Erste Familie: Drosselvögel (Rhacnemididae)

[118] Dem Vorgange von Cabanis folgend, stelle ich unter den hierher gehörigen Sperlingsvögeln die Drosselvögel (Rhacnemididae) obenan. Sie kennzeichnender kräftige Leib und große Kopf, [118] der mittellange, gerade, seitlich etwas zusammengedrückte, auf der Firste sanft gebogene, an der Spitze nicht überragende, vor der Spitze mit seichtem Einschnitte versehene Schnabel, der hochläufige Fuß mit mittelgroßen Zehen und deutlich gekrümmten Nägeln, der mittellange Flügel, unter dessen zehn Handschwingen die dritte die längste zu sein pflegt und die erste durch auffallende Kürze sich auszeichnet, und das reichhaltige Gefieder, welches aus verhältnismäßig großen und weichen, in den meisten Fällen düsterfarbigen Federn besteht.

Die Drosseln, von denen man ungefähr dreihundertfünfundsiebzig Arten kennt, sind Weltbürger, bewohnen alle Gürtel der Höhe und Breite und ebenso die verschiedenartigsten Oertlichkeiten, obwohl die Mehrzahl von ihnen im Walde seßhaft ist. Als für sie bezeichnend mag erwähnt sein, daß die meisten viel auf dem Boden sich aufhalten, gleichviel ob derselbe von Pflanzen überdeckt oder steinig oder felsig ist, im tiefsten Schatten liegt oder von der glühenden Sonne bestrahlt wird. Hochbegabt in jeder Beziehung, gewinnen sie durch meist vorzüglichen Gesang unsere besondere Zuneigung, erweisen sich zudem nur nützlich und verdienen daher das allgemeine Wohlwollen, welches ihnen entgegengebracht wird. Kerbthiere, zumal deren Larven, allerlei Weichthiere sowie Erd-und Wassergewürm im weitesten Umfange, während der Fruchtzeit nebenbei Beeren verschiedener Art bilden ihre Nahrung; fast alle, welche höhere Breiten bewohnen, zählen daher zu den Zug- und Wandervögeln, welche früher oder später im Herbste verschwinden und entgegengesetzt im Frühjahre zurückkehren, um bald nach ihrer Ankunft zur Fortpflanzung zu schreiten. Nest und Eier sind so verschieden, daß etwas allgemein gültiges kaum gesagt werden kann; auch die Art und Weise, wie sie ihre Jungen erziehen, ändert vielfach ab.

Feinde der Drosseln sind alle Raubthiere, welche dieselben Aufenthaltsorte mit ihnen theilen. Zu ihnen gesellt sich der Mensch, welcher sie unzweifelhaft am empfindlichsten schädigt, weniger indem er alte und junge fängt, um sie im Käfige zu halten oder auch wohl zu verspeisen, weniger ebenso, indem er ihnen die Eier raubt, als indem er ihnen die zusagenden Wohnplätze schmälert. Der Forscher oder kundige Liebhaber, welcher für seine Zwecke Drosseln tödtet oder fängt, ist es nicht, welcher ihrem Bestande schadet: der Land- und Forstwirt, welcher jeden Busch, jede Hecke rodet, den Wald zu Feld oder im günstigsten Falle zu gleichförmigen Forsten umwandelt, fügt ihnen größeres Unheil zu. Drosseln gefangen zu halten, ist, falls man sie sachkundig zu pflegen versteht, nicht als Verbrechen zu bezeichnen, vielmehr durchaus gerechtfertigt; denn gerade diese Vögel gehören zu den angenehmsten Stubengenossen, welche sich der an das Zimmer gebannte Mensch erwerben kann. Rechtzeitig gefangen und sachkundig gepflegt, gewöhnen sie sich bald an den Verlust der Freiheit, befreunden sich innig mit ihrem Gebieter, geben diesem ihre Zuneigung und Anhänglichkeit in jeder Weise zu erkennen, bekunden Trauer, wenn sie ihn vermissen, jubelnde Freude, wenn sie ihn wieder erscheinen sehen, treten mit einem Worte mit dem Menschen in ein wirklich inniges Verhältnis. Aber sie wollen gepflegt, abgewartet, beobachtet und verstanden sein, wenn man zu erreichen strebt, daß sie längere Zeit im Käfige ausdauern, und deshalb soll der, welcher eine Drossel, eine Nachtigall dem Walde und seinem Mitmenschen rauben will, um sie allein zu besitzen, erst bei einem erfahrenen Vogler in die Lehre gehen, aber auch die rechte Liebe und die rechte Geduld mitbringen; denn ohne diese Liebe und Geduld wird er einem edlen Wesen nicht bloß seine Freiheit, sondern auch sein Leben nehmen. Auch in diesem Falle ist es die Unkenntnis, nicht aber verständnisvolle Liebhaberei, welche frevelt.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 118-119.
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