Großgimpel (Pyrrhula major)

[346] Der Gimpel bewohnt, mit Ausnahme des Ostens und Nordens, ganz Europa, den Süden unseres heimatlichen Erdtheils jedoch nur als Wintergast. Im Osten und Norden Europas und ebenso in ganz Mittelasien wird er vertreten durch den Großgimpel (Pyrrhula major, rubricilla und coccinea, Loxia pyrrhula), welcher sich zwar einzig und allein durch bedeutendere Größe, aber so ständig unterscheidet, daß man die zuerst von meinem Vater ausgesprochene Trennung beider Arten anerkennen muß. Der Großgimpel brütet noch in Preußen und Pommern, nicht aber im Westen Deutschlands, erscheint hier auch nur während des Zuges; der Gimpel wiederum kommt schon in Pommern nicht mehr vor. Die eine wie die andere Art, auf deren Trennung ich im nachfolgenden nicht weiter Rücksicht nehmen will, ist streng an den Wald gebunden und verläßt ihn, so lange sie Nahrung findet, gewiß nicht. Erst wenn der Winter den Gimpel aus seiner Wohnstätte vertreibt, kommt er gesellschaftsweise in Obstpflanzungen und Gärten der Dörfer oder in Feldgebüsche, um hier nach den wenigen Beeren und Körnern zu suchen, welche andere Familienverwandte ihm noch übrig gelassen haben. Zu Anfang des Striches sieht man oft nur Männchen, später Männchen und Weibchen unter einander. So lange nicht besondere Umstände zu größeren Wanderungen nöthigen, bleibt er im Vaterlande; unter Umständen dehnt er seine Wanderungen bis nach Südspanien oder Griechenland aus. Er wandert meist bei Tage und fliegt womöglich von einem Walde zum anderen.

»Der Name Gimpel«, sagt mein Vater, »ist als Schimpfwort eines als beschränkt zu bezeichnenden Menschen allbekannt und läßt auf die Dummheit unseres Vogels schließen. Es ist nicht zu leugnen, daß er ein argloser, den Nachstellungen der Menschen keineswegs gewachsener Gesell ist: er läßt sich leicht schießen und fangen. Doch ist seine Dummheit bei weitem nicht so groß als die der Kreuzschnäbel; denn obgleich der noch übrige Theil einer Gesellschaft nach dem Schusse, [346] welcher einen Vogel dieser Art tödtet, zuweilen auf oder neben dem Baume, auf welchem sie erst saß, wieder Platz nimmt: so weiß ich doch kein Beispiel, daß auf den Schuß ein gesunder Gimpel sitzen geblieben wäre, was allerdings bei den Kreuzschnäbeln zuweilen vorkommt. Wäre der Gimpel wirklich so dumm, als man glaubt, wie könnte er Lieder so vollkommen nachpfeifen lernen? Ein hervorstechender Zug bei ihm ist die Liebe zu seinesgleichen. Wird einer von der Gesellschaft getödtet, so klagen die anderen lange Zeit und können sich kaum entschließen, den Ort, wo ihr Gefährte geblieben ist, zu verlassen; sie wollen ihn durchaus mitnehmen. Dies ist am bemerkbarsten, wenn die Gesellschaft klein ist. Diese innige Anhänglichkeit war mir oft rührend. Einst schoß ich von zwei Gimpelmännchen, welche in einer Hecke saßen, das eine; das andere flog fort, entfernte sich so weit, daß ich es aus den Augen verlor, kehrte aber doch wieder zurück und setzte sich in denselben Busch, in welchem es seinen Gefährten verloren hatte. Aehnliche Beispiele könnte ich mehrere anführen.

Der Gang unseres Gimpels ist hüpfend, auf der Erde ziemlich ungeschickt. Auf den Bäumen ist er desto gewandter. Er sitzt auf ihnen bald mit wagerecht stehendem Leibe und angezogenen Fußwurzeln, bald aufgerichtet mit weit vorstehenden Füßen, und hängt sich oft unten an die Zweige an. Seine lockeren und langen Federn legt er selten knapp an, und deswegen sieht er gewöhnlich viel größer aus, als er ist. Im Fluge, vor dem Fortfliegen, gleich nach dem Aufsetzen und beim Ausklauben der Samenkörner oder Kerne trägt er sich schlank und schön; im Käfige läßt er die Federn fast immer etwas hängen. Ein Baum voll Gimpel gewährt einen prächtigen Anblick. Das Roth der Männchen sticht im Sommer gegen das Grün der Blätter und im Winter gegen den Reif und Schnee herrlich ab. Sie scheinen gegen die Kälte ganz unempfindlich zu sein; denn sie sind im härtesten Winter, vorausgesetzt, daß es ihnen nicht an Nahrung fehlt, sehr munter. Ihr ungemein dichtes Gefieder schützt sie hinlänglich. Dieses hat auch auf den Flug großen Einfluß; denn er ist leicht, aber langsam, bogenförmig und hat mit dem des Edelfinken einige Aehnlichkeit. Wie bei diesem ist das starke Ausbreiten und Zusammenziehen der Schwingen sehr bemerkbar. Vor dem Niedersetzen schweben sie oft, stürzen sich aber auch zuweilen mit stark nach hinten gezogenen Flügeln plötzlich herab. Der Lockton, welchen beide Geschlechter hören lassen, ist ein klagendes ›Jüg‹ oder ›Lüi‹ und hat im Thüringischen unserem Vogel den Namen ›Lübich‹ verschafft. Er wird am häufigsten im Fluge und im Sitzen vor dem Wegfliegen oder kurz nach dem Aufsetzen ausgestoßen, ist, nachdem er verschieden betont wird, bald Anlockungs-, bald Warnungsruf, bald Klageton. Er wird jedesmal richtig verstanden. Man sieht hieraus, wie fein die Unterscheidungsgabe bei den Vögeln sein muß, da die Veränderungen des Locktones, welche vom Menschen oft kaum zu bemerken sind, in ihren verschiedenen Bedeutungen stets richtig aufgefaßt werden. Der Gesang des Männchens ist nicht sonderlich; er zeichnet sich namentlich durch einige knarrende Töne aus und läßt sich kaum gehörig beschreiben. In der Freiheit ertönt er vor und in der Brutzeit, in der Gefangenschaft fast das ganze Jahr.«

Baum- und Grassämereien bilden die Nahrung des Gimpels; nebenbei verzehrt er die Kerne mancher Beerenarten und im Sommer viele Kerbthiere. Den Fichten-, Tannen- und Kiefersamen kann er nicht gut aus den Zapfen herausklauben und liest ihn deshalb gewöhnlich vom Boden auf. Die Kerne der Beeren trennt er mit großer Geschicklichkeit von dem Fleische derselben, welches er als ungenießbar wegwirft. Im Winter erkennt man das Vorhandensein von Gimpeln unter beerentragenden Bäumen leicht daran, daß der Boden unten mit den Ueberbleibseln der Beeren wie besäet ist. Doch geht der Vogel nur im Nothfalle an solches Futter und zieht ihm immer die Sämereien vor. Zur Beförderung der Verdauung liest er Sandkörner auf. Durch Abbeißen der Knospen unserer Obstbäume kann er lästig werden; da er jedoch nirgends in namhafter Menge auftritt, fällt der durch ihn verursachte Schaden kaum ins Gewicht, es sei denn, daß einmal ein Flug in einen kleinen Garten einfallen und hier längere Zeit ungestört sein Wesen treiben sollte.

In gebirgigen Gegenden, wo große Strecken mit Wald bestanden sind und dieser heimliche, wenig besuchte Dickichte enthält, nistet der Gimpel regelmäßig. Ausnahmsweise siedelt er sich auch [347] in Parks und großen Gärten an. So brütet ein Paar alljährlich in dem Epheu, welcher das Gärtnerhäuschen eines Parkes in Anhalt umrankt; andere hat man in Auwaldungen gefunden. Das Nest steht auf Bäumen, gewöhnlich in geringer Höhe, entweder in einer Gabel des höheren Buschholzes, oder auf einem Seitenästchen dicht am Baumschafte, besteht äußerlich aus dürren Fichten-, Tannen- und Birkenreischen, auf welchen eine zweite Lage äußerst feiner Wurzelfasern und Bartflechten folgen, und ist innerlich mit Reh- und Pferdehaaren oder auch nur mit zarten Grasblättchen und feinen Flechtentheilen ausgefüttert. Zuweilen wird der inneren Wandung auch wohl Pferdehaar oder Schafwolle beigemischt. Im Mai findet man vier bis fünf verhältnismäßig kleine, etwa einundzwanzig Millimeter lange, funfzehn Millimeter dicke, rundliche, glattschalige Eier, welche auf bleichgrünlichem oder grünlichbläulichem Grunde mattviolette oder schwarze Flecke und rothbraune Punkte, Züge und Schnörkel zeigen. Das Weibchen zeitigt die Eier binnen zwei Wochen und wird, so lange es auf dem Neste sitzt, von dem Männchen ernährt. Beide Eltern theilen sich in die Erziehung ihrer Kinder, welche sie äußerst zärtlich lieben und mit Lebensgefahr zu vertheidigen suchen. Die Jungen erhalten anfänglich Kerbthiere, später junge Pflanzenschößlinge und allerhand im Kropfe erweichte Sämereien und schließlich hauptsächlich die letzteren. Auch nach dem Ausfliegen werden sie noch längere Zeit von den Eltern geführt, falls diese nicht zur zweiten Brut schreiten.

Im Gebirge nimmt man die jungen Gimpel, noch ehe sie flügge sind, aus dem Neste, um sie zu erziehen und zu lehren. Je früher man den Unterricht beginnen kann, um so günstiger ist das Ergebnis. Auf dem Thüringer Walde werden jährlich hunderte junger Gimpel erzogen und dann durch besondere Vogelhändler nach Berlin, Warschau, Petersburg, Amsterdam, London, Wien, ja selbst nach Amerika gebracht. Der Unterricht beginnt vom ersten Tage ihrer Gefangenschaft an, und die hauptsächlichste Kunst desselben besteht darin, daß der Lehrer selbst das einzuübende Lied möglichst rein und immer gleichmäßig vorträgt. Man hat versucht, mit Hülfe von Drehorgeln zu lehren, aber wenig Erfolg erzielt. Selbst die Flöte kann nicht leisten, was ein gut pfeifender Mund vorträgt. Einzelne lernen ohne sonderliche Mühe zwei bis drei Stückchen, während andere immer Stümper bleiben; einzelne behalten das Gelehrte zeitlebens, andere vergessen es namentlich während der Mauser wieder. Auch die Weibchen lernen ihr Stücklein, obwohl selten annähernd so voll und rein wie die Männchen. Von diesen werden einzelne zu wirklichen Künstlern. »Ich habe«, sagt mein Vater, »Bluthänflinge und Schwarzdrosseln manches Lied nicht übel pfeifen hören; aber dem Gimpel kommt an Reinheit, Weichheit und Fülle des Tones kein deutscher Vogel gleich. Es ist unglaublich, wie weit er gebracht werden kann. Er lernt oft die Weisen zweier Lieder und trägt sie so flötend vor, daß man sich nicht satt daran hören kann.« Abgesehen von der Gabe der Nachahmung, zeichnet sich der Gimpel vor allen übrigen Finken durch leichte Zähmbarkeit, unbegrenzte Anhänglichkeit und unvergleichliche Hingabe an seinen Pfleger aus, tritt mit diesem in ein inniges Freundschaftsverhältnis, jubelt in dessen Gegenwart, trauert in dessen Abwesenheit, stirbt sogar im Uebermaße der Freude wie des Kummers, welchen ihm sein Herr bereitet. Ohne besondere Mühe kann er zum Aus- und Einfliegen gewöhnt werden, brütet auch leicht im Käfige, vereinigt also eine Reihe vortrefflicher Eigenschaften in sich.


*


Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 346-348.
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