Kernbeißer (Coccothraustes vulgaris)

[324] Der Kernbeißer, Kirschfink, Kirschknacker, Kirschschneller, Kirschkern-, Stein-, Nuß- und Bollenbeißer, Dickschnabel, Finkenkönig, Klepper, Leske, Lysblicker usw. (Coccothraustes vulgaris, deformis, atrigularis, europaeus, fagorum, cerasorum, planiceps, flaviceps und minor, Loxia und Fringilla coccothraustes), bildet mit seinen Verwandten eine sehr ausgezeichnete, [324] nach ihm benannte Sippe (Coccothraustes), welche durch sehr kräftigen, gedrungenen Bau, ungemein großen, dicken, völlig kreiselförmigen, an den etwas gebogenen, scharfen Schneiden wenig eingezogenen, vor der Spitze des Oberschnabels undeutlich ausgeschnittenen Schnabel, kleine, rundliche, an der Schnabelwurzel liegende, mit Borsten, Federchen und Härchen bekleidete Nasenlöcher, kurze, aber kräftige und stämmige, mit mittellangen, scharfspitzigen Krallen bewehrte Füße, verhältnismäßig breite Flügel, unter deren Schwingen die dritte die Spitze bildet, und deren hintere vor dem stumpfen Ende auf der Außenfahne hakig ausgeschweift sind, während die Innenfahnen einen Ausschnitt zeigen, sehr kurzen, in der Mitte deutlich ausgeschnittenen Schwanz und dichtes und weiches Gefieder sich auszeichnet. Die Länge beträgt achtzehn, die Breite einunddreißig, die Fittiglänge zehn, die Schwanzlänge sechs Centimeter. Stirn und Vorderscheitel sind braungelb, Oberkopf und Kopfseiten gelbbraun, ein schmaler Stirnstreifen, Zügel und Kehle schwarz, Nacken und Hinterhals aschgrau, der Oberrücken chokolade-, der Unterrücken hell kastanienbraun, Kropf und Brust schmutzig grauroth, der Bauch grauweiß, Aftergegend und Unterschwanzdecken reinweiß, die Schwingen, mit Ausnahme der beiden letzten braunschwarzen, metallischblau glänzend, innen mit einem weißen Flecke an der Wurzel geziert, die Armschwingen grau gesäumt, die kleinen Oberflügeldecken dunkel chokoladebraun, die mittleren weiß, die größten vordersten schwarz, die hintersten schön gelbbraun, die mittleren Schwanzfedern an der Wurzel schwarz, in der Endhälfte außen gelbbraun, am Ende weiß, die übrigen an der Wurzel schwarz, innen in der Endhälfte weiß, die beiden äußersten außen schwarz, alle am Ende weiß gesäumt. Das Auge ist grauroth, der Schnabel im Frühlinge blau, im Herbste horngelb, der Fuß fleischfarben. Beim Weibchen ist der Oberkopf hell gelblichgrau, die Unterseite grau, der Oberflügel großentheils gilblich. Im Jugendkleide sind Kehle und Zügel dunkel braungrau, Kropf und Hals hellgelb, Scheitel, Wangen und Hinterkopf dunkel rostgelb, Nacken, Halsseiten und Gurgel lehmgelb, die Federn graulichgelb umrandet, die des Mantels matt braungelb, der Kehle hellgelb, des Oberhalses graugilblich, die der übrigen Untertheile schmutzigweiß, seitlich ins Rostfarbene ziehend, überall mit halbmondförmigen, dunkelbraunen Querflecken gezeichnet.

Als Heimat des Kernbeißers sind die gemäßigten Länder Europas und Asiens anzusehen. Seine Nordgrenze erreicht er in Schweden und in den westlichen und südlichen Provinzen des europäischen Rußlands. In Deutschland sieht man ihn oft auch im Winter, wahrscheinlich aber bloß als Gast, welcher aus dem nördlicheren Europa gekommen ist, wogegen die bei uns lebenden Brutvögel regelmäßig wandern. In Südeuropa erscheint er nur auf dem Zuge. So durchstreift er Spanien und geht bis nach Nordwestafrika hinüber. In Sibirien findet er sich von dem Quellande des Amur bis zur europäischen Grenze als Sommervogel. Bei uns ist er hier häufig, dort seltener, aber überall bekannt, weil er auf seinen Streifereien allerorten sich zeigt und jedermann auffällt. Er wählt zu seinem Sommeraufenthalte hügelige Gelände mit Laubwaldungen und hohen Bäumen, auf denen er sich, falls er nicht in eine benachbarte Kirschenpflanzung plündernd einfällt oder im anstoßenden Felde auf dem Boden sich zu schaffen macht, den ganzen Tag über verweilt und ebenso die Nacht verbringt. In Südrußland gehört er, laut Radde, zu denjenigen Vögeln, welche sich mit der Zeit an solche Steppengegenden gewöhnen, wo nach und nach Bäume und Sträuche gepflanzt werden. Nach der Brutzeit streift er mit seinen Jungen im Lande umher und kommt bei dieser Gelegenheit auch in die Kirsch- und Gemüsegärten herein. Zu Ende des Oktober oder im November beginnt er seine Wanderschaft, im März kehrt er wieder zurück; einzeln aber kommt er auch viel später an: so habe ich ihn am ersten Mai bei Madrid auf dem Zuge beobachtet.

Der Kernbeißer ist, wie sein Leibesbau vermuthen läßt, ein etwas plumper und träger Vogel. Er pflegt lange auf einer und derselben Stelle zu sitzen, regt sich wenig, bequemt sich auch erst nach einigem Besinnen zum Abstreichen, fliegt nur mit Widerstreben weit und kehrt beharrlich zu demselben Orte zurück, von welchem er verjagt wurde. Im Gezweige der Bäume bewegt er sich ziemlich hurtig, auf der Erde dagegen, dem schweren Leibe und den kurzen Füßen entsprechend, ungeschickt; [325] auch sein Flug ist schwerfällig und rauschend, erfordert unaufhörliche Flügelbewegungen, beschreibt seichte Bogenlinien und geht nur vor dem Aufsitzen in Schweben über, fördert aber trotzdem rasch. Nicht im Einklange hiermit stehen seine geistigen Fähigkeiten. Er ist ein sehr vorsichtiger und listiger Gesell, welcher seine Feinde bald kennen lernt und mit Schlauheit auf seine Sicherung Bedacht nimmt. »Er fliegt unsern auf«, sagt mein Vater, »wenn man sich ihm nähert, ist aber auch beim Fressen immer so auf seiner Hut, daß er jede Gefahr sogleich bemerkt und ihr dadurch zu entgehen sucht, daß er sich im dichten Laube verbirgt oder, wenn dieses nicht vorhanden ist, flüchtet. Er weiß es recht gut, wenn er sich hinlänglich versteckt hat; denn dann hält er sehr lange aus, was nur selten der Fall ist, wenn er frei sitzt. Wenn die Bäume belaubt sind, kann man ihn lange knacken hören, ehe man ihn zu sehen bekommt. Er verbirgt sich so gut, daß ich ihn zuweilen durch Steinwürfe auf andere Bäume gejagt habe, weil ich seiner durchaus nicht ansichtig werden konnte. Wenn er aufgescheucht wird, setzt er sich fast immer auf die Spitzen der Bäume, um jede ihm drohende Gefahr von weitem bemerken zu können. Mit seiner List verbindet er eine große Keckheit. In meiner Jugend stellte ich einstmal einem Kirschkernbeißer, welcher in den Gärten meines Vaters gleich vor dem Fenster des Wohnhauses Kohlsamen fraß, acht Tage lang nach, ehe ich ihn erlegte; so scheu und klug war dieser Vogel. Er schien das Feuergewehr recht gut zu kennen.« Wenn eine Gesellschaft Kernbeißer auf Kirschbäumen sitzt, ist sie freilich leichter zu berücken, obwohl auch dann die Alten noch immer vorsichtig sind, sich möglichst lange lautlos verhalten und erst beim Wegfliegen ihre Stimme vernehmen lassen. In der Fremde ist er ebenso scheu als in der Heimat: er traut den Spaniern und Arabern nicht mehr als seinen deutschen Landsleuten.

Am liebsten verzehrt der Kirschkernbeißer die von einer harten Schale umgebenen Kerne verschiedener Baumarten. »Die Kerne der Kirschen und der Weiß-und Rothbuchen«, schildert mein Vater, »scheint er allen anderen vorzuziehen. Er beißt die Kirsche ab, befreit den Kern von dem Fleische, welches er wegwirft, knackt ihn auf, läßt die steinige Schale fallen und verschluckt den eigentlichen Kern. Dies alles geschieht in einer halben, höchstens ganzen Minute und mit so großer Gewalt, daß man das Aufknacken auf dreißig Schritte weit hören kann. Mit dem Samen der Weißbuche verfährt er auf ähnliche Weise. Die von der Schale entblößten Kerne gehen durch die Speiseröhre gleich in den Magen über, und erst wenn dieser voll ist, wird der Kropf mit ihnen angefüllt. Wenn die Bäume von den ihnen zur Nahrung dienenden Sämereien entblößt sind, sucht er sie auf der Erde auf; deshalb sieht man ihn im Spätherbste und Winter oft auf dem Boden umherhüpfen. Außerdem frißt er auch Kornsämereien gern, geht deshalb im Sommer oft in die Gemüsegärten und thut an den Sämereien großen Schaden. Es ist kaum glaublich, wie viel ein einziger solcher Vogel von den verschiedenen Kohl- und Krautarten zu Grunde richten kann.« Im Winter geht er, ebenfalls nur der Kerne wegen, fleißig auf die Vogelbeerbäume. Außerdem verzehrt er Baumknospen und im Sommer sehr oft auch Kerbthiere, besonders Käfer und deren Larven. »Nicht selten«, berichtet Naumann, »fängt er die fliegenden Maikäfer in der Luft und verzehrt sie dann, auf einer Baumspitze sitzend, stückweise, nachdem er zuvor Flügel und Füße derselben als ungenießbar weggeworfen hat. Ich habe ihn auch auf frischgepflügte Aecker, wohl einige hundert Schritt vom Gebüsche, fliegen, dort Käfer auflesen und seinen Jungen bringen sehen.«

Je nachdem die Witterung günstig oder ungünstig ist, nistet der Kernbeißer ein- oder zweimal im Jahre im Mai und im Anfange des Juli. Jedes Paar erwählt sich ein umfangreiches Nistgebiet und duldet in diesem kein anderes seiner Art. »Das Männchen hält deshalb immer oben auf den Baumspitzen Wache und wechselt seinen Sitz bald auf diesen, bald auf jenen hohen Baum, schreit und singt dabei und zeigt außerordentliche Unruhe.« Schwirrende und scharfe Töne, welche dem wie »Zi« oder »Zick« klingenden Locktone sehr ähnlich sind, bilden den Gesang, welcher von dem Männchen stundenlang unter allerlei Wendungen und Bewegungen des Leibes vorgetragen wird. Das nicht gerade dickwandige, aber doch recht gut gebaute, ansehnlich breite und daher leicht kenntliche Nest steht hoch oder tief, auf schwachen oder dünnen Zweigen, gewöhnlich aber gut [326] versteckt. Seine erste Unterlage besteht aus dürren Reisern, starken Grashalmen, Würzelchen und dergleichen, die zweite Lage aus gröberem oder feinerem Baummoose und Flechten, die Ausfütterung aus Wurzelfasern, Schweinsborsten, Pferdehaaren, Schafwolle und ähnlichen Stoffen. Die drei bis fünf Eier sind vierundzwanzig Millimeter lang, siebzehn Millimeter dick, ziemlich bauchig und auf schmutzig oder grünlich und gelblich aschgrauem Grunde mit deutlichen und verwaschenen braunen, schwarzbraunen, dunkel aschgrauen, hell- und ölbraunen Flecken, Strichen und Aederchen gezeichnet, um das stumpfe Ende herum am dichtesten. Das Weibchen brütet mit Ausnahme der Mittagsstunden, um welche Zeit es das Männchen ablöst. Die Jungen werden von beiden Eltern gefüttert, sehr geliebt und noch lange nach dem Ausfliegen geführt, gewartet und geatzt; denn es vergehen Wochen, bevor sie selbst im Stande sind, die harten Kirschkerne zu knacken.

Der Kernbeißer macht sich dem Obstgärtner sehr verhaßt; denn der Schaden, welchen er in Kirschpflanzungen anrichtet, ist durchaus nicht unbedeutend. »Eine Familie dieser Vögel«, sagt Naumann, »wird mit einem Baume voll reifer Kirschen bald fertig. Sind sie erst einmal in einer Anpflanzung gewesen, so kommen sie gewiß immer wieder, so lange es daselbst noch Kirschen gibt, und alles Lärmen, Klappern, Peitschenknallen und Pfeifen hält sie nicht gänzlich davon ab; alle aufgestellten Scheusale werden sie gewohnt. Schießen ist das einzige Mittel, sie zu verscheuchen, und dies darf nicht blind geschehen, sonst gewöhnen sie sich auch hieran. Die gewöhnlichen sauren Kirschen sind ihren Anfällen am meisten ausgesetzt. In den Gemüsegärten thun sie oft großen Schaden an den Sämereien und in den Erbsenbeeten an den grünen Schoten. Sie zerschroten dem Jäger seine Beeren auf den Ebereschbäumen und richten anderen Unfug an. Weit weniger Schaden würden sie thun, wären sie nicht so unersättliche Fresser, und hätten sie nicht die Gewohnheit, einzelne Bäume, Beete und Pflanzungen immer wieder und so lange heimzusuchen, bis sie solche ihrer Früchte oder Samen gänzlich beraubt haben.« Es ist daher kein Wunder, daß der Mensch sich dieser ungebetenen Gäste nach Kräften zu erwehren sucht und Schlinge und Leimruthe, Netz, Falle und Dohne, das Feuergewehr und andere Waffen gegen sie in Anwendung bringt.

Gefangen, gewöhnt sich der Kernbeißer bald ein, nimmt mit allerlei Futter vorlieb, wird auch leicht zahm, bleibt aber immer gefährlich, weil er, erzürnt, empfindlich um sich und in alles beißt, was ihm vor den Schnabel kommt. Mein Vater sah einen gezähmten Kernbeißer im Besitze eines Studenten der edeln Musenstadt Jena, welcher in Folge dieser Eigenschaft von den Freunden des Vogelliebhabers oft betrunken gemacht wurde. Dies gelang sehr leicht. Die lustigen Gesellen füllten eine unten aufgeschnittene Federspule mit Bier und hielten sie dem Kernbeißer vor. So oft dieser in den offenen Theil der Spule gebissen hatte, richteten sie letztere aufrecht, so daß das Bier in den Schlund des Kernbeißers lief. Dieses Verfahren brauchte man nur einige Male zu wiederholen, und der dickköpfige Geselle war so betrunken, daß er beim Herumhüpfen taumelte.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 324-327.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Haller, Albrecht von

Versuch Schweizerischer Gedichte

Versuch Schweizerischer Gedichte

»Zwar der Weise wählt nicht sein Geschicke; Doch er wendet Elend selbst zum Glücke. Fällt der Himmel, er kann Weise decken, Aber nicht schrecken.« Aus »Die Tugend« von Albrecht von Haller

130 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon