Kardinal (Cardinalis virginianus)

[330] Der auch in Europa wohlbekannte Kardinal oder Rothvogel (Cardinalis virginianus, Loxia, Fringilla, Coccothraustes und Pytilus cardinalis, Bild S. 329) vertritt eine andere, durch etwas gestreckten Leib, kurzen, kräftigen und spitzigen, an der Wurzel sehr breiten, auf der Firste gekrümmten, oben in der Mitte stark ausgebuchteten Schnabel, kurze Flügel, langen, in der Mitte ausgeschweiften Schwanz sowie endlich einen aufrichtbaren Schopf gekennzeichnete Sippe. Seine Länge beträgt zwanzig, die Breite sechsundzwanzig, die Fittiglänge sieben, die Schwanzlänge acht Centimeter. Die vorherrschende Färbung des Gefieders ist ein lebhaftes Scharlachroth, Mantel, Schultern und Bürzel sind düsterer, die Federn am Ende schmal verloschen graufahl gesäumt, die Zügel, ein schmales Augenrändchen, Kinn und Oberkehle schwarz, die Schwingen dunkel scharlachroth, im Spitzendrittel braun, die letzten Armschwingen außen fahlbraun gesäumt, die Schwanzfedern dunkel scharlachroth, unterseits glänzend. Der Augenring ist rothbraun, der Schnabel roth, der Unterschnabel an der Wurzel schwarz, der Fuß braun. Beim Weibchen sind der Vorderkopf und die Oberseite rehbraun, die Untertheile gelbbraun, am lebhaftesten auf Kopf, Brust und Bauch, die Haube, die Außenfahne der Schwingen, die Deckfedern und der Schwanz düster scharlachroth, Kinn und Kehle grauschwärzlich.

Das Verbreitungsgebiet umfaßt die südlichen Vereinigten Staaten, Mejiko und Kalifornien. In gelinden Wintern verweilt er jahraus, jahrein an demselben Orte; bei strengerer Witterung wandert er. Wegen seines prachtvollen Gefieders fällt er schon von weitem in die Augen und bildet eine wahre Zierde des Waldes. Nach Prinz von Wied hält er sich am Tage gern in den dichtverworrenen Zweigen der Schlingpflanzen auf und streift von hier aus nach den benachbarten Feldern und Gärten; man begegnet ihm daher ebensowohl in der Nachbarschaft der Städte als im tiefsten und einsamsten Walde. »Ihr seht ihn«, sagt Audubon, »in unseren Feldern, Baumgängen und Gärten, ja oft genug im Inneren unserer südlichen Städte und Dörfer: es ist sogar ein seltener Fall, daß man in einen Garten kommt, ohne einen der rothen Vögel zu gewahren. Aber wo er auch sein mag, er ist überall willkommen, der Liebling jedermanns, so glänzend ist sein Gefieder, so reich sein Gesang.« Während des Sommers lebt er paarweise, im Herbste und Winter dagegen in kleinen Gesellschaften. Bei strenger Kälte kommt er, wenn er im Lande bleibt, nicht selten in das Gehöft des Bauern und pickt hier vor der Scheuer mit Sperlingen, Tauben, Schneevögeln, Ammerfinken und anderen Gesäme auf, dringt in offene Ställe und Böden oder sucht an den Einhegungen der Gärten und Felder nach Nahrung. Mit seinem dicken Schnabel weiß er die harten Körner des Mais geschickt zu zerkleinern, Hafer zu enthülsen und Weizen zu [330] zermalmen; in einem benachbarten Heuschober oder einem dichtwipfeligen Baume findet er eine geeignete Nachtherberge, und so übersteht er den Winter ziemlich leicht. Unruhig und unstet, hält er so sich nur minutenlang an einer und derselben Stelle auf, sonst hüpft und fliegt er hin und her, auf dem Boden mit ziemlicher Geschicklichkeit, im Gezweige mit großer Gewandtheit. Der Flug ist hart, schnell, ruckweise und sehr geräuschvoll, wird aber ungern weit ausgedehnt. Wechselseitiges Ausbreiten und Zusammenlegen, Zucken und Wippen des Schwanzes begleitet ihn, wie alle übrigen Bewegungen. Wenn er wandert, reist er theilweise zu Fuße, hüpft und schlüpft von Busch zu Busch und fliegt von einem Walde zum anderen.

Während der Paarzeit stürzen sich die Männchen mit Wuth auf jeden Eindringling in ihr Gehege, folgen ihm unter schrillem Geschrei von Busch zu Busch, fechten heftig in der Luft mit ihm und ruhen nicht eher, als bis der Fremde ihr Gehege verlassen hat. Innig ist die Anhänglichkeit der Gatten. »Als ich«, sagt Audubon, »gegen Abend eines Februartages das Männchen eines Paares im Stellbauer gefangen hatte, saß am anderen Morgen das Weibchen dicht neben dem Gefangenen, und später fing es sich auch noch.« Der Nistplatz ist ein Busch oder ein Baum nahe am Gehöfte, inmitten des Feldes, am Waldrande oder im Dickichte. Nicht selten findet man das Nest in unmittelbarer Nähe eines Bauernhauses und oft nur wenige Meter entfernt von dem eines Spottvogels. Es besteht aus trockenen Blättern und Zweigen, namentlich stacheligen Reisern, welche mit Halmen und Rebenschlingen verbunden, innen aber mit zarten Grashalmen ausgelegt sind. Vier bis sechs Eier von schmutzigweißer Farbe, über und über mit olivenbraunen Flecken gezeichnet, bilden das Gelege. Sie haben Aehnlichkeit in der Färbung mit denen der Kalanderlerche oder mit denen unseres gemeinen Haussperlings, ändern aber sehr ab: Gerhardt versichert, daß man fast niemals ein Gelege finde, in welchem alle von gleicher Färbung wären. In den nördlicheren Staaten brütet das Paar selten mehr als einmal, in den südlichen zuweilen dreimal im Jahre. Die Jungen werden nur wenige Tage von ihren Eltern geführt, dann aber ihrem Schicksale überlassen.

Allerlei Körner, Getreide- und Grassämereien, Beeren und wahrscheinlich auch Kerbthiere bilden die Nahrung. Im Frühlinge verzehrt er die Blüten des Zuckerahorns, im Sommer Holderbeeren, nebenbei jagt er eifrig nach Käfern, Schmetterlingen, Heuschrecken, Raupen und anderen Kerbthieren. Nach Wilson soll Mais seine Hauptnahrung sein, und er außerdem den Kirschen, Aepfeln und Beeren der Kerne wegen sehr nachgehen.

Die amerikanischen Forscher rühmen ziemlich einstimmig den Gesang; wir hingegen finden nicht, daß dieser begeistern könne. »Die Töne des Kardinals«, sagt Wilson, »sind denen der Nachtigall vollständig gleich. Man hat ihn oft ›Virginische Nachtigall‹ genannt, und er verdient seinen Namen wegen der Klarheit und Verschiedenheit seiner Töne, welche ebenso wechselnd als klangvoll sind.« In gleichem Sinne spricht sich Audubon aus. »Der Gesang ist zuerst laut und klar und erinnert an die schönsten Töne des Flageolets; mehr und mehr aber sinkt er herab, bis er gänzlich erstirbt. Während der Zeit der Liebe wird das Lied dieses prachtvollen Sängers mit großer Macht vorgetragen. Er ist sich seiner Kraft bewußt, schwellt seine Brust, breitet seinen rosigen Schwanz, schlägt mit seinen Flügeln und wendet sich abwechselnd zur Rechten und zur Linken, als müsse er sein eigenes Entzücken über die wundervollen Töne seiner Stimme kundgeben. Von neuem und immer von neuem werden diese Weisen wiederholt; denn der Vogel schweigt nur, um Luft zu schöpfen. Man hört ihn lange, bevor die Sonne den Himmel im Osten vergoldet, bis zu der Zeit, wenn das flammende Gestirn Licht und Wärme herniedersendet und alle Vögel zu zeitweiliger Ruhe zwingt; sobald die Natur aber wieder aufathmet, beginnt der Sänger von neuem und ruft, als habe er niemals seine Brust angestrengt, das Echo wach in der ganzen Nachbarschaft, ruht auch nicht eher, als bis die Abendschatten um ihn sich verbreiten. Tag für Tag verkürzt der Rothvogel das langweilige Geschäft des brütenden Weibchens, und von Zeit zu Zeit stimmt auch dieses mit ein mit der Bescheidenheit ihres Geschlechtes. Wenige von uns verweigern diesem [331] ansprechenden Sänger den Zoll der Bewunderung. Wie erfreulich ist es, wenn bei bedecktem Himmel Dunkel die Wälder deckt, so daß man meint, die Nacht sei schon hereingebrochen, wie erfreulich, plötzlich die wohlbekannten Töne dieses Lieblingsvogels zu vernehmen! Wie oft habe ich mich dieses Vergnügens erfreut, und wie oft möchte ich mich dessen noch erfreuen!«

Auch ich will gern zugestehen, daß der Gesang eines alten guten Kardinals zu den besten zählt, welche man aus dem Schnabel eines Körnerfressers hören kann, und sich ebensowohl durch die Reinheit und Fülle der Töne wie durch Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit der Strophen auszeichnet, darf aber nicht verschweigen, daß derselbe Vogel durch fortwährendes Ausstoßen des scharfen Locktones »Zitt«, welcher einigermaßen an den der Drossel erinnert, im allerhöchsten Grade unangenehm werden kann. Als Sänger im freien Walde mag die »Virginische Nachtigall« alle Lobsprüche verdienen, als Stubenvogel nimmt sie, obwohl sie sich nicht allzuselten auch im Käfige fortpflanzt, doch immer nur einen untergeordneten Rang ein.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 330-332.
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