Schildrabe (Corvus scapulatus)

[436] Südlich des achtzehnten Grades nördlicher Breite begegnet man zuerst einem durch sein Gefieder sehr ausgezeichneten, kleinen, schwachschnäbeligen Raben, welcher weit über Afrika verbreitet ist und im Westen durch eine sehr nah verwandte Art vertreten wird: dem Schildraben (Corvus scapulatus, scapularis, dauricus, curvirostris, leuconotus, phaeocephalus und madagascariensis, Corax und Pterocorax scapulatus). Er ist glänzend schwarz, auf Brust und Bauch sowie am unteren Nacken aber, breit bandförmig gezeichnet, blendend weiß. Das dunkle Gefieder schillert, das lichte glänzt wie Atlas. Das Auge ist lichtbraun, der Schnabel und die Füße sind schwarz. Die Länge beträgt fünfundvierzig bis funfzig, die Fittiglänge fünfunddreißig, die Schwanzlänge sechzehn Centimeter.

[436] Das Verbreitungsgebiet des Schildraben erstreckt sich über Mittel- und Südafrika nebst Madagaskar und vom Meeresgestade bis zu viertausend Meter unbedingter Höhe. Im ganzen Sudân und auch in den Tiefebenen Abessiniens ist er eine regelmäßig vorkommende, wenn auch nicht gerade gemeine Erscheinung. Er tritt in der Ebene überall, im Gebirge dagegen an manchen Orten gar nicht auf. Ich habe ihn gewöhnlich paarweise gefunden. Zuweilen vereinigen sich übrigens mehrere Paare zu einer kleinen Gesellschaft, welche jedoch niemals längere Zeit zusammenbleibt. In größeren Scharen habe ich ihn nicht bemerkt. Hartmann sagt, daß ihn der Vogel nicht bloß durch seine Befiederung, sondern auch durch sein heiteres Wesen an die Elster erinnert habe: ich meinestheils glaube gefunden zu haben, daß er unseren Kolkraben mehr als allen übrigen Verwandten entspricht.

Sein Flug ist gewandt, leicht, schwebend und sehr schnell; dabei nimmt sich der Vogel prächtig aus. Die spitzigen Schwingen und der abgerundete Schwanz geben ihm beinahe etwas falkenartiges, und der weiße Brustfleck schimmert auf weit hin. Sein Gang ist ernst und würdevoll, aber doch leicht und fördernd, seine Stimme ist ein sanftes »Kurr«.

In allen Gegenden, wo der Schildrabe häufig ist, hat er sich mit dem Menschen befreundet. Scheu fand ich ihn nur in manchen Theilen der Samhara; doch war es auch hier mehr die fremdartige, ihm auffallende Erscheinung des Europäers als die Furcht vor dem Menschen überhaupt, welche ihn bedenklich machte.


Schildrabe (Corvus scapulatus). 3/10 natürl. Größe.
Schildrabe (Corvus scapulatus). 3/10 natürl. Größe.

Am Lagerplatze einer Karawane scheut er sich auch vor dem Europäer nicht mehr. In den Küstendörfern der Samhara ist er regelmäßiger Gast; im Dorfe Ed sah ich ihn auf den Firsten der Strohhütten sitzen wie die Nebel- oder Saatkrähe auf unseren Gebäuden. Sein Horst wird auf einzelnen Bäumen der Steppe oder des lichteren Waldes angelegt und enthält [437] in den ersten Monaten der großen Regenzeit drei bis vier Eier. Ich habe dieselben nicht gesehen, aber genügende Beschreibungen von ihnen erhalten. Sie scheinen denen der übrigen Raben in jeder Hinsicht zu ähneln. Gegen die Jungen zeigt sich das Elternpaar außerordentlich zärtlich, und muthvoll stößt es falkenartig auf den sich nahenden Menschen herab.

Im ganzen Ostsudân wie in Habesch wird der Schildrabe von dem Menschen geduldet oder, wenn man will, nicht beachtet. Als eigentlich unreinen Vogel betrachtet man ihn nicht; doch fällt es niemand ein, sich seiner zu bemächtigen und sein Fleisch zu benutzen. In Gefangenschaft benimmt er sich ganz ähnlich wie der Kolkrabe.


*


Die Krähen, welche man in einer besonderen Untersippe (Corone) vereinigen darf, unterscheiden sich von den Raben durch verhältnismäßig kleinen Schnabel, nur abgerundeten, nicht aber abgestuften Schwanz und sehr lockeres, wenig glänzendes Gefieder.

Zwei Arten dieser Gruppe, welche in unserem Vaterlande ständig vorkommen, gleichen sich in der Größe so vollständig, daß sie, gerupft, schwerlich zu unterscheiden sein dürften, paaren sich auch nicht selten unter einander, und sind deshalb seit geraumer Zeit der Zankapfel der Vogelkundigen gewesen. Einzelne von diesen vertreten mit aller Entschiedenheit die Ansicht, daß beide nur als klimatische Ausartungen eines und desselben Thieres zu betrachten seien; ich glaube mit derselben Entschiedenheit das Gegentheil behaupten zu dürfen, weil die Verbreitung der Vögel jener Annahme widerspricht.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 436-438.
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