[352] Der Weißbindenkreuzschnabel (Loxia bifasciata und taenioptera, Crucirostra bifasciata, trifasciata und orientalis) endlich ist kleiner als alle bisher genannten. Seine Länge beträgt sechzehn, die Breite siebenundzwanzig, die Fittiglänge neun, die Schwanzlänge sechs Centimeter. Die vorherrschende Färbung des Gefieders ist ein prachtvolles Johannisbeerroth, welches im Nacken und auf der Mitte der Unterseite in Grau übergeht. Die an der Spitze weißen, großen und kleinen Oberflügeldeckfedern bilden zwei breite Binden über die Flügel, die Schulterdeckfedern enden ebenfalls mit weißen Spitzen. Weibchen und Junge ähneln denen des Fichtenkreuzschnabels, tragen jedoch ebenfalls die weißen Binden auf den Flügeln.
Die Kreuzschnäbel gehören zu denjenigen Gliedern ihrer Klasse, welche mein Vater passend »Zigeunervögel« genannt hat. Wie das merkwürdige Volk, dessen Namen sie tragen, erscheinen sie plötzlich in einer bestimmten Gegend, verweilen hier geraume Zeit, sind vom ersten Tage anheimisch, liegen auch wohl dem Fortpflanzungsgeschäfte ob und verschwinden ebenso plötzlich, als sie gekommen. Ihre Wanderungen stehen in gewissem Einklange mit dem Samenreichthume der Nadelwaldungen, ohne daß man jedoch eine bestimmte Regel feststellen könnte. Demgemäß können sie unseren Schwarzwaldungen jahrelang fehlen und sie dann wieder in Menge bevölkern. Nur ihr Aufenthalt ist bestimmt, ihre Heimat unbegrenzt. Alle die genannten Arten sind Brutvögel Nordeuropas, aber auch solche ganz Nordasiens, soweit es bewaldet ist, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß letztgenannter Erdtheil als ihre ursprüngliche Heimat betrachtet werden darf. Wenn in zusammenhängenden Waldungen der Fichten- und Kiefersamen wohl gerathen ist, hört man das allen Fängern wohlbekannte »Göp, göp, gip, gip« oder »Zock, zock« unserer Vögel oder vernimmt im günstigeren Falle auch den für viele sehr angenehmen Gesang des Männchens. Die Kreuzschnäbel sind angekommen und haben sich häuslich eingerichtet. Ist der Wald versprechend, so schreiten sie zur Fortpflanzung, ist dies nicht der Fall, so schweifen sie eine Zeitlang hin und her und siedeln sich an einem anderen, passenderen Orte an. Die günstigsten Stellen eines Waldes, welche zum längeren Aufenthalte erwählt werden sollen, sind bald ausgefunden und werden nun als abendliche Sammelplätze der über Tag hin- und herschweifenden Gesellschaften benutzt, somit also gewissermaßen zu dem eigentlichen Wohnsitze.
Alle Kreuzschnäbel, gesellige Thiere, welche während der Brutzeit zwar in Paare sich sondern, nicht aber auch aus dem Verbande scheiden, sind Baumvögel, welche nur im Nothfalle auf die Erde herabkommen, um dort zu trinken oder um einige abgefallene Zapfen noch auszunutzen. Sie klettern sehr geschickt, indem sie sich nach Papageienart mit den Schnabelspitzen anhalten und forthelfen, hängen sich kopfunterst oder kopfoberst mit Fuß und Schnabel am Zweige oder Zapfen an und verweilen ohne Beschwerde viele Minuten lang in dieser scheinbar so unbequemen Stellung, fliegen mit wechselsweise stark ausgebreiteten und dann plötzlich angezogenen Flügeln, wodurch der Flug Wellenlinien annimmt, schnell und verhältnismäßig leicht, obwohl nicht gern weit, steigen, wenn sie um die Liebe ihres Weibchens werben, flatternd über die Wipfel empor, halten sich schwirrend auf einer und derselben Stelle, singen dabei und senken sich hierauf schwebend langsam wieder zu dem gewöhnlichen Sitzplatze hernieder. Während des Tages, höchstens mit Ausnahme der Mittagsstunden,[352] sind sie fast immer in Thätigkeit. Im Frühjahre, Sommer und Herbste streichen sie schon vor Tagesanbruch im Walde auf und nieder und von einem Gehölze oder von einem Berge zum anderen; im Winter dagegen, zumal wenn die Kälte stark ist, bleiben sie länger an dem Orte, welcher ihnen Nachtruhe gewährte, fliegen selten vor Sonnenaufgang umher, singen jedoch bereits am frühen Morgen, befinden sich um zehn Uhr vormittags in voller Thätigkeit, beginnen mit ihrer Mahlzeit, singen inzwischen, werden nach zwei Uhr mittags stiller, fressen aber bis gegen vier Uhr nachmittags und gehen nunmehr zur Ruhe. Zur Tränke begeben sie sich gegen Mittag, im Sommer schon gegen zehn oder elf Uhr vormittags. Sie bekümmern sich wenig oder nicht um die anderen Thiere des Waldes, ebensowenig um den Menschen, dem sie namentlich in den ersten Tagen nach ihrem Erscheinen deutlich genug beweisen, daß sie ihn noch nicht als Feind kennen gelernt haben. Man hat sich deshalb verleiten lassen, sie als sehr dumme Vögel zu betrachten, und unterstützt diese Meinung durch Beobachtungen, welche allerdings eine fast allzugroße Harmlosigkeit bekunden. Wenn man sie aber genauer kennen lernt, findet man bald heraus, daß auch sie durch Erfahrung klüger werden, überhaupt keineswegs so dumm sind, als sie aussehen. Ihr Fang und ihre Jagd verursachen wenig Schwierigkeiten, weil ihre Geselligkeit so groß ist, daß sie dieser zu Liebe ihre Freiheit oft rücksichtslos aufs Spiel setzen: dies jedoch spricht weniger für Mangel an Verstand als vielmehr für das gute Gemüth der wirklich liebenswürdigen Thiere. Das Männchen, dessen Weibchen eben erlegt wurde, bleibt zuweilen verdutzt oder traurig sitzen auf demselben Aste, von welchem der Gatte herabgeschossen wurde, oder kehrt, nach dem Gefährten suchend, wiederholt zu dem Orte der Gefahr zurück; wenn es aber wiederholt traurige Erfahrungen über die Tücke des Menschen machen mußte, zeigt es sich gewöhnlich sehr scheu. In Gefangenschaft werden alle Kreuzschnäbel bald rücksichtslos zahm. Sie vergessen schnell den Verlust ihrer Freiheit, lernen ihren Pfleger als Herrn und Gebieter kennen, legen alle Furcht vor ihm ab, lassen sich später berühren, auf dem Arme oder der Hand im Zimmer umhertragen und geben ihm schließlich durch entsprechendes Gebaren ihre warme Liebe kund. Diese Liebenswürdigkeit im Käfige hat sie allen, welche sie kennen, innig befreundet, und zumal die Gebirgsbewohner halten sie hoch in Ehren.
Die Lockstimme des Kieferkreuzschnabels, welche beide Geschlechter hören lassen, ist das bereits erwähnte »Göp, göp« oder »Gip, gip« und »Zock, zock«. »›Göp‹ wird im Flüge und im Sitzen ausgestoßen«, sagt mein Vater, dem wir die ausführlichste und beste Beschreibung der Kreuzschnäbel verdanken, »und ist ebensowohl ein Zeichen zum Aufbruche, als ein Ruf nach anderen Kreuzschnäbeln und ein Ton, um die Gesellschaft zusammenzuhalten: deswegen klingt dieses, ›Göp‹ auch sehr stark; ›Gip, gip‹ drückt Zärtlichkeit aus und ist ein Ton, den beide Gatten einander im Sitzen zurufen; er ist so leise, daß man nahe beim Baume sein muß, um ihn zu vernehmen. Oft glaubt man beim Hören dieses Rufes, der Vogel sei sehr weit, und wenn man genau nachsieht, erblickt man ihn über sich. ›Zock‹ wird gewöhnlich von sitzenden Vögeln ausgestoßen, um die vorüberfliegenden zum Herbeikommen und Aufsitzen einzuladen; doch hört man es auch zuweilen von Kreuzschnäbeln im Fluge. Es klingt stark und voll und muß der Hauptruf bei einem Lockvogel sein. Die Jungen haben in ihrem Geschreie viele Aehnlichkeit mit den jungen Bluthänflingen; doch lassen sie bald das ›Göp‹, ›Gip‹, und ›Zock‹ der Alten vernehmen. Der Lockton des Fichtenkreuzschnabels, welchen er im Fluge, aber auch im Sitzen, hören läßt, ist ›Gip, gip‹, höher und schwächer als der des Kieferkreuzschnabels. Dieses ›Gip‹ ist Zeichen des Aufbruches, der Warnung und des Zusammenhaltens. Sitzen sie, und fängt einer stark ›Gip‹ zu schreien an, so sind die anderen alle aufmerksam und fliegen gewöhnlich sämmtlich mit fort, wenn sich der eine in Bewegung setzt. Wenn sie aber fressen, und es fliegen einige vorbei, welche diesen Lockton ausstoßen, so lassen sich die Fressenden gewöhnlich in ihrer Arbeit nicht stören und rufen nur selten ›Zock, zock‹ ihnen zu, was zum Niedersitzen einladet. Auch dieses ›Zock‹ klingt höher und heller, als beim Kieferkreuzschnabel, und lockt eigentlich an. Ist einer von dem anderen entfernt, und einer sitzt noch, so schreit dieser unaufhörlich ›Zock‹, um jenen zur Rückkehr zu vermögen. Sitzt einer auf der Spitze eines [353] Baumes und will einen ganzen Flug zum Niedersetzen bewegen, so läßt er dieses ›Zock‹ sehr stark hören; im Fluge stoßen sie diesen Lockton selten aus. Beim Sitzen geben sie noch einen ganz leisen Ton zum besten, welcher fast wie das Piepen der kleinen Küchelchen klingt, wenn diese unter der Henne stecken. Dieser Ton hat mit dem des Kieferkreuzschnabels große Aehnlichkeit. Die Jungen schreien fast wie die jungen Kieferkreuzschnäbel, lassen aber auch ein Piepen vernehmen wie die Alten.« Der Gesang des Männchens spricht viele Menschen außerordentlich an. Gewöhnlich singt der Kieferkreuzschnabel besser als der Fichtenkreuzschnabel; das Lied beider ähnelt sich aber. Es besteht aus einer laut vorgetragenen Strophe, auf welche mehrere zwitschernde, schwache und nicht weit hörbare Töne folgen. In der Freiheit singen sie am stärksten, wenn das Wetter schön, heiter, still und nicht zu kalt ist; an windigen und stürmischen Tagen schweigen sie fast gänzlich. Während des Gesanges wählen sie sich fast regelmäßig die höchsten Spitzen der Wipfel, und nur während der Liebeszeit zwitschern und schwatzen sie auch im Fliegen. Die Weibchen singen zuweilen ebenfalls, aber leiser und verworrener als die Männchen. Im Käfige singen sie fast das ganze Jahr, höchstens mit Ausnahme der Mauserzeit.
Die Nahrung der Kreuzschnäbel besteht vorzugsweise aus den Sämereien der Waldbäume. Zur Gewinnung dieser Nahrung ist ihnen ihr starker und gekreuzter Schnabel unentbehrlich. Es erfordert große Kraft und viele Geschicklichkeit, die Kiefer- oder Fichtenzapfen aufzubrechen, um zu den wohlverborgenen Samen zu gelangen; beide aber besitzt der Kreuzschnabel in hohem Grade. Er kommt angeflogen, hängt sich an einen Zapfen an, so daß der Kopf nach unten zu stehen kommt, oder legt den Zapfen auf einen Ast und setzt sich darauf, oder beißt ihn ab, trägt ihn auf einen Ast und hält ihn mit den starken, langen und spitzigen Nägeln fest. »Sehr schön sieht es aus«, fährt mein Vater fort, »wenn ein Fichtenkreuzschnabel, ein so kleiner Vogel, einen mittelmäßig großen Fichtenzapfen von einem Baume auf den anderen trägt. Er faßt ihn mit dem Schnabel gewöhnlich so, daß seine Spitze gerade vorwärts gerichtet ist, und fliegt mit geringer Anstrengung zehn, auch zwanzig Schritte weit auf einen benachbarten Baum, um ihn auf diesem zu öffnen; denn nicht auf allen findet er Aeste, auf denen er die Zapfen bequem aufbrechen kann. Dieses Aufbrechen wird auf folgende Weise bewerkstelligt. Der Kreuzschnabel reißt, wenn der Zapfen fest hängt oder liegt, mit der Spitze der oberen Kinnlade die breiten Deckelchen der Zapfen in der Mitte auf, schiebt den etwas geöffneten Schnabel darunter und hebt sie durch eine Seitenbewegung des Kopfes in die Höhe. Nun kann er das Samenkorn mit der Zunge leicht in den Schnabel schieben, wo es von dem Flugblättchen und der Schale befreit und dann verschluckt wird. Sehr große Zapfen öffnet er nicht. Der über das Kreuz gebogene Schnabel ist ihm und seinen Gattungsverwandten beim Aufbrechen der Zapfen von höchster Wichtigkeit; denn einen solchen Schnabel braucht er nur wenig zu öffnen, um ihm eine außerordentliche Breite zu geben, so daß bei einer Seitenbewegung des Kopfes das Deckelchen mit der größten Leichtigkeit aufgehoben wird. Das Aufbrechen der Zapfen verursacht ein knisterndes Geräusch, welches zwar gering, aber doch stark genug ist, um von unten gehört zu werden. Die abgebissenen Zapfen werden vom Fichtenkreuzschnabel selten rein ausgefressen, wie dies bei den Kieferzäpfchen von seinen Gattungsverwandten geschieht, sondern oft ganz uneröffnet, oft halb oder zum dritten Theile eröffnet herabgeworfen. Dies geschieht selbst bei vollkörnigen Zapfen, aber nicht bloß von jungen Vögeln, wie Bechstein glaubt, sondern auch von alten; deswegen ist der Boden unter den Bäumen, auf welchen einige Kreuzschnäbel eine Zeitlang gefressen haben, zuweilen mit Zapfen bedeckt oder wenigstens bestreut. Wenn sie fortfliegen, lassen sie alle ihre Zapfen fallen. Sind die Zapfen an den Bäumen einzeln oder aufgefressen, dann suchen sie die heruntergefallenen auf und öffnen sie wie die an den Bäumen hängenden.« Der Fichtenkreuzschnabel geht selten an die weit schwerer aufzubrechenden Kieferzapfen, weil er zu der an ihnen erforderlichen Arbeit nicht die nöthige Kraft besitzt; der Kieferkreuzschnabel aber bricht auch Kieferzapfen ohne Mühe auf; denn er kann mit einem Male alle die Deckelchen aufheben, die über dem liegen, unter welchem er seinen Schnabel eingesetzt hat. Beide Arten brechen stets mit dem [354] Oberkiefer auf und stemmen den unteren gegen den Zapfen; daher kommt es, daß bei dem Rechtsschnäbler immer die rechte, bei dem Linksschnäbler immer die linke Seite des Schnabels nach oben gehalten wird. In Zeit von zwei bis drei Minuten ist der Vogel mit einem Zapfen fertig, läßt ihn fallen, holt sich einen anderen und öffnet diesen. So fährt er so lange fort, bis sein Kropf gefüllt ist. An den auf dem Boden liegenden Zapfen erkennt man, daß der Wald Kreuzschnäbel beherbergt. Wenn letztere nicht gestört werden, bleiben sie stundenlang auf einem und demselben Baume sitzen und verlassen dann auch die Gegend, in welcher sie sich einmal eingefunden, wochenlang nicht. So lange sie Holzsamen auffinden, gehen sie kaum andere Nahrung an; im Nothfalle aber fressen sie Ahorn-und Hornbaum- oder Heinbuchensamen, auch wohl ölige Sämereien, und nebenbei jederzeit sehr gern Kerbthiere, namentlich Blattläuse, welche sie sich auch in den Gärten und Obstpflanzungen der Walddörfer zusammenlesen.
Eine nothwendige Folge des vielfachen Arbeitens auf den harzreichen Aesten und Zapfen ist, daß sie sich oft in sehr unerwünschter Weise beschmutzen. Sie sind ebenso reinlich, wie die meisten übrigen Vögel, und putzen sich nach jeder Mahlzeit sorgfältig, um sich von den anhängenden Harztheilen zu reinigen, wetzen namentlich den Schnabel minutenlang auf den Aesten, vermögen aber nicht immer, ihr Gefieder so in Ordnung zu halten, als sie wohl wünschen, und oft kommt es vor, daß die Federn einen dicken Ueberzug von Harz erhalten. Der Leib der Kreuzschnäbel, welche längere Zeit ausschließlich Nadelholzsamen fraßen, wird von dem Harzgehalte so durchdrungen, daß er nach dem Tode längere Zeit der Fäulnis widersteht. »Das Fleisch«, sagt mein Vater, »erhält zwar einen eigenen, widrigen Geruch, aber es verwest nicht eigentlich. Nur muß man es vor den Fleischfliegen in Acht nehmen; denn wenn diese dazu kommen, legen sie ihre Eier daran, und die daraus hervorkommenden Maden durchwühlen und verzehren das Fleisch. Ich habe darüber mehrere Versuche angestellt und immer denselben Erfolg gefunden; ich habe einen vor mir liegen, welcher im Sommer in der größten Hitze geschossen wurde und doch alle Federn behalten hat; ich habe auch eine zwanzig Jahre alte Mumie gesehen.« Daß nur das in den Leib aufgenommene Harz die Ursache dieses eigenthümlichen Befundes ist, geht aus anderen Beobachtungen hervor; denn wenn der Kreuzschnabel sich einige Zeit von Kerbthieren genährt hat, verfällt sein Leib ebenso schnell der Verwesung, wie die Leiche anderer kleinen Vögel.
Eine Kreuzschnabelgesellschaft bildet zu jeder Zeit eine hohe Zierde der Waldbäume; am prächtigsten aber nimmt sie sich aus, wenn der Winter die Herrschaft führt und dicker Schnee auf den Zweigen liegt. Dann heben sich die rothen Vögelchen lebendig ab von dem düsteren Nadelgrün und dem weißen Schnee und wandeln den ganzen Wipfel zu einem Christbaume um, wie er schöner nicht gedacht werden kann. Zu ihrer ansprechenden Färbung gesellt sich ihr frisches, fröhliches Leben, ihre stille, aber beständige Regsamkeit, ihr gewandtes Auf- und Niederklettern, ihr Schwatzen und Singen, um jedermann zu fesseln.
Es ist bekannt, daß die Kreuzschnäbel in allen Monaten des Jahres nisten, im Hochsommer ebensowohl wie im eisigen Winter, wenn der Schnee dick auf den Zweigen liegt und alle übrigen Vögel des Waldes fast vollständig verstummt sind. Während des Nestbaues sondert sich die frühere Gesellschaft in einzelne Paare; jedes beweibte Männchen setzt sich auf die höchste Spitze des höchsten Baumes, singt eifrig, lockt anhaltend und dreht sich dabei unaufhörlich um sich selbst herum, in der Absicht, dem Weibchen in seiner ganzen Schönheit sich zu zeigen. Kommt dieses nicht herbei, so fliegt es auf einen anderen Baum und singt und lockt von neuem; nähert sich die spröde Gattin, so eilt es sofort hinter ihr her und jagt sie spielend unter piependem Rufen von Ast zu Ast. Der Kieferkreuzschnabel pflegt bei solcher Liebesbewerbung noch besondere Flugspiele auszuführen, erhebt sich mit zitternden Flügelschlägen, flattert und singt dabei, kehrt aber ebenso wie der Fichtenkreuzschnabel immer wieder auf denselben Baum zurück. Das Nest steht bald auf einem weit vorstehenden Aste und hier auf einer Gabel oder auf einem dicken Aste am Stamme, bald nahe am Wipfel, bald weit von ihm, immer jedoch so, daß Zweige vor oder über dem Neste hinlaufen, durch welche [355] es gegen den darauf fallenden Schnee geschützt und zugleich möglichst versteckt ist. Es ist ein Kunstbau, welcher äußerlich aus dürren Fichtenreisern, Heidekraut, trockenen Grasstengelchen, der Hauptsache nach aber aus Fichtenflechten, Baum- und Erdmoos aufgeführt und innen mit einzelnen Federn, Grashälmchen und Kiefernnadeln ausgelegt wird. Die Wände sind ungefähr drei Centimeter dick und vortrefflich zusammengewebt; der Napf ist verhältnismäßig tief. »Ich hatte Gelegenheit«, sagt mein Vater, »ein Weibchen während des Nestbaues zu beobachten. Zuerst brach es die dürren Reiser ab und trug sie an Ort und Stelle, dann lief es auf den Aesten der benachbarten Bäume herum, um die Bartflechten zu suchen; es nahm davon jedesmal einen Schnabel voll, trug sie in das Nest und brachte sie in die gehörige Lage. Als die Rundung des Nestes fertig war, verweilte es länger darin und brachte alles durch Drücken mit der Brust und durch Drehen des Körpers in Ordnung. Es nahm fast alle Stoffe des Nestes von einem einzigen benachbarten Baume und war so emsig, daß es auch in den Nachmittagsstunden baute und in Zeit von zwei bis drei Minuten mit dem Herbeischaffen und Verarbeiten einer Tracht fertig war. Das Männchen blieb immer bei ihm, betrat es alle Tage, entweder auf den Aesten oder auf dem Neste, fütterte es, als es zu brüten oder doch das erste Ei zu wärmen anfing (denn sobald das erste Ei gelegt war, verließ es das Nest nicht mehr), sang beständig in seiner Nähe und schien es so für die Beschwerden des Bauens und Brütens, welche es nicht mit ihm theilen konnte, entschädigen zu wollen.« Das Gelege besteht aus drei bis vier verhältnismäßig kleinen, höchstens achtundzwanzig Millimeter langen, zweiundzwanzig Millimeter dicken Eiern, welche auf graulich- oder bläulichweißem Grunde mit verloschenen Flecken und Stricheln von blutrother, blutbräunlicher oder schwarzbrauner Färbung besetzt sind. Zuweilen stehen diese Fleckchen kranzartig an dem stumpfen Ende, zuweilen verbreiten sie sich über das ganze Ei; dieses aber ist, aller Aenderung ungeachtet, immer als Kreuzschnabel-Ei zu erkennen. Die sorgsame Mutter gibt sich dem Brutgeschäfte mit regem Eifer hin, während das Männchen auch seinerseits durch Atzung der Mutter die ihm zufallende Arbeit freudig übernimmt. Die Jungen, welche von den Eltern sehr geliebt werden, erhalten vom ersten Tage ihres Lebens an Fichten- oder Kiefernsamen zur Speise, zuerst solchen, welcher im Kropfe der Alten erweicht und bezüglich halb verdaut ist, später härteren, wachsen rasch heran und sind bald recht gewandt und munter, bedürfen aber länger als alle anderen Sperlingsvögel besonderer Pflege der Eltern, weil ihr Schnabel erst nach dem Ausfliegen zum Kreuzschnabel wird, sie also bis dahin nicht im Stande sind, Kiefer- oder Fichtenzapfen zu öffnen. Sie umlagern daher noch lange nach ihrem Ausfliegen die arbeitenden Alten, schreien ununterbrochen wie unartige Kinder, fliegen den Eltern eilig nach, wenn diese den Baum verlassen, oder locken so lange und so ängstlich, bis jene zurückkommen. Nach und nach gewöhnen die Alten sie ans Arbeiten. Zuerst werden ihnen deshalb halbgeöffnete Zapfen vorgelegt, damit sie sich im Aufbrechen der Schuppen üben; später erhalten sie die abgebissenen Zapfen vorgelegt, wie diese sind. Auch wenn sie allein fressen können, werden sie noch eine Zeitlang geführt, endlich aber sich selbst überlassen.
Jagd und Fang der Kreuzschnäbel verursachen keine Schwierigkeit. Die neu bei uns angekommenen lassen sich, ohne wegzufliegen, von dem Schützen unterlaufen, bleiben sogar oft dann noch auf demselben Baume sitzen, wenn einer oder der andere ihrer Gefährten herabgeschoffen wurde. Der Fang ist, wenn man erst einen von ihnen berückte, noch leichter als die Jagd. In Thüringen nimmt man hohe Stangen, bekleidet sie oben buschartig mit Fichtenzweigen und befestigt an diesen Leimruthen. Die Stangen werden auf freien Blößen im Walde vor Tagesanbruch aufgestellt und ein Lockvogel im Bauer unten an ihnen befestigt. Alle vorüberfliegenden Kreuzschnäbel nähern sich wenigstens dieser Stange, um nach dem rufenden und lockenden Genossen zu schauen. Viele setzen sich auch auf den Busch und dabei gewöhnlich auf eine der Leimruthen.
Man darf wohl behaupten, daß der Nutzen, welchen die Kreuzschnäbel bringen, den geringen Schaden, welchen sie uns bereiten können, reichlich aufwiegt. Ganz abgesehen von dem Vergnügen, welches sie jedem Thierliebhaber gewähren, oder von der Zierde, welche sie im Winter dem Nadelbäumen [356] verleihen, nützen sie entschieden dadurch, daß sie in samenreichen Jahren die überladenen Wipfel durch Abbeißen der Fichtenzapfen erleichtern und diese hierdurch erhalten. Neuerdings hat man auch sie als schädlich, mindestens forstschädlich, hinzustellen versucht, dabei aber wohl nur an die dürftigen Waldungen der armen Mark und anderer ebenso karger Gaue Deutschlands, nicht aber an die frischen Wälder unserer Mittelgebirge gedacht. Hier finden sie, wenn sie erscheinen, einen so überreich gedeckten Tisch, daß kein Forstmann die Zapfen, welche sie aufbrechen, ihnen nachrechnet oder mißgönnt.
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