Gartengrasmücke (Sylvia hortensis)

[186] Dem Meistersänger und Mönch als Sängerin fast ebenbürtig ist die Gartengrasmücke, Grasmücke oder Grashexe (Sylvia hortensis, aedonia und salicaria, Motacilla, Curruca, Epilais und Adornis hortensis, Motacilla salicaria, Curruca grisea und brachyrhynchos, Bild S. 182). Ihre Länge beträgt sechzehn, die Breite fünfundzwanzig, die Fittiglänge acht, die Schwanzlänge sechs Centimeter. Das Weibchen ist bedeutend kleiner, dem Männchen aber durchaus ähnlich gefärbt. Das Gefieder der Oberseite ist olivengrau, das der Unterseite hellgrau, an der Kehle und am Bauche weißlich; Schwingen und Schwanz sind olivenbraun, außen schmal fahlgrau, erstere innen breiter fahlweißlich gesäumt. Ein das Auge umgebender, sehr schmaler Federkranz ist weiß, das Auge selbst licht graubraun, der Schnabel wie der Fuß schmutzig bleigrau.

Als die Heimat der Gartengrasmücke darf Mitteleuropa angesehen werden. Nach Norden hin verbreitet sie sich bis zum neunundsechzigsten Grade nördlicher Breite; nach Süden hin nimmt sie rasch an Anzahl ab; nach Osten hinüberschreitet sie den Ural nicht. In Südfrankreich und in Italien tritt sie häufig auf; in Spanien und Portugal ist sie ebenfalls Brutvogel; Griechenland und Kleinasien dagegen berührt sie nur während ihres Zuges, welcher sie bis Westafrika führt. Sie trifft bei uns frühestens zu Ende des April oder im Anfange des Mai ein und verläßt uns im September wieder. Auch sie lebt im Walde, und zwar im Laub- wie im Nadelwalde, bewahrheitet jedoch auch ihren Namen; denn jeder buschreiche Garten, namentlich jeder Obstgarten, weiß sie zu fesseln. Sie treibt sich ebensoviel in niederen Gebüschen wie in den Kronen mittelhoher Bäume umher, wählt aber, wenn sie singen will, gern eine mäßige Höhe.

»Sie ist«, wie Naumann sagt, »ein einsamer, harmloser Vogel, welcher sich durch stilles, jedoch thätiges Leben auszeichnet, dabei aber keinen der ihn umgebenden Vögel stört oder anfeindet und selbst gegen die Menschen einiges Zutrauen verräth; denn sie ist vorsichtig, aber nicht scheu und treibt ihr Wesen oft unbekümmert in den Zweigen der Obstbäume, während gerade unter ihr Menschen arbeiten. Sie hüpft wie die anderen Grasmücken in sehr gebückter Stellung leicht und schnell durch die Aeste hin, aber ebenso schwerfällig, schief und selten auf der Erde wie jene. Da sie mehr auf Bäumen als im Gebüsche lebt, so sieht man sie auch öfter als andere Arten von Baum [186] zu Baum selbst über größere freie Flächen fliegen; sie schnurrt dann schußweise fort, während sie im Wanderfluge eine regelmäßigere Schlangenlinie beschreibt.« Die Lockstimme ist ein schnalzendes »Täck täck«, der Warnungsruf ein schnarchendes »Rhahr«, der Angstruf ein schwer zu beschreibendes Gequak, der Ausdruck des Wohlbehagens ein sanftes, nur in der Nähe vernehmliches »Biwäwäwü«. Der Gesang gehört zu den besten, welche in unseren Wäldern oder Gärten laut werden. »Sobald das Männchen«, fährt Naumann fort, »im Frühlinge bei uns ankommt, hört man seinen vortrefflichen, aus lauter flötenartigen, sanften, dabei aber doch lauten und sehr abwechselnden Tönen zusammengesetzten Gesang, dessen lange Melodie im mäßigen Tempo und meistens ohne Unterbrechung vorgetragen wird, aus dem Grün der Bäume erschallen, und zwar vom frühen Morgen bis nach Sonnenuntergang, den ganzen Tag über, bis nach Johannistag. Nur in der Zeit, wenn das Männchen brüten hilft, singt es in den Mittagsstunden nicht, sonst zu jeder Tageszeit fast ununterbrochen, bis es Junge hat; dann macht die Sorge für diese öftere Unterbrechungen nothwendig. Während des Singens sitzt es bloß am frühen Morgen, wenn eben die Dämmerung anbricht, sonst selten und nur auf Augenblicke still in seiner Hecke oder Baumkrone, ist vielmehr immer in Bewegung, hüpft singend von Zweig zu Zweig und sucht nebenbei seine Nahrung. Der Gesang hat die längste Melodie von allen mir bekannten Grasmückengesängen und einige Aehnlichkeit mit dem der Mönchsgrasmücke, noch viel mehr aber mit dem der Sperbergrasmücke, dem er, bis auf einen durchgehends reineren Flötenton, vollkommen gleichen würde, wenn in jenem nicht einige weniger melodische oder unsanftere Stellen vorkämen.« Nach meinen Beobachtungen ist der Gesang je nach Oertlichkeit und Fähigkeit wesentlich verschieden. Am besten von allen Gartengrasmücken, welche ich kennen gelernt habe, singen die Ostthüringens. Eine Sperbergrasmücke, welche ihnen gleich gekommen wäre, habe ich nie gehört, wohl aber mehr als eine Gartengrasmücke, welche mit dem Mönche wetteifern durfte. Eine, welche meinem Vater in ergreifender Weise das Grablied sang und länger als zehn Jahre unseren Garten bewohnte, war die ausgezeichnetste Sängerin, der ich je gelauscht, und hat eine Nachkommenschaft hinterlassen, deren Lieder mich noch allsommerlich erquicken und entzücken, obgleich sie das unvergleichliche Vorbild nicht erreichen.

Hinsichtlich der Nahrung stimmt die Gartengrasmücke mit dem Mönche am meisten überein.

Das Nest steht bald tief, bald hoch über dem Boden, zuweilen in niederen Büschen, zuweilen auch auf kleinen Bäumchen, bei großer Wohnungsnoth sogar, wie Eugen von Homeyer auf Hiddensöe erfuhr und zweifellos feststellte, in Erdlöchern mit engem Eingange. Es ist unter allen Grasmückennestern am leichtfertigsten gebaut und namentlich der Boden zuweilen so dünn, daß man kaum begreift, wie er die Eier festhält. Zudem wird es sorglos zwischen die dünnen Aeste hingestellt, so daß es, wie Naumann versichert, kaum das oftmalige Aus- und Einsteigen des Vogels aushält oder vom Winde umgestürzt wird. »In der Wahl des Platzes sind die Gartengrasmücken so unbeständig, daß sie bald hier, bald da einen neuen Bau anfangen, ohne einen zu vollenden, und zuletzt häufig den ausführen, welcher, nach menschlichem Dafürhalten, gerade am unpassendsten Orte steht. Nicht allemal ist hieran ihre Vorsicht schuld. Wenn sie einen Menschen in der Nähe, wo sie eben ihr Nest zu bauen anfangen, gewahr werden, lassen sie den Bau gleich liegen; allein, ich habe auch an solchen Orten, wo lange kein Mensch hingekommen war, eine Menge unvollendeter Nester gefunden, welche öfters erst aus ein paar Dutzend kreuzweise hingelegten Hälmchen bestanden, und wo das eine nur wenige Schritte vom anderen entfernt war, und so in einem sehr kleinen Bezirke viele gesehen, ehe ich an das fertige mit den Eiern usw. kam. Die vielen, mit wenigen Hälmchen umlegten Stellen zur Grundlage eines Nestes, welche man beim Suchen nach Nestern in den Büschen findet, rühren oft von einem einzigen Pärchen her.« Das Gelege ist erst zu Ende des Mai vollzählig. Die fünf bis sechs neunzehn Millimeter langen, vierzehn Millimeter dicken Eier, welche es bilden, ändern in Farbe und Zeichnung außerordentlich ab, sind aber gewöhnlich auf trüb röthlichweißem Grunde mattbraun und aschgrau gefleckt und gemarmelt. Beide Geschlechter brüten, das Männchen aber nur in den Mittagsstunden. Nach vierzehntägiger Bebrütung schlüpfen die Jungen [187] aus, nach weiteren vierzehn Tagen sind sie bereits so weit entwickelt, daß sie das Nest augenblicklich verlassen, wenn ein Feind ihnen sich nähert. Allerdings können sie dann noch nicht fliegen, huschen und klettern aber mit so viel Behendigkeit durchs Gezweige, daß sie dem Auge des Menschen bald entschwinden. Die Eltern benehmen sich angesichts drohender Gefahr wie andere Mitglieder ihrer Familie, am ängstlichsten dann, wenn die Jungen in ihrem kindischen Eifer sich selbst zu retten suchen. Ungestört brütet das Pärchen nur einmal im Jahre.

Des ausgezeichneten Gesanges wegen wird die Gartengrasmücke häufig im Käfige gehalten, eignet sich hierzu ebenso gut wie irgend eine andere Art ihres Geschlechtes, wird leicht sehr zahm, singt fleißig und dauert bei guter Pflege zehn bis funfzehn Jahre in Gefangenschaft aus.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 186-188.
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