Gebirgsstelze (Motacilla sulfurea)

[243] Zierlicher und anmuthiger noch als die Bachstelze ist die Gebirgsstelze, Wald-, Winter-, Frühlings-, Wasser- und Gilbstelze, Sticherling und Irlin (Motacilla sulfurea, boarula und melanopes, Calobates sulfurea), des längeren Schwanzes halber auch wohl als Vertreter einer Untersippe (Calobates) angesehen, ein reizender Vogel. Beim Männchen ist im Frühjahre die Oberseite aschgrau, die Unterseite schwefelgelb, die Kehle schwarz, von dem Grau der Oberseite durch einen weißen Streifen geschieden; ein anderer gleichfarbiger Streifen zieht sich über das Auge, zwei lichtgraue, wenig bemerkbare Binden laufen über die Flügel. Im Herbste sind die Farben [243] matter, und die Kehlfedern weißlich. Sehr alte Weibchen ähneln den Männchen; das Schwarz ihrer Kehle ist aber unrein und das Gelb der Unterseite matt; jüngere zeigen nur einen weißen oder schwarzgrauen Kehlflecken. Die Jungen sind auf der Oberseite schmutzig aschgrau, auf der Unterseite gelbgrau; die Kehle ist grauweiß, mit schwarzgrauen Punkten eingefaßt. Das Auge ist dunkelbraun, der Schnabel schwarz, der Fuß hornfarben. Die Länge beträgt zweihundertundzehn, die Breite zweihundertfünfundfunfzig, die Fittiglänge fünfundachtzig, die Schwanzlänge einhundertundfünf Millimeter.

Das Verbreitungsgebiet der Gebirgsstelze umfaßt ganz Europa von Südschweden an, den größten Theil Asiens und einige Gebirge Nord-, Ost- und Westafrikas, insbesondere den Atlas, das Hochland Abessiniens und die Hochländer der Westküste. Im nördlichen Europa gehört sie zu den Seltenheiten; von Mitteldeutschland nach Süden hin findet sie sich fast überall im Gebirge, bei uns zu Lande schon an jedem klaren Bache der Vorberge, einzeln selbst an solchen der Ebene, im Süden erst im höheren Gebirge. Auf den Kanarischen Inseln ist sie gemein. »Um die Lachen, zu denen der Bach des Thales unter der sommerlichen Glut zusammengeschrumpft ist«, schildert Bolle, »überfeinen Kiessand, trippelt hurtig ein Pärchen der Gebirgsstelze. Wir erkennen sie wieder, die freundliche Nachbarin der Forelle. Als wir Knaben waren und den Harzwald oder die Gebirge Schlesiens durchwanderten, haben wir sie zuerst kennen gelernt. Sie flog damals von einem moosigen Steine zum anderen, und die Tanne spiegelte sich in dem schnell fließenden Gewässer, über das sie dahinstrich. Nun ist es die Palme, welche ihr Bild hineinwirft. Hier auf den Inseln erscheint sie freilich auch am zahlreichen längs der Bäche, bedarf aber durchaus nicht immer des lebendig fließenden Elementes: eine einfache Cisterne oder ein Bewässerungsteich reicht hin, sie an die Nähe des Hauses oder Gartens zu fesseln, dem diese angehören. Selbst bei fast stets bedeckten Wasserbehältern liebt sie es, sich anzusiedeln, unstreitig durch die in der Luft verbreitete größere Kühlung und das häufigere Erscheinen von geflügelten Kerfen angelockt. Sie scheut daher auch die Nähe des Menschen durchaus nicht; im Gegentheile, keinen anderen Vogel sieht man hier häufiger auf den Dächern der Ortschaften, als die Gebirgsstelze.« Jerdon sagt, daß sie in Indien Wintergast ist, gegen Ende des September erscheint und bis zur ersten Woche des Mai im Lande verweilt, besonders häufig aber im Norden der Halbinsel auftritt.

Man kann kaum einen netteren Vogel sehen, als die zierliche, anmuthige Gebirgsstelze. Sie geht gleichsam geschürzt längs dem Wasser dahin oder an seichten Stellen in dasselbe hinein, hütet sich sorgfältig, irgend einen Theil ihres Leibes zu beschmutzen und wiegt sich beim Gehen wie eine Tänzerin. »Sie läuft«, sagt mein Vater, »mit der größten Schnelligkeit nicht nur an den Ufern, sondern auch in seichten Wässern, wenn es ihr nicht bis an die Fersen geht, in Schleusen, auf den Dächern und auf nassen Wiesen herum, wobei sie den Körper und Schwanz wagerecht, letzteren oft auch etwas aufrecht hält, um ihn sorgfältig vor Nässe zu bewahren. Sitzt sie aber auf einem Baume, Wasserbette, Steine oder sonst auf einem erhöhten Gegenstande, so richtet sie ihren Leib hoch auf und läßt ihren Schwanz schief herabhängen. Ihr Flug ist ziemlich schnell und leicht, absatzweise bogig, er geht oft lange Strecken in einem fort. Ich erinnere mich, daß sie Viertel- oder halbe Wegstunden weit in einem Zuge an einem Bache hinflog, ohne sich niederzulassen. Sie thut dies besonders im Winter, weil sie in der rauhen Jahreszeit ihre Nahrung in einem größeren Gebiete zusammensuchen muß. In der warmen Jahreszeit fliegt sie, wenn sie aufgescheucht wird, selten weit. Sie ist sehr zutraulich, nistet bei den Häusern, oft in ihren Mauern, und läßt einen Menschen, welcher sich nicht um sie bekümmert, nahe an sich vorübergehen, ohne zu entfliehen. Bemerkt sie aber, daß man ihr nachstellt, wird sie so scheu, daß sie sich durchaus nicht schußgerecht ankommen läßt, wenn sie nicht hinterschlichen wird. Ihr Lockton, den sie hauptsächlich im Fluge, seltener aber im Sitzen hören läßt, hat sehr viel Aehnlichkeit mit dem der Bachstelze, so daß man beide Arten genau kennen muß, wenn man sie genügend unterscheiden will. Er klingt fast wie ›Ziwi‹, es ist aber unmöglich, ihn mit Buchstaben genau zu bezeichnen.«

[244] Auch die Gebirgsstelze brütet zeitig im Frühjahre, das erste Mal schon im April, das zweite Mal spätestens im Juli. Bei der Paarung setzt sich das Männchen auf einen Zweig oder eine Dachfirste, hoch oder tief, auf ein Wehr oder einen Stein usw. und gibt einen trillerartigen Ton von sich, welcher fast wie »Törrli« klingt und besonders in den ersten Morgenstunden gehört wird. Fliegt es auf, dann flattert es mit den Flügeln, setzt sich aber bald wieder nieder. Es hat gewisse Plätze, gewisse Bäume, Häuser und Wehre, auf denen es im März und im Anfang des April alle Morgen sitzt und seine einfachen Töne hören läßt. Im Frühjahre vernimmt man auch, jedoch selten, einen recht angenehmen Gesang, welcher mit dem der Bachstelze einige Aehnlichkeit hat, aber hübscher ist. Das Nest steht in Felsen-, Mauer- und Erdlöchern, unter überhängenden Ufern, in Mühlbetten, im Gewurzel usw., regelmäßig nahe am Wasser, richtet sich hinsichtlich seiner Größe nach dem Standorte und ist dementsprechend bald größer, bald kleiner, aber auch bald dichter, bald lockerer, bald mehr, bald weniger gut gebaut. Die äußere Lage besteht aus Würzelchen, Reisern, dürren Blättern, Erdmoose und dergleichen, die zweite Lage aus denselben, aber feiner gewählten Stoffen, die innere Ausfütterung aus zarten Würzelchen, Borsten, Pferdehaaren und Wolle. Die vier bis sechs Eier sind achtzehn Millimeter lang und dreizehn Millimeter dick, auf grauschmutzigem oder bläulich weißem Grunde mit gelben oder aschgrauen Flecken und Strichelchen gezeichnet, gewässert und geadert. Das Weibchen brütet allein; doch kommt es ausnahmsweise vor, daß das Männchen es ablöst. Der Bruteifer der Mutter ist so groß, daß es sich mit der Hand ergreifen läßt. Die Jungen werden von beiden Eltern reichlich mit Nahrung versehen, sehr geliebt und nach dem Ausfliegen noch eine Zeit lang geführt und geleitet.

Gefangene Gebirgsstelzen übertreffen alle Verwandten an Anmuth und Lieblichkeit, zieren jedes größere Gebauer im höchsten Grade und dauern bei einigermaßen entsprechender Pflege recht gut aus.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 243-245.
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