Dorngrasmücke (Sylvia cinerea)

[189] Die Dorngrasmücke, der Hagschlüpfer, Hecken- und Staudenschwätzer, Wald- oder Nachtsänger und Dornreich, das Weißkehlchen usw. (Sylvia cinerea, rufa, cineraria, fruticeti und affinis, Motacilla rufa und fruticeti, Ficedula curruca und cinerea, Curruca sylvia, cinerea, fruticeti, cineracea und caniceps), die letzte Art ihrer Sippe, welche in Deutschland brütet, [189] zeichnet sich durch Schlankheit aus. Ihre Länge beträgt funfzehn, die Breite zweiundzwanzig, die Fittig- wie die Schwanzlänge sieben Centimeter. Die Obertheile sind röthlich erdbraun, Oberkopf, Hinterhals und Ohrgegend braungrau, Zügel, Schläfenstrich und Halsseiten deutlich grau, Kinn, Kehle und Unterbacken weiß, die übrigen Untertheile zart fleischröthlich, an den Seiten rostbräunlich, die Schwingen olivenbraun, außen schmal rostfahl, die Armschwingen und deren Decken breit rostbraun gesäumt, die Schwanzfedern dunkelbraun, die beiden äußersten außen weiß, innen in der Endhälfte weißgrau, die zweite von außen her am Ende weiß gesäumt. Die Iris ist braun, der Schnabel hornbräunlich, unterseits horngelblich, der Fuß gelb. Beim Weibchen sind Oberkopf und Hinterhals erdfahl, die Untertheile weiß und die braunen Außensäume der Armschwingen schmaler und blasser.

Unter allen Verwandten dringt die Dorngrasmücke am weitesten nach Norden vor, da sie noch im nördlichen Skandinavien gefunden wird; nach Osten hin dehnt sich ihr Verbreitungsgebiet bis Westasien; im Winter wandert sie bis Mittelafrika, besucht auch um diese Zeit die Kanarischen Inseln. Bei uns zu Lande bevorzugt sie niedere Dorngebüsche jedem anderen Bestande; in Spanien lebt sie mit den kleinen Arten der Familie in dem eigenthümlichen Niederwalde, von welchem ich weiter unten zu reden haben werde. Den Wald meidet sie hier wie dort; auch in Gärten nimmt sie ihren Aufenthalt nicht, obwohl sie einzelne höhere Bäume in ihrem Gebiete wohl leiden mag, um in den niederen Aesten der Krone zu singen oder während der Paarungszeit aus der Höhe, zu welcher sie fliegend sich erhob, auf jene sich herabzulassen. Auf dem Zuge besucht sie die Fruchtfelder, in Deutschland Roggen- oder Weizenfelder, im Süden Europas Maispflanzungen. Sie trifft spät, selten vor Ende des April, meist erst im Anfange des Mai bei uns ein, bezieht sofort ihr Brutgebiet und verweilt auf ihm bis zum August, beginnt dann zu streichen und verläßt uns im September, spätestens im Oktober wieder.

»Sie ist«, sagt mein Vater, »ein äußerst lebhafter, rascher und gewandter Vogel, ruht keinen Augenblick, sondern hüpft unaufhörlich in den Gebüschen herum und durchkriecht vermöge ihres schlanken Leibes mit ungemeiner Geschicklichkeit auch die dichtesten, durchsucht alles und kommt sehr oft lange Zeit nicht zum Vorscheine. Dann aber hüpft sie wieder herauf, setzt sich auf die Spitze eines vorstehenden Zweiges, sieht sich um und verbirgt sich von neuem. Dies geht den ganzen Tag ununterbrochen so fort. Ihr Flug ist geschwind, mit starkem Schwingenschlage, geht aber gewöhnlich tief über dem Boden dahin und nur kurze Strecken in einem fort. Ihr Lockton lautet ›Gät gät scheh scheh‹ und drückt verschiedene Gemüthszustände aus. Das Männchen hat einen zwar mannigfachen, aber wenig klangvollen Gesang, welcher aus vielen abgebrochenen Tönen zusammengesetzt ist und an Anmuth und Schönheit dem der meisten deutschen Sänger sehr nachsteht; er dient aber doch dazu, eine Gegend zu beleben und bringt in die flötenden Gesänge der Gartengrasmücke, des Weidenlaubsängers und anderer eine angenehme Mannigfaltigkeit.« Naumann nennt den Gesang angenehm und sagt, daß man ihn für kurz halten könnte, weil man in der Entfernung nur die hellpfeifende, flötenartige, wohltönende Schlußstrophe höre, während er in der That aus einem langen Piano und jenem kurzen Schlußforte bestehe. »Das Piano ist zusammengesetzt aus vielerlei abwechselnden, pfeifenden und zirpenden Tönen, welche sehr schnell auf einander folgen und leise hergeleiert werden; aber das beschließende Forte wird mit schöner Flötenstimme und mit voller Kehle gesungen.« »Die Dorngrasmücke«, fährt mein Vater fort, »läßt ihren Gesang nicht bloß im Sitzen und Hüpfen, sondern auch im Fluge hören. Sie kommt nämlich singend auf die höchste Spitze eines Busches herauf, steigt flatternd funfzehn bis dreißig Meter in die Höhe und stürzt sich, immer singend, entweder flatternd in schiefer, oder mit angezogenen Schwingen fast in senkrechter Richtung wieder herab.« Hierdurch macht sie sich dem kundigen Beobachter schon von weitem kenntlich. Vor dem Menschen nimmt sie sich wohl in Acht. Bei uns ist sie zwar nicht gerade scheu, aber doch vorsichtig genug. »Merkt sie, daß man sie verfolgt, dann verbirgt sie sich so sorgfältig in dichtem Gesträuche oder hohem Grase, daß man ihr oft lange vergeblich nachjagen muß«; sie sucht sich, wie Naumann bemerkt, »durch das Gebüsch fortzuschleichen«. In Spanien habe ich sie so scheu gefunden, daß ich [190] ihr wochenlang vergeblich nachstellte. Aeußerst angenehm ist die Heiterkeit dieses Vogels. »Ich erinnere mich nicht«, sagt Naumann, »sie im Freien jemals traurig gesehen zu haben; vielmehr läßt sie an den ihr nahe wohnenden Vögeln beständig ihren Muthwillen durch Necken und Jagen aus, beißt sich auch wohl mit ihnen herum, verfliegt sich aber dabei niemals sorglos ins Freie, sondern bleibt klüglich immer dem Gebüsche so nahe wie möglich.« Dasselbe Betragen behält sie nach meinen Beobachtungen auch im Süden oder auf ihrer Wanderung bei. Sie ist überall dieselbe, überall gleich aufmerksam, überall gleich mißtrauisch und überall gleich listig.

Bald nach ihrer Ankunft in Deutschland macht die Dorngrasmücke Anstalt zu ihrer Brut. Sie baut in dichte Büsche, Ried und langes Gras, selten mehr als einen Meter über dem Boden, oft so niedrig, daß der Unterbau des Nestes die Erde berührt. Die wie gewöhnlich aus Halmen zusammengesetzte dünne Wandung wird oft mit Schafwolle gemischt, die innere Ausfütterung aus den Spitzen der Grashalme hergestellt. Schon in der zweiten Hälfte des April enthält das Nest das volle Gelege, vier bis sechs, in Größe, Gestalt und Färbung außerordentlich abändernde Eier, welche durchschnittlich siebzehn Millimeter lang, dreizehn Millimeter dick, auf elfenbeinweißem, gelbem, grauem oder grünlich gelbgrauem, auch wohl grünlichweißem und bläulichweißem Grunde deutlicher oder undeutlicher mit aschgrauen, schieferfarbigen, ölbraunen, gelbgrünen usw. Punkten und Flecken gewässert, gemarmelt, gepunktet und sonstwie gezeichnet sind. Die Eltern betragen sich beim Neste wie andere Grasmücken auch. Die zweite Brut folgt unmittelbar auf die erste.

Im Käfige wird die Dorngrasmücke seltener gehalten als ihre Verwandten. Ihr Gesang gefällt nicht jedem Liebhaber, verdient aber die allgemeine Mißachtung der Pfleger nicht, der Vogel daher mehr Beachtung, als ihm bisher zu theil geworden ist.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 189-191.
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