Rothkehlchen (Erithacus rubecula)

[131] Ein drosselartiger, auf der Oberfirste etwas gebogener, vor dem angedeuteten Haken seicht eingekerbter Schnabel, mittelhohe, schwache Füße, ziemlich kurze und schwächliche Flügel, in denen die vierte und fünfte Schwinge die anderen an Länge überragen, mittellanger, aus zugespitzten Federn bestehender, in der Mitte leicht ausgeschnittener Schwanz und lockeres, weitstrahliges, bei beiden Geschlechtern gleichfarbiges, in der Jugend geflecktes Gefieder sind die Kennzeichen der artenarmen Sippe, deren bekanntester Vertreter unser allbekanntes Rothkehlchen oder Rothbrüstchen, Kehl-, Wald- oder Winterröthchen, Rothkröpfchen oder Rothbärtchen (Erithacus rubecula, Motacilla, Sylvia, Curruca, Ficedula, Erythaca, Lusciola und Rhondella rubecula, Dandalus rubecula, pinetorum, foliorum und septentrionalis, Rubecula sylvestris, familiaris, pinetorum, foliorum und septentrionalis) ist. Die Oberseite ist dunkel olivengrau, die Unterseite graulich, Stirn, Kehle und Oberbrust sind gelbroth. Das Weibchen ist etwas blässer als das Männchen; die Jungen zeigen oben auf olivengrauem Grunde rostgelbe Schaftflecken, unten auf mattrostgelbem Grunde graue Schaftflecken und Ränder. Das große Auge ist braun, der Schnabel schwärzlichbraun, der Fuß röthlich hornfarben. Die Länge beträgt funfzehn, die Breite zweiundzwanzig, die Fittiglänge sieben, die Schwanzlänge sechs Centimeter.

[131] Es scheint, daß unser Rothkehlchen nur in Europa heimisch ist, sich wenigstens nicht weit über die Grenzen dieses Erdtheils hinaus verbreitet. Sein Brut gebiet reicht vom siebenundsechzigsten Grade der Breite bis Kleinasien und vom Atlantischen Weltmeere bis zum Ob. Auf seinem Zuge besucht es Nordafrika, Syrien, Palästina und Persien; die Hauptmenge der uns im Winter verlassenden Rothkehlchen bleibt aber schon in Südeuropa, ein und das andere sogar in Deutschland. Das südliche England verläßt es überhaupt nicht oder doch nur zum geringsten Theile.


Rothkehlchen (Erithacus rubecula) und Gartenrothschwanz (Ruticilla phoenicurus). 1/2 natürl. Größe.
Rothkehlchen (Erithacus rubecula) und Gartenrothschwanz (Ruticilla phoenicurus). 1/2 natürl. Größe.

In Deutschland ist es überall gemein. Jeder Wald mit dichtem Unterholze gewährt ihm Herberge, und während seiner Reisen besucht es jedes Gebüsch, jede Hecke, im Gebirge wie in der Ebene, im Felde wie im Garten, unmittelbar vor oder zwischen den Wohnungen der Menschen. Es ist ein liebenswürdiges Geschöpf, welches sein munteres, fröhliches Wesen bei jeder Gelegenheit bekundet. Auf dem Boden sitzend, trägt es sich aufrecht, die Flügel etwas hängend, den Schwanz wagerecht, auf Baumzweigen sitzend, etwas lässiger. Es hüpft leichten Sprunges rasch, meist aber in Absätzen über den Boden oder auf wagerechten Aesten dahin, flattert von einem Zweige zum anderen und fliegt sehr gewandt, wenn auch nicht regelmäßig, über kurze Entfernungen halb hüpfend, halb schwebend, wie Naumann sagt, schnurrend, über weitere Strecken in einer aus kürzeren oder längeren Bogen gebildeten Schlangenlinie, schwenkt sich hurtig zwischen dem dichtesten Gebüsche hindurch und bethätigt überhaupt große Behendigkeit. Gern zeigt es sich frei auf einem hervorragenden Zweige oder auf dem Boden; ungern aber, bei Tage wohl kaum, fliegt es in hoher Luft dahin, ist vielmehr stets mehr auf seine Sicherung bedacht, so keck es sonst auch zu sein scheint. Den Menschen fürchtet es kaum, kennt aber seine Feinde wohl und bekundet bei ihrem Erscheinen Angst [132] oder Besorgnis. Schwachen Geschöpfen oder seinesgleichen gegenüber zeigt es einen liebenswürdigen Muthwillen, aber auch Necklust und unliebenswürdige Zanksucht, lebt deshalb nicht eben gesellig und selten in Frieden. Doch hat man andererseits auch das gute Gemüth kennen gelernt und erfahren, daß es mitleidig, ja barmherzig sein kann. Verwaiste Singvögel, welche noch nicht im Stande sind, sich durchs Leben zu helfen, haben in Rothkehlchen treue Pflegeeltern, Kranke der eigenen Art barmherzige Helfer gefunden. Zwei Rothkehlchenmännchen, welche in meinem Heimatsorte gepflegt wurden und einen und denselben Käfig bewohnten, lebten beständig in Hader und Streit, mißgönnten sich jeden Bissen, anscheinend selbst die Luft, welche sie athmeten, und bissen sich aufs heftigste, jagten sich wenigstens wüthend in dem ihnen gegönnten Raume umher. Da geschah es, daß eins durch einen unglücklichen Zufall das Bein brach. Von Stund an war aller Kampf beendet. Das gesunde Männchen hatte seinen Groll vergessen, nahm sich mitleidig des schmerzgepeinigten Kranken an, trug ihm Nahrung zu und pflegte ihn aufs sorgfältigste. Der zerbrochene Fuß heilte, das krankgewesene Männchen war wieder kräftig wie vorher; aber der Streit zwischen ihm und seinem Wohlthäter war für immer beendet. Ein anderes männliches Rothkehlchen, von welchem Snell Kunde erhielt, wurde am Neste seiner Jungen gefangen, mit diesen in das Zimmer gebracht, widmete sich nach wie vor deren Pflege, fütterte und wärmte sie und zog sie glücklich groß. Etwa acht Tage später brachte der Vogelsteller ein anderes Nest mit jungen Rothkehlchen in das Zimmer zu dem alten Männchen, welches er zurückbehalten hatte. Und siehe da: als die Jungen hungrig wurden und laut zu werden anfingen, kam jener Vogel heran, betrachtete sie lange, eilte dann zu dem Näpfchen mit Ameisenpuppen, begann das Pflegevatergeschäft mit der größten Emsigkeit und erzog auch diese Jungen, als ob es seine eigenen gewesen wären. Naumann erfuhr ähnliches, als er einen jungen Hänfling auffüttern wollte. Der ewig hungrige Vogel schrie fortwährend und erregte dadurch die Theilnahme eines im Zimmer umherfliegenden Rothkehlchens. Es begab sich zu dem Käfige des Schreihalses und wurde von diesem um Futter gebeten. »Sogleich flog es zum Tische, holte Brodkrümchen, stopfte ihm damit das Maul und that dieses endlich so oft, als sich der verwaiste meldete.« Auch im Freien schließt das Rothkehlchen zuweilen innige Freundschaft mit anderen Vögeln. »In einem Gehölze unweit Köthen«, erzählt Päßler, »ist der merkwürdige Fall vorgekommen, daß ein Rothkehlchen mit dem Fitislaubvogel in ein Nest gelegt hat. Letzterer hat das Nest gebaut, beide haben je sechs Eier gelegt, beide haben in Eintracht zu gleicher Zeit auf den zwölf Eiern gebrütet.«

Aber das Rothkehlchen hat noch andere gute Eigenschaften. Es ist einer unser lieblichsten Sänger. Sein Lied besteht aus mehreren mit einander abwechselnden flötenden und trillernden Strophen, welche laut und gehalten vorgetragen werden, so daß der Gesang feierlich klingt. Dieses Lied nun ist im Zimmer ebenso angenehm wie im Walde, und deshalb wird unser Vogel sehr häufig zahm gehalten. Er gewöhnt sich bald an die Gefangenschaft, verliert alle Scheu, welche er anfänglich noch zeigte, und bekundet dafür wieder seine altgewohnte Zutraulichkeit dem Menschen gegenüber. Nach einiger Zeit gewinnt er seinen Pfleger ungemein lieb und begrüßt ihn mit lieblichem Zwitschern, aufgeblasenem Kropfe und allerhand artigen Bewegungen. Bei geeigneter Pflege hält er viele Jahre lang in der Gefangenschaft aus und scheint sich vollständig mit seinem Loose auszusöhnen. Man kennt Beispiele, daß Rothkehlchen, welche einen Winter im Zimmer verlebt hatten und im nächsten Frühjahre freigelassen worden waren, im Spätherbste sich wiederum im Hause ihres Gastfreundes einfanden und diesen gleichsam baten, sie wieder aufzunehmen; man hat einzelne zum Aus- und Einfliegen gewöhnt; einige Paare haben sich im Zimmer auch fortgepflanzt.

Das Rothkehlchen erscheint bei uns bereits im Anfange des März, falls die Witterung es irgend erlaubt, hat aber im Vaterlande, dem es den kommenden Frühling verkündet, oft noch viel von Kälte und Mangel zu leiden. Es reist des Nachts und einzeln, laut rufend, in hoher Luft dahin und senkt sich mit Anbruche des Tages in Wälder, Gebüsche und Gärten hernieder, um sich hier zu sättigen und auszuruhen. Sobald es sich festangesiedelt hat, tönt der Wald wider von seinem[133] schallenden Gelock, einem scharfen »Schnickerikik«, welches oft wiederholt wird und zuweilen trillerartig klingt; der erste warme Sonnenblick erweckt auch den schönen Gesang. Geht man seinen Tönen nach, so sieht man das auf dem Wipfelzweige eines der höchsten Bäume der Dickung sitzende Männchen aufgerichtet, mit etwas herabhängenden Flügeln und aufgeblasener Kehle, in würdiger, stolzer Haltung, ernsthaft, feierlich, als ob es die wichtigste Arbeit seines Lebens verrichte. Es singt bereits in der Morgendämmerung und bis zum Einbruche der Nacht, im Frühlinge wie im Herbste. Sein Gebiet bewacht es mit Eifersucht und duldet in ihm kein anderes Paar; aber der Bezirk des einen Pärchens grenzt unmittelbar an den des anderen. Inmitten des Wohnkreises, welchen eins sich erwarb, steht das Nest, stets nahe am oder auf dem Boden, in Erdhöhlen oder in ausgefaulten Baumstrunken, zwischen Gewurzel, im Moose, hinter Grasbüscheln, sogar in verlassenen Bauen mancher Säugethiere usw. Dürre Baumblätter, mit denen auch eine sehr große Höhlung theilweise ausgefüllt wird, Erdmoos, trockene Pflanzenstengel und Blätter oder Moos allein werden zu den Außenwandungen verwoben, zarte Würzelchen, Hälmchen, Haare, Wolle, Federn zum inneren Ausbaue zierlich zusammengeschichtet. Bildet die Höhlung nicht zugleich eine Decke über dem Neste, so wird eine solche gebaut und dann seitlich ein Eingangsloch angelegt. Ende April oder im Anfange des Mai sind die fünf bis sieben, zwanzig Millimeter langen, funfzehn Millimeter dicken, zartschaligen, auf gelblichweißem Grunde mit dunkleren, rostgelblichen Punkten über und über bedeckten Eier vollzählig; beide Eltern brüten nun abwechselnd, zeitigen sie in etwa vierzehn Tagen, füttern die Jungen rasch heran, führen und leiten sie nach dem Ausfliegen noch etwa acht Tage lang, überlassen sie sodann ihrem eigenen Geschicke und schreiten, falls die Witterung es gestattet, zu einer zweiten Brut. Wenn man sich dem Neste oder den eben ausgeflogenen Jungen nähert, stoßen die Alten ihre Lockstimme und den Warnungsruf »Sih« wiederholt aus, und geberden sich sehr ängstlich; die Jungen, deren Gezwitscher man bisher vernahm, schweigen auf dieses Zeichen hin augenblicklich still und klettern mehr, als sie fliegen, im Gezweige empor.

Anfänglich werden die Jungen mit allerlei weichem Gewürme geatzt, später erhalten sie dieselbe Nahrung, welche die Alten zu sich nehmen: Kerfe aller Art und in allen Zuständen des Lebens, Spinnen, Schnecken, Regenwürmer usw.; im Herbste erlabt sich alt und jung an Beeren der Wald- und Gartenbäume oder Sträucher. In Gefangenschaft gewöhnt sich das Rothkehlchen fast an alle Stoffe, welche der Mensch genießt.

Nach vollendeter Brutzeit, im Juli oder August, mausern die Rothkehlchen; nachdem das neue Kleid vollendet, rüsten sie sich allgemach zum Wegzuge. »Wenn man in der Zugzeit des Abends im Zwielichte in einem Walde ist«, schildert Naumann, »hört man ihre fröhlichen Stimmen aus jedem Strauche erschallen, anfänglich nahe an der Erde, dann immer höher, bis sie die Baumwipfel erreichen. Hier verstummen sie; denn sowie der letzte Schein des Tages verschwindet, wird alles still im Walde, und man vernimmt dann ihre Stimme nur in den Lüften. An ihr kann man bemerken, daß sie vom Aufgang der Sonne gegen deren Niedergang ziehen, oder im Frühjahre umgekehrt.« Nunmehr füllt sich die Winterherberge. Da, wo man während des Sommers vergeblich nach dem Rothkehlchen aussah, lugt es jetzt aus jedem Busche hervor. Alle Hochgebirge Süd- und Mittelspaniens, jede Baumhecke, jeder Garten beherbergen es. Jedes hat sich auch hier ein bestimmtes Gebiet erworben und weiß es zu behaupten; aber jedes ist bescheidener als in der Heimat: ein einziger Busch genügt ihm, und die Gesammtheit bildet gewissermaßen nur eine einzige Familie. Zuerst sind die Wintergäste still und stumm, sobald aber die Sonne sich hebt, regt sich auch ihre Lebensfreudigkeit wieder: sie singen, sie necken sich, sie kämpfen mit einander. Leise, mehr ein Gezwitscher als ein Gesang, ist das Lied, welches man zuerst von ihnen hört; aber jeder neue Tag erhöht ihre Freudigkeit, und lange, bevor der Frühling einzog in ihrer Heimat, ist er wach geworden in ihrem Herzen. Der Anfang des Singens ist der Anfang zur Heimkehr.

[134] Die nächsten Verwandten der Erdsänger sind die Schmätzer (Monticolinae), Glieder einer zahlreichen Unterfamilie meist buntfarbiger Singvögel von ziemlich verschiedener Größe, aber sehr übereinstimmender Gestalt und Lebensweise. Ueber die Begrenzung der Gruppe sind die Ansichten der Thierkundigen verschieden; denn während diese einzelne zu den Drosseln zählen, ordnen sie jene den Erdsängern unter. Betrachtet man aber die Lebensweise als maßgebend, so kann man die betreffenden Vögel nicht trennen. Die Kennzeichen der Schmätzer sind: schlanker Leib, pfriemenförmiger, auf der Firste ein wenig gebogener oder gerader und an der Spitze mit einem sehr kurzen und schwachen Haken versehener Schnabel, mittelhoher schlankläufiger Fuß, mittel- oder ziemlich lange Flügel, in denen gewöhnlich die dritte Schwinge die längste ist, kurzer, meist gerade ab-oder seicht ausgeschnittener Schwanz und reiches, locker anliegendes, nach Geschlecht und Alter meist verschiedenes Gefieder. Die Schmätzer sind der Mehrzahl nach Felsen- oder doch Gesteinbewohner, meiden daher stets den Wald und siedeln sich mit Vorliebe im Gebirge oder auf freien Flächen an. Hier, regelmäßig in Höhlungen, steht auch ihr Nest, ein großer, aber kunstloser Bau, in welchem man ziemlich spät im Frühlinge die gewöhnlich einfarbigen Eier findet.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 131-135.
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