Schlüpfgrasmücke (Sylvia provincialis)

[197] Aus vorstehender Schilderung ist mir deutlich hervorgegangen, daß die Schlüpfgrasmücke oder der Provencesänger (Sylvia provincialis, undata, ferruginea und dartfordiensis, [197] Motacilla provincialis und undata, Melizophilus provincialis und dartfordiensis, Ficedula ulicicola, Curruca, Thamnodus und Malurus provincialis), welche ich in Spanien sehr häufig beobachtet habe, als der nächste Verwandte des sardischen Sängers angesehen werden muß. Das Gefieder der Oberseite ist dunkel aschgrau, das der Unterseite dunkel weinroth, das der Kehle gilblichweiß gestreift; die Schwingen und Steuerfedern sind bräunlichgrau, die vier äußersten Schwanzfedern jederseits an der Spitze weiß gesäumt. Das Auge ist hell rothbraun, der Augenring ziegelroth, der Schnabel schwarz, an der Wurzel des Unterschnabels röthlich, der Fuß röthlichgrau. Die Länge beträgt dreizehn, die Breite sechzehn, die Fittiglänge fünf, die Schwanzlänge sechs Centimeter.

Es verdient hervorgehoben zu werden, daß der Sänger der Provence keineswegs bloß diese, Westfrankreich und das übrige Südeuropa oder Kleinasien und Nordafrika, sondern auch das südliche Großbritannien ständig bewohnt. Hier haust er in dem öde Tristen deckenden Stachelginster; in Spanien dagegen geben ihm die niederen Kieferdickichte, die mit der stattlichen Buschheide, den Cistenrosen bedeckten Nordabhänge der Gebirge Kataloniens, die mit dürftigem Gestrüpp kaum begrünten Einöden Valencias, die steppenartigen Ackerstücke Kastiliens, die Eichenwälder, Hecken, niederen Gebüsche, kurzum, der Buschwald im weitesten Sinne, Herberge. Kaum betritt man einen dieser Urwälder der kleinen Sängerschaft, so vernimmt man sein einfaches, aber gemüthliches Liedchen, welches nach Hansmanns Versicherung dem des Sardensängers aufs täuschendste ähnelt, und erblickt, wenn man glücklich ist, das rothgebrüstete Vögelchen auf der Astspitze eines Busches. Hier dreht und wendet es sich nach allen Seiten, spielt mit seinem Schwanze, den es bald stelzt, bald wieder niederlegt, sträubt die Kehle und singt dazwischen. Beim Herannahen des Jägers huscht es aber schnell wieder in das Dickicht, und ist dann auch dem schärfsten Auge zeitweilig verschwunden. Aber das währt nicht lange; denn immer und immer wieder erscheint es auf der Spitze des Kronentriebes einer Kiefer, auf dem höchsten Zweige eines Busches, sieht sich einen Augenblick um, stürzt wieder auf den Boden herab und huscht und läuft hier wie eine Maus dahin. Ist das Dickicht weniger filzig, so sieht man es ab und zu, doch nur einem Schatten vergleichbar; denn man gewahrt bloß einen eilig sich bewegenden Gegenstand. Nach einem Schusse oder einem anderen Geräusche erscheint es regelmäßig auf der Spitze eines Busches, doch nur um sich umzusehen: im nächsten Augenblicke ist es verschwunden. In seinem Betragen hat es mich oft an unsere Braunelle erinnert; es ist aber weit gewandter und behender als diese.

Besonders anmuthig erscheint der Sänger der Provence, wenn er seine Familie führt. Auch er beginnt schon in den ersten Monaten des Jahres mit seinem Brutgeschäfte, nistet aber zwei-, sogar dreimal im Laufe des Sommers und zieht jedesmal eine Gesellschaft von vier bis fünf Jungen heran. Sobald diese nur einigermaßen flugfähig sind, verlassen sie das Nest, auf ihre, vom ersten Kindesalter an bewegungsfähigen Füße sich verlassend. Den kleinen unbehülflichen Jungen wird es schwer, sich in die Höhe zu schwingen, und sie laufen deshalb ganz wie Mäuse auf dem Boden dahin. Aber die Alten fürchten, wie es scheint, gerade wegen ihres Aufenthaltes da unten in allem und jedem Gefahr und sind deshalb überaus besorgt. Abwechselnd steigt eines um das andere von den beiden Eltern nach oben empor, und unablässig tönt der Warnungs- und Lockruf des Männchens, dem die schwere Pflicht obliegt, die Familie zusammenzuhalten. Sind die Jungen etwas weiter entwickelt, so folgen sie den Alten auch in die Höhe, und es sieht dann köstlich aus, wenn erst das Männchen und hierauf eins der Jungen nach dem anderen auf den Buschspitzen erscheint und dann beim ersten Warnungsrufe die ganze Gesellschaft mit einem Male wieder in die Tiefe sich hinabstürzt. Man gewahrt nur noch eilfertiges Rennen, Laufen und Huschen, hört ab und zu das warnende »Zerr zerr« und endlich nichts mehr, bis das Männchen wieder nach oben kommt.

Das Nest ähnelt dem der Verwandten; die Eier sind etwa achten Millimeter lang, vierzehn Millimeter breit und auf grünlichweißem Grunde verschiedenartig lichter oder dunkler braun gefleckt.

[198] Die Laubsänger (Phylloscopinae) bilden eine zweite, etwa hundertundfunfzig Arten zählende, fast über die ganze Erde verbreitete Unterfamilie und kennzeichnen sich durch schlanken Bau, pfriemenförmigen, an der Wurzel abgeplatteten Schnabel, schwachen Fuß, mittellangen Flügel, meist etwas ausgeschnittenen Schwanz und blattfarbiges Gefieder.

Innerhalb ihrer Familie dürfen die Laubsänger als die Baumvögel bezeichnet werden. Die Wipfel der Bäume sind ihr Wohn- und Jagdgebiet. Hinsichtlich ihrer Begabungen stehen sie den Grasmücken wenig nach. Auch sie sind rege, lebhaft, gewandt und sangeskundig, aber doch nicht so vorzügliche Sänger wie jene. Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Gruppen ist im Nestbaue zu finden; denn die Laubsänger errichten stets mehr oder weniger künstliche Gebäude.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 197-199.
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