Fünfte Familie: Sänger (Sylviidae)

[180] Eine der artenreichsten Familien umfaßt die Sänger (Sylviidae), kleine, gestreckt gebaute Sperlingsvögel, mit schlankem, dünnem, pfriemenförmigem, auf der Firste bis zur leicht ausgerandeten Spitze gekrümmtem Schnabel, kurzen oder höchstens mittelhohen Füßen, deren Läufe vorn mit getheilten Schildern bekleidet sind, mittellangen, meist gerundeten Flügeln, deren Handtheil stets zehn Schwingen trägt, verschiedenartig gebildetem, kürzerem oder längerem Schwanze und seidenweichem Gefieder.

Nicht weniger als etwa vierhundertundfunfzig Arten von Sperlingsvögeln gehören der Sängerfamilie an. Sie verbreitet sich über alle Theile der Osthälfte der Erde und fehlt nur in Amerika. Sänger bewohnen alle Gebiete und alle Gürtel der Höhe und Breite und werden, wo das Gelände mit Pflanzen bestanden ist, nirgends vermißt; sie herbergen im Walde wie in einzelnen Gebüschen, in der hochstämmigen Heide, wie im Röhrichte, Schilfe oder Riede; sie beleben daher die verschiedensten Oertlichkeiten, und zwar, ihrer hohen Begabung entsprechend, meist in höchst anmuthiger Weise. Munter und thätig, bewegungslustig und unruhig, durchschlüpfen und durchkriechen sie die dichtesten Bestände der verschiedenartigsten Pflanzen mit unübertrefflicher Gewandtheit. Sie beherrschen das Gezweige der Bäume ebenso wie das verfilzte Buschdickicht und das dichteste Ried; sie laufen zum Theile ebensogut, als sie schlüpfen, und fliegen, wenn auch nicht gerade ausgezeichnet, so doch meist recht leidlich, gefallen sich sogar in Flugkünsten mancherlei Art. Weitaus die meisten verdienen ihren Namen; denn alle Mitglieder ganzer Unterfamilien zählen zu den trefflichsten Sängern, welche wir kennen; einzelne sind wahre Meister in dieser Kunst. Auch ihre höheren Fähigkeiten müssen als wohl entwickelte bezeichnet werden. Die Sinne scheinen ziemlich gleichmäßig ausgebildet zu sein, und der Verstand wird von niemand unterschätzt werden, welcher sie kennen lernt. Sie sind klug, wissen sich den Umständen gemäß einzurichten, unterscheiden ihre Freunde und Feinde, zeigen sich zutraulich, wo dies gerechtfertigt ist, und scheu, wo sie Nachstellungen erfahren haben, bekunden List wie Ehrlichkeit, Geradheit, Zuthunlichkeit wie Mißtrauen, leben mit anderen Vögeln in bester Eintracht, so lange sie es können, und mit ihresgleichen in Frieden, so lange mit der Liebe nicht auch die Eifersucht in ihnen sich regt, bethätigen sich als treue Gatten und hingebende Eltern, opfern ihrer Brut zu Liebe in wunderbar rührender Weise sich auf, vereinigen mit einem Worte die vielseitigsten und trefflichsten Eigenschaften in sich.

Alle bei uns im Norden wohnenden Arten sind Zugvögel; die meisten erscheinen auch erst, wenn der Frühling wirklich eingezogen ist, in der Heimat. Dann grenzt sich jedes Paar sein Brutgebiet, sei dasselbe groß oder klein, gegen andere derselben Art ab und duldet nur ausnahmsweise innerhalb desselben ein zweites. Unmittelbar nach der Wahl des Gebietes beginnt der Bau des Nestes, welches je nach der Art ebenso verschieden gestellt als ausgeführt sein kann. Beide Eltern pflegen das aus vier bis sechs, höchstens acht Eiern bestehende Gelege abwechselnd zu bebrüten, und beide widmen sich der Brutpflege mit gleichem Eifer. Die Jungen werden ausschließlich mit Kerbthieren aufgefüttert, und diese bleiben auch die hauptsächlichste Nahrung der alten Vögel, obgleich sie im Herbste allerlei Beeren und andere Früchte nicht gänzlich verschmähen. Merkbar schädlich wird uns kein einziger Sänger, nützlich wohl jeder, so schwierig es auch sein mag, dies immer zu erkennen. Alle verdienen daher in demselben Maße unseren Schutz und die Liebe, welche [180] sie, Dank ihres vortrefflichen Gesanges, glücklicherweise fast ausnahmslos bei alt und jung sich erworben haben; alle eignen sich auch zu Käfigvögeln und werden als solche, trotz mancher Irrwege, auf welche die Liebhaberei in der Neuzeit gerathen, stets hohen Rang behaupten.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 180-181.
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