Sperbergrasmücke (Sylvia nisoria)

[181] Die größte aller in Deutschland lebenden Arten der Sippe ist die Sperbergrasmücke, auch Spanier genannt (Sylvia nisoria, Curruca und Philacantha nisoria, Adophoneus nisorius, undatus und undulatus, Nisoria undata und undulata). Ihre Länge beträgt achtzehn, ihre Breite neunundzwanzig, ihre Fittiglänge neun, ihre Schwanzlänge acht Centimeter. Die Oberseite des Gefieders ist olivenbraungrau, der Oberkopf etwas dunkler, der Bürzel und das Oberschwanzdeckgefieder mit schmalen weißen, innen schwärzlich gerandeten Endsäumen, das der Stirn und Augenbrauen mit äußerst schmalen weißlichen Spitzen geziert, das des Zügels grau, der Unterseite weiß, an den Kopf- und übrigen Körperseiten, an Kinn und Kehle mit schmalen dunklen Endsäumen, auf den Unterflügeln und Unterschwanzdecken mit dunklen Keilflecken gezeichnet; Schwingen und Schwanzfedern sind dunkelbraun, außen schmal fahlweiß, innen breiter weißlich gerandet, die Enden der Armschwingen und deren Deckfedern sowie der größten oberen Flügeldeckfedern, weißlich gesäumt, die äußersten drei Schwanzfedern innen am Ende breitweiß gefärbt. Die Iris ist citrongelb, der Schnabel hornbraun, unterseits horngelb, der Fuß lichtgelb. Das Weibchen unterscheidet sich durch mattere Färbung.

Vom südlichen Schweden an bewohnt oder besucht die Sperbergrasmücke Mittel- und Südeuropa, mit Ausschluß Großbritanniens, ebenso das westliche Asien und Nordchina, und wandert im Winter bis ins Innere Afrikas. In einzelnen Theilen unseres Vaterlandes, namentlich in den Auen und an buschigen Ufern größerer Flüsse, ist sie häufig, an anderen Orten fehlt sie gänzlich oder gehört wenigstens zu den größten Seltenheiten. Bei uns zu Lande erscheint sie nie vor dem letzten Tage des April, meist erst im Anfange des Mai und verweilt höchstens bis zum August in der Heimat. Zu ihrem Sommeraufenthalte wählt sie niederes Gebüsch, dabei mit Vorliebe Dickichte, verläßt dieselben aber, wenn sie zum Stangenholze heranwuchsen, um sich anderen, aus jungem Nachwuchse gebildeten zuzuwenden. Höhere Bäume besucht sie bloß während ihres Zuges.

Auf dem Boden bewegt sie sich schwerfällig, kommt daher auch selten zu ihm herab, fliegt dagegen, obschon ungern, recht gut und durchschlüpft das Gezweige mit überraschender Fertigkeit. Ihre Lockstimme ist ein schnalzendes »Tschek«, der Warnungslaut ein schnarchendes »Err«, der Gesang, gleichsam eine Zusammensetzung des Liedes der Garten- und der Dorngrasmücke, nach Oertlichkeit und Vogel verschieden, im allgemeinen wohllautend und reichhaltig, mit dem einer dem Gebirge entstammten Mönchsgrasmücke jedoch kaum zu vergleichen, auch dem unserer Gartengrasmücke [181] nachstehend, so sehr er diesem im ganzen ähneln mag. Der Pfiff des Pirols, der Schlag des Finken, der sogenannte Ueberschlag des Mönchs und andere, den umwohnenden Singvögeln abgeborgte Töne werden häufig eingewoben; das Schnarren oder Trommeln aber, welches der Sperbergrasmücke eigenthümlich ist und dem Gesange vorauszugehen pflegt, fällt unangenehm in das Ohr. Wie die meisten Verwandten ist auch die Sperbergrasmücke ein sehr fleißiger Sänger und deshalb ein wahrer Schatz für den Wald.


Sperber-, Garten- und Mönchsgrasmücke (Sylvia nisoria, hortensis und atricapilla). 1/2 natürl. Größe.
Sperber-, Garten- und Mönchsgrasmücke (Sylvia nisoria, hortensis und atricapilla). 1/2 natürl. Größe.

Sofort nach der Ankunft im Frühjahre wählt sich jedes Paar ein Gebiet und vertreibt aus ihm alle anderen, welche etwa eindringen. »Das Männchen«, sagt Naumann, »ruht, wenn ein anderes in seinen Bezirk kommt, nicht eher, bis es dasselbe mit grimmigen Bissen daraus vertrieben hat, und beide raufen sich oft tüchtig. Während das Weibchen das niedere Gebüsch durchkriecht, am Neste baut oder auf demselben sitzt, treibt sich das Männchen über ihm in den höheren Bäumen unruhig umher, singt, schreit und achtet darauf, daß kein Nebenbuhler kommt. Erscheint einer, so wird er sogleich angefallen und so lange verfolgt, bis er die Flucht ergreift.«

Das Nest steht im Dickichte oder in großen, natürlichen Dornhecken, meist ziemlich gut versteckt, in einer Höhe von einem Meter und mehr über dem Boden. Es unterscheidet sich in der Bauart nicht von dem allgemeinen Gepräge. Ende Mai oder Anfang Juni findet man in ihm vier bis sechs gestreckte, zwanzig Millimeter lange, vierzehn Millimeter dicke, zartschalige, wenig glänzende [182] Eier, welche gewöhnlich auf grauweißem Grunde mit hell aschgrauen und blaß olivenbraunen Flecken gezeichnet sind. Die Eltern bekunden am Neste das tiefste Mißtrauen und versuchen regelmäßig, sich zu entfernen, wenn sie ein Geschöpf bemerken, welches sie fürchten. Das Weibchen gebraucht im Nothfalle die bekannte List, sich lahm und krank zu stellen. Nähert man sich einem Neste, bevor es vollendet ist, so verlassen es die Alten gewöhnlich sofort und erbauen dann ein neues; sie verlassen selbst die bereits angebrüteten Eier, wenn sie merken, daß diese von Menschenhänden berührt wurden. Die Jungen bringen die Gewandtheit ihrer Eltern im Durchschlüpfen des Gebüsches, so zu sagen, mit auf die Welt, treten daher sehr bald selbständig auf und entfernen sich vom Neste, noch ehe sie ordentlich fliegen können. Ungestört brütet das Paar nur einmal im Jahre; es hat bei der Kürze seines Aufenthaltes in der Heimat zu mehreren Bruten kaum Zeit.

Die Nahrung besteht, wie bei alten Grasmücken, in Kerbthieren, welche auf Blättern und in Blütenleben, zumal Räupchen und Larven verschiedener, meist schädlicher Schmetterlinge und Käfer, Spinnen und allerlei Gewürm, im Herbste aber vorzugsweise in genießbaren Beeren aller Art, im Sommer wohl auch in Kirschen.

Bei geeigneter Pflege gewöhnt sich die Sperbergrasmücke im Gebauer ebenso gut und rasch ein wie ihre übrigen deutschen Verwandten, ist auch nicht anspruchsvoller als diese, singt bald fleißig und wird zuletzt sehr zahm.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 181-183.
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