Alpenkrähe (Fregilus graculus)

[424] Die Alpenkrähe, Steinkrähe, Krähendohle, Gebirgs- oder Feuerrabe, Eremit, Klausrabe oder Thurmwiedehopf (Fregilus graculus, europaeus, erythropus und himalayanus, Corvus graculus, Gracula pyrrhocorax und eremita, Coracia gracula und erythrorhamphos, Pyrrhocorax rupestris), zeichnet sich durch lang gestreckten, dünnen und bogenförmigen Schnabel aus. Dieser ist, wie die mittelhohen, kurzzehigen Füße, prächtig korallroth gefärbt, das Auge dunkelbraun, das Gefieder gleichmäßig glänzend grün- oder blauschwarz. Die Länge beträgt vierzig, die Breite zweiundachtzig, die Fittiglänge siebenundzwanzig, die Schwanzlänge funfzehn Centimeter. Das Weibchen ist kaum kleiner, äußerlich überhaupt nicht vom Männchen zu unterscheiden. Die jungen Vögel lassen sich an ihrem glanzlosen Gefieder erkennen; auch sind bei ihnen Schnabel und Füße schwärzlich. Nach der ersten Mauser, welche bereits wenige Monate nach ihrem Ausfliegen beginnt, erhalten sie das Kleid der Alten.

Unsere europäischen Alpen in ihrer ganzen Ausdehnung, die Karpathen, der Balkan, die Pyrenäen und fast alle übrigen Gebirge Spaniens, auch einige Berge Englands und Schottlands und alle Gebirge vom Ural und Kaukasus an bis zu den chinesischen Zügen und dem Himalaya, ebenso die Kanarischen Inseln, der Atlas und die höchsten Berggipfel Abessiniens, namentlich Semiéns, beherbergen diesen in jeder Hinsicht anziehenden und beachtungswerthen Vogel. In den Schweizer Alpen ist er selten, in Spanien aber, wenigstens an vielen Orten, außerordentlich zahlreich. Dort bewohnt er nur das eigentliche Hochgebirge, einen Gürtel hart unter der Schneegrenze, und versteigt sich häufig bis in die höchsten Alpenspitzen; in Spanien begegnet man ihm schon an Felsenwänden,[424] welche bis zu höchstens zwei- oder dreihundert Meter über das Meer sich erheben. In den Rätischen Gebirgen nistete er noch vor funfzig Jahren in den Glockenstühlen und Sparren fast aller hochgelegenen Bergdörfer, während er gegenwärtig, meist infolge der Umgestaltung dieser Thürme, gezwungen in die Felsenwildnisse zurückgekehrt ist. Im höchsten Gürtel des Gebirges überwintert er nicht, wandert vielmehr im Oktober tiefer gelegenen Felswänden oder südlicheren Gegenden zu. Bei dieser Gelegenheit soll er in Scharen von vier- bis sechshundert Stück an den Hospizen erscheinen, bald aber wieder verschwinden.


Alpenkrähe (Fregilus graculus) und Alpendohle (Pyrrhocorax alpinus). 1/3 natürl. Größe.
Alpenkrähe (Fregilus graculus) und Alpendohle (Pyrrhocorax alpinus). 1/3 natürl. Größe.

Doch erhielt Stölker mitten im Winter eine in den höchsten Gebirgsthälern der Schweiz erlegte Alpenkrähe. In Spanien und wahrscheinlich ebenso in allen südlicheren Gebirgsländern ist diese Stand- oder höchstens Strichvogel; denn es mag wohl möglich sein, daß sie im Winter das Hochgebirge verläßt und in tiefere Thäler herabgeht. Das Tief- oder selbst das Hügelland besucht sie immer nur ausnahmsweise; doch habe ich selbst sie einmal im Winter in den Weinbergen oberhalb Mainz gesehen.

Nach unseren Beobachtungen erinnert die Alpenkrähe lebhaft an die Dohle, fliegt aber leichter und zierlicher und ist auch viel klüger und vorsichtiger als diese. Wenn man durch die Gebirge [425] Murcias oder Andalusiens reist, hört man zuweilen von einer Felsenwand tausendstimmiges Geschrei herniederschallen und glaubt, es zunächst mit unserer Thurmdohle zu thun zu haben, bis die Masse der Vögel sich in Bewegung setzt und man nun leicht an dem zierlicheren und rascheren Fluge, bei günstiger Beleuchtung wohl auch bei der weithin sichtbaren Korallfarbe des Schnabels, die Alpenkrähe erkennt. Beobachtet man die Thiere länger, so bemerkt man, daß sie mit einer gewissen Regelmäßigkeit auf den bestimmten Plätzen erscheinen und sie mit derselben Regelmäßigkeit wieder verlassen. In den frühesten Morgenstunden fliegen sie auf Nahrung aus, kehren gegen neun Uhr vormittags auf ihre Wohnplätze zurück, verweilen hier kürzere Zeit bis zur Tränke, suchen von neuem Nahrung und erscheinen erst in den heißen Mittagsstunden wiederum auf ihrer Felsenwand. Während der Mittagshitze halten sie sich in schattigen Felsenlöchern verborgen, beobachten aber genau die nächste Umgebung und lassen nichts verdächtiges vorüber, ohne es mit lautem Geschrei zu begrüßen. Vorbeistreichende Adler werden von der ganzen Bande streckenweise verfolgt und muthig angegriffen, jedoch mit sorgfältigster Berücksichtigung der betreffenden Art; denn vor dem gewandten Habichtsadler nehmen sich die klugen Vögel wohl in Acht, verbergen sich sogar vor ihm noch tiefer in ihre Felsenhöhlen, während sie sich um den Geieradler gar nicht kümmern. In den Nachmittagsstunden fliegen sie abermals auf Nahrung aus, und erst mit Sonnenuntergange kehren sie, nachdem sie nochmals sich getränkt haben, zu den Wohn- und Schlafplätzen der Gesellschaft zurück.

Eigenthümlich ist es, daß die Alpenkrähe nur gewisse Oertlichkeiten bewohnt und in anderen, scheinbar ebenso günstigen, fehlt. So findet sie sich, nach Bolle, nur auf Palma, auf keiner kanarischen Insel weiter. »Während dort zahlreiche Schwärme sowohl die heißen, grottenreichen Thäler des Küstengebietes wie die hochgelegenen, im Winter mit Schnee bedeckten Bergzinnen bevölkern, haben die in der Entfernung von wenigen Meilen dem Auge weithin sichtbaren, aus dem Meere auftauchenden Gebirgskämme von Teneriffa, Gomera und Ferro die Auswanderungslust dieser fluggewandten Bewohner der hohen Lüfte noch nie gereizt. Scheu, flüchtig und höchst gesellig beleben die Ansiedelungen der Alpenkrähen auf das angenehmste und fesselndste die entzückenden Land schaften jener unvergleichlichen Insel. Ihr Leben scheint ein immerwährendes, heiteres Spiel zu sein; denn man sieht sie einander fortwährend jagen und sich necken. Ein leichter, zierlich schwebender Flug voll der künstlichsten, anmuthigsten Schwenkungen zeichnet sie aus. Auf frisch beackerten Feldern fallen sie in Herden von tausenden nieder; auch an einsamen, aus den Felsen hervorsprudelnden Quellen sah ich sie oft zahlreich zur Tränke kommen.«

Erst wenn man beobachtet, welche Gegenstände die Alpenkrähe hauptsächlich zu ihrer Nahrung wählt, erkennt man, wie geschickt sie ihren bogenförmigen Schnabel zu verwenden weiß. Nach meinen Erfahrungen ist sie nämlich fast ausschließlich ein Kerbthierfresser, welcher nur gelegentlich andere Nahrung aufnimmt. Heuschrecken und Spinnenthiere, darunter Skorpionen, dürften in Spanien die Hauptmasse ihrer Mahlzeiten bilden, und dieser Thiere weiß sie sich mit größtem Geschicke zu bemächtigen. Sie hebt mit ihrem langen Schnabel kleinere Steine in die Höhe und sucht unter denselben die versteckten Thiere hervor, bohrt auch, wie die Saatkrähe, nach Kerfen in die Erde oder steckt ihren Schnabel unter größere Steine, deren Gewicht sie nicht bewältigen kann, um hier nach ihrer Lieblingsspeise zu forschen. Während der Brutzeit, beziehentlich der Aufzucht ihrer Jungen plündert sie auch wohl die Nester kleinerer Vögel und schleppt die noch unbehilflichen Jungen ihren hungrigen Kindern zu, und im Nothfalle bietet ihr sogar Aas erwünschte Kost.

Die Brutzeit fällt in die ersten Monate des Frühlings. In Spanien fanden wir zu Anfange des Juli ausgeflogene Junge. Das Nest selbst haben wir nicht untersuchen können; denn auch auf der iberischen Halbinsel behält die Alpenkrähe die löbliche Gewohnheit bei, die Höhlen unersteiglicher Felsenwände zu dessen Anlage zu wählen. Nach Girtanners neuesten Untersuchungen bestehen Ober- und Unterbau nur aus nach oben hin immer feiner werdenden Wurzelreisern einer oder sehr weniger Pflanzen; die Nestmulde aber ist mit einem äußerst dichten, festen, nicht unter [426] sechs Centimeter dicken Filz ausgekleidet, zu dessen Herstellung annähernd alle Säugethiere des Gebirges ihren Zoll an Haaren lassen mußten. Wollflecken vom Schafe sind mit Ziegen- und Gemshaaren, große Büschel weißer Hasenhaare mit solchen des Rindes sorgfältig ineinander verarbeitet worden. »Wo das Nest an den Fels sich anschmiegte, ist der Filz noch ziemlich hoch an ihm aufgethürmt worden, um Feuchtigkeit und Kälte möglichst vollkommen von Mutter und Kindern abzuhalten.« Die vier bis fünf Eier, welche auch in den Hochalpen bereits gegen Ende des April vollzählig zu sein pflegen, sind vierundvierzig Millimeter lang, neunundzwanzig Millimeter dick, und auf weißlichem oder schmutzig graugelbem Grunde mit hellbraunen Flecken und Punkten gezeichnet. Wie lange die Brutzeit währt, weiß man nicht. Wahrscheinlich brütet das Weibchen allein, während beide Eltern unter großem Geschreie und Gelärme das schwere Geschäft der Auffütterung ihrer Kinder theilen. Letztere verlassen das Nest gegen Ende des Juni, werden aber noch längere Zeit von ihren Eltern geleitet und unterrichtet.

Auch während der Brutzeit leben die Alpenkrähen in derselben engen Verbindung wie in den übrigen Monaten des Jahres. Sie sind gesellschaftliche Vögel im vollen Sinne des Wortes. Ganz ohne Neckereien geht es freilich nicht ab, und möglicherweise bestehlen sich auch die Genossen eines Verbandes nach bestem Können und Vermögen; dies aber ist Rabenart und stört die Eintracht nicht im geringsten. Bei Gefahr steht sich der ganze Schwarm treulich bei, und jeder beweist unter Umständen wirklich erhabenen Muth. So beobachteten wir, daß verwundete Alpenkrähen von den gesunden unter lautem Geschreie umschwärmt wurden, wobei letztere ganz unverkennbar die Absicht bekundeten, den unglücklichen Genossen beizustehen. Eine Alpenkrähe, welche wir flügellahm geschossen und aus dem Auge verloren hatten, fanden wir acht Tage später wieder auf, weil eine Felsenritze, in welcher sie sich versteckt hatte, fortwährend von anderen Mitgliedern der Ansiedelung umschwärmt wurde. Es unterlag für uns kaum einem Zweifel, daß dies nur in der Absicht geschah, die Kranke durch Zutragen von Nahrung zu unterstützen. Als Feinde, welche den behenden, klugen und vorsichtigen Vögeln schaden können, zählt Girtanner Wanderfalk, Habicht und Sperber, außerdem aber auch den Thurmfalken auf, welch letzterer sich namentlich der Nester gern bemächtigt und um einen Nistplatz oft lange und hartnäckig mit den Alpenkrähen streitet, jedoch auch deren unmündige Junge aus dem Neste hebt. Auch der Uhu mag manche alte, der Fuchs wie der Marder manche junge Alpenkrähe erwürgen.

Alle Raben sind anziehende Käfigvögel; kein einziger aber kommt nach meinem Dafürhalten der Alpenkrähe gleich. Sie wird unter einigermaßen sorgsamer Pflege bald ungemein zahm und zutraulich, schließt sich ihrem Pfleger innig an, achtet auf einen ihr beigegebenen Namen, folgt dem Rufe, läßt sich zum Aus-und Einfliegen gewöhnen und schreitet, entsprechend untergebracht und abgewartet, im Käfige auch zur Fortpflanzung. Ihre zierliche Gestalt und lebhafte Schnabel- und Fußfärbung, ihre gefällige Haltung, Lebhaftigkeit und Regsamkeit, Neugierde und Wißbegier, ihr Selbstbewußtsein, Lern- und Nachahmungsvermögen bilden unversiegliche Quellen für fesselnde und belehrende Beobachtung. Mit der Zeit wird sie zu einem Hausthiere im besten Sinne des Wortes, unterscheidet Bekannte und Fremde, erwachsene und unerwachsene Leute, nimmt Theil an allen Ereignissen, beinahe an den Leiden und Freuden des Hauses, befreundet sich auch mit anderen Hausthieren, sammelt allmählich einen Schatz von Erfahrungen, wird immer klüger, freilich auch immer verschlagener und bildet zuletzt ein beachtenswerthes Glied der Hausbewohnerschaft.

Ihre Haltung ist überaus einfach. Sie nährt sich zwar hauptsächlich von Fleisch, nimmt aber fast alle übrigen Speisen an, welche der Mensch genießt. Weißbrod gehört zu ihren Leckerbissen, frischer Käse nicht minder; sie verschmäht aber auch kleine Wirbelthiere nicht, obwohl sie sich längere Zeit abmühen muß, um eine Maus oder einen Vogel zu tödten und bezüglich zu zerkleinern. Schwache Vögel fällt sie mit großer Wuth an, und auch gleich starke, Heher und Dohlen z.B., mißhandelt sie abscheulich. Ihre Zuneigung beschränkt sich auf menschliche Wesen.


*


Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 424-427.
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