Winterammerfink (Junco hyemalis)

[292] Der kleine, fast kegelförmige, nur an der Spitze gebogene Schnabel, der ziemlich hochläufige, kurzzehige, mit mittellangen, aber kräftigen Nägeln bewehrte Fuß, der kurze Flügel, unter dessen Schwingen die zweite die Spitze bildet, der mäßig lange, sanft ausgeschweifte, seitlich gerundete, schmale Schwanz und die düstere Färbung des Gefieders sind die Merkmale der Schneeammerfinken (Junco), als deren Vertreter der Winterammerfink oder Schneevogel der Amerikaner (Junco hyemalis, Fringilla hiemalis, hudsonia und nivalis, Niphaea, Emberiza und Struthus hyemalis oder hiemalis) Erwähnung finden mag, weil er auch einmal auf Island vorgekommen sein soll. Seine Länge beträgt hundertundfunfzig, die Breite zweihundertundzwanzig, die Fittig länge neunundsiebzig, die Schwanzlänge fünfundsiebzig Millimeter. Die Kopf- und Obertheile sind düster schiefergrau, die Untertheile von der Brust an weiß, die Schwingen und deren Deckfedern dunkelbraun, außen verwaschen bräunlich gesäumt, die Schwanzfedern braunschwarz, die beiden äußeren weiß, die dritte jederseits mit einem länglichen weißen Schaftfleck ausgestattet. Der Augenring ist dunkelbraun, der Schnabel röthlich hornweiß, der Fuß fleischfarben.

[292] Die nördlichen Vereinigten Staaten bis in den arktischen Kreis hinauf beherbergen den Winterammerfinken. Er gehört zu den gemeinsten Arten seiner Familie und kommt im größten Theile Nordamerikas wenigstens zeitweilig häufig vor. »Ich habe«, sagt Wilson, »vom Norden Maines bis Georgia das Land durchwandert und ungefähr eintausendachthundert Meilen zurückgelegt; aber ich erinnere mich keines Tages und kaum einer Meile, ohne daß ich Scharen dieser Vögel, zuweilen solche von vielen tausenden, gesehen hätte, und alle anderen Reisenden, mit denen ich gesprochen habe, bestätigten mir dasselbe: auch sie hatten überall diese Vögel gefunden.« Er ist ein Bewohner der Gebirge und des Nordens, erscheint in den Vereinigten Staaten zu Ende des Oktober und verläßt dieselben wieder gegen Ende des April. Eines schönen Morgens sieht man ihn plötzlich in Menge da, wo man am Tage vorher keinen einzigen bemerkte. Anfänglich hält er sich in kleinen Trupps von zwanzig bis dreißig Stück zusammen und treibt sich an Waldrändern, Hecken und Zäunen umher; später vereinigt er sich zu größeren Scharen und, namentlich vor Stürmen, zu Flügen von tausenden. So lange der Boden noch unbedeckt ist, nährt er sich von Grassämereien, Beeren und Kerbthieren, nicht selten in Gesellschaft von Baumhühnern, wilden Truthühnern, auch wohl Eichhörnchen, welche mit ihm demselben Futter nachgehen. Wenn aber Schnee gefallen ist und seine Futterplätze bedeckt sind, erscheint er im Gehöfte des Bauern, längs der öffentlichen Wege und schließlich auch in den Straßen der Stadt, begibt sich vertrauensvoll unter den Schutz des Menschen und wird tagtäglich grausam getäuscht, d.h. zu hunderten weggefangen, doch auch von Gutherzigen gefüttert und unterstützt. Zutraulich läßt er den Fußgänger und Reiter nahe an sich vorüberziehen und fliegt höchstens dann auf, wenn er fürchtet, von dem Vorbeigehenden verletzt zu werden. Mit beginnendem Frühlinge verläßt er Städte und Dörfer, um seinen lieben Bergen oder seinem heimatlichen Norden zuzufliegen.

Mit Vögeln seines Gelichters vereinigt sich der Winterfink selten. Höchstens in den Dörfern schlägt er sich mit dem sogenannten Singsperlinge und anderen Verwandten in Flüge zusammen; aber auch dann noch hält er sich gesondert von dem großen Haufen. Die Nacht verbringt er auf Bäumen sitzend oder aber nach Art der Sperlinge in Höhlungen, welche er zufällig findet oder in den Getreidehaufen selbst sich anlegt. Audubon versichert, daß eine gewisse Förmlichkeit unter ihnen herrsche, und daß keiner zu große Vertraulichkeit leiden möge. Augenblicklich sind die kleinen Schnäbel geöffnet und die Flügel ausgebreitet, wenn ein Fremder zu nahe kommt; die Augen funkeln, und ein abweisender Ton wird ausgestoßen, um den Störenfried zu bedeuten. In seinen Bewegungen ähnelt er unserem Sperlinge. Er hüpft leicht über den Boden dahin, fliegt schnell und zeigt bei eifersüchtigen Kämpfen mit seinesgleichen große Geschicklichkeit.

Bald nach seiner Ankunft in der eigentlichen Heimat schreitet der Winterfink zur Fortpflanzung. Die Männchen kämpfen heftig unter einander, jagen sich, fliegend, hin und her, breiten dabei Schwingen und Schwanz weit aus und entfalten so eine eigenthümliche und überraschende Pracht. Zu gleicher Zeit geben sie ihren einfachen, aber angenehmen Gesang zum besten, in welchem einige volle, lang gezogene Töne die Hauptsache sind; Gerhardt nennt ihn ein Gezwitscher, wie das junger Kanarienvögel. Die Paare suchen sich sodann einen geeigneten Nistplatz aus, am liebsten eine Bergwand, welche dicht mit Buschwerk bestanden ist, und bauen sich hier, immer auf dem Boden, aus Rindenschalen und Gras ihr Nest, dessen innere Wandung mit feinem Moose, Pferde- und anderen Haaren ausgekleidet wird. Die vier Eier sind etwa zwanzig Millimeter lang, sechzehn Millimeter dick und auf gilblichweißem Grunde dicht mit kleinen röthlichbraunen Flecken gezeichnet. Ueber den Antheil, welchen das Männchen am Brutgeschäfte nimmt, finde ich keine Angabe; dagegen wird erwähnt, daß beide Eltern ihre ausgeflogenen Jungen noch längere Zeit führen, sorgsam bewachen und bei Gefahr durch einen eigenthümlichen Laut warnen.

Gefangene Winterammerfinken gelangen zuweilen in unsere Käfige, sind aber nicht im Stande, für sich einzunehmen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 292-293.
Lizenz:
Kategorien: