Sporenstelze (Motacilla citreola)

[245] Vom Nordosten Europas her hat sich eine der schönsten, wenn nicht die schönste aller Stelzen, die Sporenstelze, wie wir sie nennen wollen (Motacilla citreola, citrinella und aureocapilla, Budytes citreola), wiederholt nach Westeuropa und so auch nach Deutschland verflogen. Sie ist merklich kleiner, namentlich kürzer, als die Gebirgsstelze; ihre Länge beträgt achtzehn, die Fittiglänge neun, die Schwanzlänge acht Centimeter. Kopf und ganze Unterseite, ausschließlich der weißen Unterschwanzdecken, sind lebhaft citrongelb, Nacken und Vorderrücken schwarz, allmählich in das Schiefergraue der übrigen Oberseite übergehend, die oberen Schwanzdecken braunschwarz, wie der Rücken schwach gelblichgrün angeflogen, die Schwingen dunkel graubraun, außen schmal, die Armschwingendecken außen und die größten oberen Flügeldecken am Ende breit weißlich gerandet, wodurch ein deutlicher weißer Flügelfleck entsteht, die acht mittelsten Schwanzfedern braunschwarz, die beiden äußersten weiß mit breitem schwarzen Innenrande. Das Auge ist tiefbraun, der Schnabel schwarz, der Fuß bräunlichschwarz. Das Weibchen unterscheidet sich durch das lichtere Gelb der Unterseite, den grünlichen Hinterkopf und die aschgraue Oberseite.

Die Sporenstelze ist ein Kind der Tundra, lebt in Europa aber nur in dem nordöstlichsten Winkel, im unteren Petschoragebiete. Von hier aus erstreckt sich ihr Verbreitungsgebiet durch ganz Nordasien, soweit die Tundra reicht; den Winter scheint sie in dem südlichen Steppengebiete Asiens zu verbringen; doch fehlen hierüber Beobachtungen. Auf ihrem Brutgebiete erscheint sie mit den Schafstelzen in der zweiten Hälfte des April und verweilt bis zu Ende des August im Lande. In Ostasien soll sie in großen Scharen wandern; in Westsibirien begegneten wir nur kleinen Flügen, welche auf der Reise begriffen waren, später aber in der Tundra der Samojedenhalbinsel vielen brütenden Paaren. Diese bewohnen ganz bestimmte Oertlichkeiten der Tundra: auf moorig-schlammigem Grunde wachsende, bis zur Undurchdringlichkeit verfilzte Wollweidendickichte, zwischen denen Wassergräben verlaufen oder Wasserbecken und ebenso von üppig aufschießenden Gräsern übergrünte Stellen sich befinden. Hier wird man den schönen Vogel nie vermissen, während man sonst tagelang die Tundra durchwandern kann, ohne einem einzigen Paare zu begegnen.

[245] Wie in Gestalt und Färbung, ist die Sporenstelze auch im Sein und Wesen ein Mittelglied zwischen Gebirgs- und Schafstelze, steht der letzteren aber näher als der ersteren. Sie geht schafstelzenartig und ähnelt dieser, unzweifelhaft ihrer nächsten Verwandten, auch im Fluge mehr als der Gebirgsstelze, da die Bogen, welche sie beschreibt, ziemlich flach zu sein pflegen. Gern bäumt sie auf den obersten Strauchspitzen, und das Männchen läßt von hier aus einen kurzen Gesang hören, welcher zwar dem einfachen Liedchen der Schafstelzen ebenfalls ähnelt, sich aber doch durch bestimmte, etwas schärfer klingende Töne und den ganzen Bau der Strophe unterscheidet, ohne daß ich im Stande wäre, dies mit Worten zu versinnlichen. Als nahe Verwandte der Schafstelze erweist sie sich auch durch ihre Verträglichkeit. Auf günstigen Brutstätten wohnt ein Paar dicht neben dem anderen, jedenfalls so nahe neben dem benachbarten, daß das singende Männchen jeden Ton des anderen hören muß; gleichwohl habe ich nie gesehen, daß ihrer zwei miteinander gehadert hätten.


Sporenstelze, Schafstelze (Motacilla citreola und flava) und Wiesenpieper (Anthus pratensis). 1/2 natürl. Größe.
Sporenstelze, Schafstelze (Motacilla citreola und flava) und Wiesenpieper (Anthus pratensis). 1/2 natürl. Größe.

Das Nest steht, wie wir durch Dybowski und später durch Seebohm erfuhren, gut versteckt unter deckenden Büscheln vorjährigen Grases oder niedrigen Gebüschen, auch wohl im Moose des [246] vertorften Grundes, in jedem Falle höchst sorgfältig verborgen und durch das während der Brutzeit rasch emporschießende Gras allen Blicken entzogen. Moosstengel, welche mit trockenen Grashalmen vermengt werden, bilden die Außenwandungen, Moosfruchtstiele, Federn und Renthierhaare die innere Auskleidung des dickwandigen und regelmäßigen Baues. Da die Tundra nicht vor den ersten Tagen des Juni schneefrei wird, legt das Weibchen erst um diese Zeit seine fünf, seltener sechs, neunzehn oder zwanzig Millimeter langen, vierzehn Millimeter dicken, auf weißgelbem Grunde mit kleinen rostfarbigen, sehr blassen und undeutlichen Fleckchen gleichförmig bezeichneten Eier, bebrütet sie sodann aber, mit dem Männchen abwechselnd, um so eifriger. Wenn einer der Gatten brütet, hält der andere Wache und warnt bei Gefahr. Auf dieses Zeichen hin verläßt der Brutvogel das Nest zu Fuße, und indem beide fliegen, trachten sie, den Feind abzuführen. Geht die Gefahr glücklich vorüber, so kehren sie, jedoch nicht sogleich und auch dann noch mit großer Vorsicht, zum Neste zurück, um dieses ja nicht zu verrathen. Aus diesem Grunde ist es für den Forscher schwierig, die Brutstätte aufzufinden und gelingt eigentlich nur bei schwachem Regen, während dessen das Weibchen nicht gern die Eier verläßt und dann beinahe unter den Füßen des herannahenden Feindes auffliegt. Gegen Ende des Juli sind die Jungen bereits dem Neste entschlüpft, im Anfange des August die Alten schon in voller Mauser, und unmittelbar darauf, spätestens in den letzten Tagen dieses Monats, verlassen sie die Heimat.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 245-247.
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