, gekrümmten, spornartigen Nagel der Hinterzehe, die langen Flügel und die gleichartige Befiederung beider Geschlechter, und wird deshalb als Vertreter einer besondern gleichnamigen Sippe (Montifringilla) angesehen. Seine Länge beträgt etwa zwanzig, die Breite sechsunddreißig, die Fittiglänge elf, die Schwanzlänge acht Centimeter. Oberkopf, Wangen, Hinter- und Seitenhals sind licht aschgrau, die Mantelfedern kaffeebraun, lichter gekantet, die Bürzelfedern in der Mitte schwarz, weißlich oder bräunlich gewellt, seitlich weiß, Kehle und Gurgel schwarz, Brustseiten und Weichen licht gelblichaschgrau, Kinn, Brust und Bauchmitte schmutzigweiß, die Schenkelfedern lichtgrau, der After und die Unterschwanzdeckfedern weiß, letztere mit kleinen dunkelbraunen Endflecken gezeichnet, die ersten sieben Handschwingen schwarz, außen und am Ende bräunlichweiß gesäumt, die achte Schwinge an der Wurzel und außen schwarz, übrigens wie alle anderen, mit Ausnahme der letzten kaffeebraunen, schneeweiß, Flügelrand, kleinere, mittlere und fast alle großen Flügeldeckfedern ebenso, die hintersten wie die Schulterfedern dunkelbraun, mit lichtbraunen Kanten, die Mittelschwanzfedern schwarz, außen weiß gesäumt, alle übrigen schneeweiß. Das Auge ist dunkelbraun, der Schnabel schieferschwarz, im Herbste und Winter wachsgelb, an der Spitze immer schwarz, der Fuß schwarz. Beim Weibchen ist das Weiß im Flügel weniger ausgedehnt. Nach der Mauser im Herbste sind alle dunklen Farben durch lichtere Federränder theilweise verdeckt.

Unsere Alpen, die Karpathen, der Kaukasus, die persischen Hochgebirge und der Himalaya beherbergen den Schneefinken. Fast ebenso zähe wie das Alpenschneehuhn, hängt er, laut Stölker, an dem höheren Gürtel des Gebirges. Arger Schneefall muß stattgefunden haben und strenge Kälte eingetreten sein, bevor er sich entschließt, die tieferen Thäler zu besuchen. Im Vorwinter geschieht dies weit seltener noch als im Nachwinter, weil den wettergestählten Vogel Schnee und Kälte so lange nicht behelligen, als noch Futtervorrath vorhanden ist. »Eher noch als er«, sagt Girtanner, »kommt die Flüelerche zu uns herab; ich erinnere mich bloß eines einzigen Schneefinken, welcher hier in St. Gallen erlegt wurde. Die bitterste Noth zwingt ihn, zu Thal zu [298] fliegen. Ob er auch im allerstrengsten Winter, wenn in der Höhe nur Schnee, Eis und Sturmwind die Herrschaft haben, wenn selbst Mauerläufer und Flüelerche, Bartgeier und Schneehuhn ihr Heimatsrecht in jenen höchsten Höhen aufgeben, noch in seinem eigentlichen Wohngebiete verharrt, weiß ich nicht, kann mir aber kaum denken, daß dies so sei, da mir nicht möglich ist festzustellen, was er dort oben zu fressen finden sollte.«


Citronfink (Citrinella alpina), Schneefink (Montifringilla nivalis) und Bergleinfink (Linaria rufescens). 1/2 natürl. Größe.
Citronfink (Citrinella alpina), Schneefink (Montifringilla nivalis) und Bergleinfink (Linaria rufescens). 1/2 natürl. Größe.

Auch während des strengsten Winters entfernt er sich kaum vom Gebirge, und Fälle, daß er wirklich auf deutsches Gebiet sich verirrt hat, gehören daher zu den größten Seltenheiten. Im Laufe des Sommers lebt er nur in dem höchsten Alpengürtel, unmittelbar unter der Grenze des ewigen Schnees, während der Brutzeit paarweise, nach derselben in Trupps und Flügen, meist am Rande der Halden, woselbst er rasch über die einzelnen Felsen trippelt, zeitweise mit den Genossen sich erhebt und unter leisem »Jüp, jüp« eine Strecke weit fliegt, aber bald wieder sich niederläßt und ebenso eifrig wie vorher weiter nach Nahrung sucht. In Angst gesetzt zirpt er kläglich, und bei Gefahr warnt er durch ein schmetterndes, »Gröo«. Sein Gesang, welchen man im Freien nur während der Fortpflanzungszeit vernimmt, wird aus allen diesen Lauten zusammengesetzt und von den Kennern als der schlechteste aller Finkengesänge bezeichnet; er ist kurz, rauh, hart und unangenehm stark. In seinen Bewegungen [299] erinnert er mehr an Schneeammer und Lerche als an den Edelfinken, fliegt auch wie jene sehr leicht und schwebend; aufgescheucht hebt er sich gewöhnlich in bedeutende Höhe, kehrt aber oft, nachdem er einen weiten Umkreis beschrieben, fast genau auf dieselbe Stelle zurück. Vor dem Menschen scheut er sich nicht, und wenn er bei Ankunft eines solchen entflieht, geschieht es meist wohl nur deshalb, weil ihn die ungewohnte Erscheinung schreckte. Auf den Bergstraßen kommt er im Winter regelmäßig vor die Häuser und fliegt dort, wo er des Schutzes sicher ist, furchtlos in die Wohnungen aus und ein; in der ungastlichen Tiefe zeigt er sich anfänglich so vertrauensselig, daß er der Tücke des Menschen nur allzuleicht zum Opfer fällt; Verfolgung aber witzigt binnen kurzem auch ihn.

Schon im April, meist aber erst zu Anfange des Mai, schreitet der Schneefink zur Fortpflanzung. Er brütet am liebsten in den Spalten steiler, senkrechter Felswände, zuweilen auch in Mauerritzen oder unter den Dachplatten einzelner Gebäude, gleichviel, ob solche bewohnt sind oder leer stehen. Das Nest, ein dichter und großer Bau, wird aus feinen Halmen zusammengetragen und sorgsam mit Wolle, Pferdehaaren, Schneehuhnfedern und dergleichen ausgefüttert. Die Eier, welche die unseres Edelfinken an Größe übertreffen, sind schneeweiß. Beide Eltern füttern gemeinschaftlich und zwar hauptsächlich mit Larven, Spinnen und Würmchen ihre Jungen groß. Haben sie mehr in der Tiefe gebrütet, so führen sie die ausgeflogenen Jungen baldmöglichst zu den Gefilden des »ewigen Schnees« empor. Hier wie während des Winters bilden verschiedene Sämereien ihre Nahrung, und wie es scheint, leiden sie auch in der armen Jahreszeit keinen Mangel. In den Hospizen werden sie regelmäßig gefüttert und sammeln sich deshalb oft in Scharen um diese gastlichen Häuser.

Gefangene gewöhnen sich ohne Umstände im Käfige ein, nehmen mit allerlei passendem Futter vorlieb und erwerben sich durch ruhiges und verträgliches Wesen, Geselligkeit und Liebenswürdigkeit, Anspruchslosigkeit und Dauerhaftigkeit die Zuneigung jedes Pflegers.


*


Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 298-300.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Kleist, Heinrich von

Die Hermannsschlacht. Ein Drama

Die Hermannsschlacht. Ein Drama

Nach der Niederlage gegen Frankreich rückt Kleist seine 1808 entstandene Bearbeitung des Hermann-Mythos in den Zusammenhang der damals aktuellen politischen Lage. Seine Version der Varusschlacht, die durchaus als Aufforderung zum Widerstand gegen Frankreich verstanden werden konnte, erschien erst 1821, 10 Jahre nach Kleists Tod.

112 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon