Meistersänger (Sylvia orphea)

[183] Die zweitgrößte Grasmücke Europas ist der Meistersänger (Sylvia orphea, grisea, crassirostris und caniceps, Curruca orphea, musica, Helenae und Jerdoni, Philomela orphea, Bild S. 165). Ihre Länge beträgt siebzehn, die des Weibchens sechzehn, die Breite fünfundzwanzig, die Fittiglänge acht, die Schwanzlänge sieben Centimeter. Das Gefieder ist auf der Oberseite aschgrau, auf dem Rücken bräunlich überflogen, auf dem Scheitel und dem Nacken bräunlich oder mattschwarz, auf der Unterseite weiß, seitlich der Brust licht rostfarbig; die Schwingen und die Steuerfedern sind matt schwarzbraun; die schmale Außenfahne der äußersten Schwanzfeder ist weiß; die breite Innenfahne zeigt an der Spitze einen weißen keilförmigen Fleck von derselben Färbung, die zweite einen weißen Spitzenfleck. Das Auge ist hellgelb, der Oberschnabel schwarz, der Unterschnabel bläulichschwarz, der Fuß röthlichgrau, ein nackter Ring ums Auge blaugrau. Das Weibchen ist blasser gefärbt als das Männchen und namentlich die Kopfplatte lichter.

Der Meistersänger gehört dem Süden Europas an; seine Heimat beginnt im nördlichen Küstengebiete des Mittelmeeres, uns zunächst in Istrien oder der südlichen Schweiz. Da, wo in Spanien die Pinie ihre schirmförmige Krone ausbreitet, da, wo in den Fruchtebenen Johannisbrod-, Feigen- und Oelbäume zusammenstehen, wird man selten vergeblich nach ihm suchen. Unter gleichen Umständen lebt er in Griechenland oder auf der Balkanhalbinsel überhaupt, in Italien und Südfrankreich wie in Südrußland, hier wie dort als Sommergast, welcher hier zu Ende des März oder im Anfange des April erscheint und im September wieder verschwindet, in Spanien dagegen nicht vor Ende April, zuweilen erst Anfang Mai eintrifft und kaum länger als bis zum August im Lande verweilt. In Westasien ist er ebenfalls heimisch, in Kleinasien, Persien wie in Turkestan gemein, und auch in Gebirgslagen von zweitausend Meter Höhe noch Brutvogel. Deutschland und England soll er wiederholt besucht haben. Seine Winterreise dehnt er bis Mittelafrika und Indien aus: ich erlegte ihn in den Wäldern des Blauen Flusses; Jerdon beobachtete ihn als häufigen Wintergast in ganz Südindien.

Abweichend von anderen Grasmücken bevorzugt der Meistersänger höhere Bäume; in dem eigentlichen Niederwalde ist er von uns niemals beobachtet worden. Die Ebenen beherbergen ihn weit häufiger als die Gebirge; denn das bebaute üppige Land, welches regelmäßig bewässert wird, scheint ihm alle Erfordernisse zum Leben zu bieten. Sehr gern besiedelt er auch Kieferwälder. An derartigen Oertlichkeiten vernimmt man überall seinen Gesang, und hier sieht man, wenn man den Klängen vorsichtig nachgeht, das Paar in den höheren Baumkronen sein Wesen treiben. Auch der [183] Meistersänger ist mißtrauisch und vorsichtig, läßt sich ungern beobachten, sucht beim Herannahen des Jägers immer die dichtesten Zweige der Bäume auf und weiß sich hier so vortrefflich zu verstecken, daß er auf lange Zeit vollkommen unsichtbar ist.

Der Meistersänger verdient seinen Namen. Man hat den Werth seines Liedes beeinträchtigen wollen; soviel aber ist zweifellos, daß er selbst in seiner Familie einen hohen Rang einnimmt. Das Lied erinnert einigermaßen an den Schlag unserer Amsel, ist jedoch nicht so laut und wird auch nicht ganz so getragen gesungen. Alexander von Homeyer, welcher einen Meistersänger längere Zeit im Käfige hielt, sagt, daß er vorzüglicher sänge als irgend eine Grasmücke. »Der Gesang ist höchst eigenthümlich. Man wird ihn freilich nur für einen Grasmückengesang halten können, durch den ruhigen Vortrag melodisch zusammengefügter Strophen aber doch auch an einen Spöttergesang erinnert werden, indem er trotz seiner, nur den Grasmücken eigenen Rundung zeitweise das abgesetzte und schnalzende des Gartensängers hat. Besonders in der Fülle des Tons, sowie im allgemeinen in der Art des Vortrags gleicht dieser Gesang am meisten dem der Gartengrasmücke, ist aber lauter, mannigfaltiger, und großartiger. Bald ist der Ton gurgelnd, bald schmatzend, bald schäckernd, bald frei heraus von einer solchen Kraft und Fülle, daß er wahrhaft überrascht, während gerade die Gartengrasmücke immer einen und denselben Vortrag behält und aus ihren ruhigen Gurgel- und schnarrenden Tönen nicht herauskommt. Dabei werden die Töne und Strophen des Liedes so deutlich gegeben, daß man sie während des Singens nachschreiben kann, ohne sich übereilen zu müssen. Der Warnungslaut klingt schnalzend wie ›Jett, tscherr‹ und ›Truii rarara‹, der Angstruf, welcher schnell hinter einander wiederholt wird, wie ›Wieck wieck‹.« Einzelne Meistersänger nehmen auch Töne aus vieler anderer Vögel Liedern auf.

Die Nahrung besteht in entsprechendem Kleingethier, Früchten und Beeren seiner Heimat.

Die Brutzeit beginnt in der Mitte des Mai und währt bis zur Mitte des Juli; dann tritt die Mauser ein. Während der Paarungszeit sind die Männchen im höchsten Grade streitlustig, und wenn ihre Eifersucht rege wird, verfolgen sie sich wüthend. Das Nest steht hoch oben in der Krone der Bäume, ist gewöhnlich nicht versteckt, sondern leicht sichtbar, zwischen die Astspitzen gesetzt. In der Bauart unterscheidet es sich nur dadurch von anderen Grasmückennestern, daß es dickwandiger und nicht so lose gebaut ist. Inwendig sind manche Nester mit Rindenstreifen von Weinreben ausgelegt; Thienemann erwähnt eines, welches sogar mit Fischschuppen ausgekleidet war. Das Gelege besteht aus fünf feinschaligen, feinporigen und glänzenden Eiern, welche auf weißem oder grünlichweißem Grunde violettgraue Unter- und gelbbraune Oberflecken zeigen. Letztere können auch gänzlich fehlen. Das Weibchen scheint, nach Krüper, das Brutgeschäft allein zu übernehmen; das Männchen sitzt währenddem nicht in der Nähe, sondern in bedeutender Entfernung vom Neste und singt hier seine Lieblingslieder. Die Jungen werden noch einige Zeit nach dem Ausfliegen geführt und zwar von beiden Eltern; sobald aber die Mauser eintritt, lösen sich die Familien auf, und jedes einzelne Mitglied treibt sich nun allein umher.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 183-184.
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