Heidelerche (Alauda arborea)

[260] Unsere liebliche Heidelerche, Baum-, Busch-, Wald-, Holz-, Dull- und Lullerche, Wald- oder Heidenachtigall (Alauda arborea, nemorosa, cristatella und anthirostris, Galerita nemorosa und musica, Lullula und Chorys arborea, Bild S. 259), ihres zarten Schnabels, der kleinen Füße, großen, runden, breiten Flügel und der kurzen Holle halber auch wohl als Vertreter einer gleichnamigen Untersippe (Chorys) angesehen, ist die kleinste in Deutschland brütende Art ihrer Familie. Ihre Länge beträgt einhundertdreiundfunfzig bis einhundertachtundfunfzig, ihre Breite durchschnittlich zweihundertundneunzig, ihre Fittiglänge neunzig, ihre Schwanzlänge vierundfunfzig Millimeter. Obertheile und Flügel sind rostfahlbraun, die Bürzelfedern mehr graubraun, Oberkopf, Mantel und Schultern mit breiten schwarzbraunen Schaftflecken, die rostweißlichen, seitlich bräunlichen Untertheile auf Kropf und Brust mit schmalen, scharfen, auf den Leibesseiten mit undeutlichen Schaftstrichen, die Kehlfedern mit dunklen Punktflecken geziert, Zügel und Schläfenstrich rostweißlich, die Schwingen braunschwarz, die der Hand mit schmalen, rostfahlen, die des Armes mit breiteren roströthlichen Außensäumen, die Handschwingdecken außen vor dem rostweißen Ende mit dunkelbraunen Flecken gezeichnet, die mittleren beiden Schwanzfedern braun, breit rostbraun gerandet, die übrigen schwarz mit weißer Spitze, welche Färbung auf der äußersten ins Blaßbräunliche übergeht und sich verbreitert. Das Auge ist dunkelbraun, der Schnabel hornbraun, unterseits roth, der Fußlichter hornbraun.

Ganz Europa vom mittleren Schweden an und Westasien beherbergen diesen liebenswürdigen Vogel. Aber er beschränkt seinen Aufenthalt mehr als andere Lerchen; denn er gehört den ödesten Heide-und Waldgegenden an. »In den fruchtbaren Feldern weiter Ebenen«, sagt mein Vater, welcher sie besser als jeder andere geschildert hat, »in den üppigen Laubgehölzen oder in den hochstämmigen Nadelwäldern sucht man die Heidelerche vergebens. Lehden, grasarme Schläge und Bergebenen bis hoch hinauf, wo wenig andere Vögel hausen, sind ihre Wohnplätze. Nach der Brutzeit kommt sie mit ihren Jungen auf die gemähten Wiesen, und auf dem Zuge besucht sie die Brach- und Stoppelfelder der ebenen Gegenden; denn sie macht auf der Wanderung kleine Tagereisen, weil sie Zeit haben muß, die ihr spärlich zugemessene, in kleinen Käfern und winzigen Sämereien bestehende Nahrung aufzusuchen. Sobald der Schnee auf den Bergen geschmolzen ist, in der letzten Hälfte des Februar, kehrt sie von ihrer Wanderung, welche gewöhnlich schon in Südeuropa endet, aber auch bis Afrika sich erstreckt, zurück in unser Vaterland und nimmt ihren alten Wohnplatz wieder ein. Ich habe sie mehrmals im März vormittags über unseren beschneiten Bergen fröhlich singen hören und stets gefunden, daß der Schnee in den Mittagsstunden wegthauete.

In ihrem Betragen ist sie ein allerliebstes Thierchen, rasch und gewandt in ihren Bewegungen; da, wo sie geschont wird, zahm und zutraulich, wo sie Verfolgung erfährt oder auch nur fürchtet, vorsichtig und scheu. Sie läuft hurtig mit kleinen Schritten, etwas emporgerichteter Brust und kleiner Holle, und nimmt sich dabei sehr gut aus. Kommt ein Sperber oder Baumfalk in ihre Nähe, so drückt sie sich, d.h. legt sich platt auf den Boden und gewöhnlich so geschickt in eine kleine Vertiefung, daß sie äußerst schwer zu sehen ist und gewöhnlich der ihr drohenden Gefahr entgeht. Sie setzt sich aber nicht nur, wie ihre Verwandten, fast immer auf den Boden, sondern auch auf die Wipfel und freistehenden Aeste der Bäume: daher ihr Name ›Baumlerche‹. Im Frühjahre lebt sie paarweise; weil es aber mehr Männchen als Weibchen gibt, so fehlt es nicht an heftigen Kämpfen, in denen der Eindringling gewöhnlich in die Flucht geschlagen wird. Bei der Paarung zeigt das Männchen seine ganze Liebenswürdigkeit. Es läuft nahe um sein Weibchen herum, hebt den ausgebreiteten Schwanz etwas in die Höhe, richtet die Holle hoch empor, und macht allerliebste Verbeugungen, um ihm seine Ergebung und Zärtlichkeit zu bezeugen.

Ihr zierliches Nest findet man nach der Beschaffenheit der Frühlingswitterung früher oder später, zuweilen schon in den letzten Tagen des März, unter einem Fichten- oder Wacholderbusche oder im Grase. Es ist in einer gescharrten, von Zweigen nicht überdeckten Vertiefung aus zarten, dürren Grashalmen und Grasblättern gebaut, tiefer als eine Halbkugel und inwendig sehr glatt [261] und schön ausgelegt. Das Gelege zählt vier bis fünf, selten drei, zwanzig Millimeter lange, funfzehn Millimeter dicke, weißliche, mit grau- und hellbraunen Punkten und Fleckchen dicht bestreute Eier, welche das vom Männchen mit Nahrung versorgte Weibchen allein, aber mit größter Hingebung ausbrütet. Nach der ersten Brut führen beide Eltern ihre Jungen nur kurze Zeit; denn sie machen bald zu einer zweiten Brut Anstalt. Nach dieser vereinigen sie sich mit allen ihren Kindern in eine kleine Gesellschaft und wandern entweder familienweise oder in Flügen, welche aus zwei oder mehreren Familien bestehen, die sich zusammengefunden haben. Sie verlassen uns in der letzten Hälfte des Oktober oder zu Anfang des November.

Das herrlichste an der Heidelerche ist ihr vortrefflicher Gesang. Man ist auf einer Fußreise begriffen und befindet sich in einer öden Gegend, in welcher viel leicht nicht einmal eine Aussicht in eine schöne Ferne für den Anblick der ärmlichen Pflanzenwelt entschädigen kann. Alles Thierleben scheint gänzlich erstorben. Da erhebt sich die liebliche Heidelerche, läßt zuerst ihren sanften Lockton ›Lullu‹ hören, steigt in die Höhe und schwebt, laut flötend und trillernd, halbe Stunden lang unter den Wolken umher, oder setzt sich auf einen Baum, um dort ihr angenehmes Lied zu Ende zu führen. Noch lieblicher aber klingt dieser Gesang des Nachts. Wenn ich in den stillen Mitternachtsstunden ihren ärmlichen Wohnplatz durchschritt, in weiter Ferne eine Ohreule heulen oder einen Ziegenmelker schnurren, oder einen nah vorüberfliegenden Käfer schwirren hörte und mich so recht einsam in der öden Gegend fühlte, war ich jederzeit hoch erfreut, wenn eine Heidelerche emporstieg und ihren schönen Triller erschallen ließ. Ich blieb lange stehen und lauschte auf diese gleichsam vom Himmel kommenden Töne. Gestärkt setzte ich dann meinen Wanderstab weiter. Ich weiß recht gut, daß die Heidelerche zu singen anfing, weil ein innerer Drang sie dazu trieb, und sie ihr Weibchen durch ihren Gesang unterhalten und erfreuen wollte; allein es schien mir, als sei sie emporgestiegen, um mir, ihrem alten Freunde, ihre Aufmerksamkeit zu beweisen und ihm die Einsamkeit zu versüßen.«

Die Heidelerche kann sich hinsichtlich ihres Gesanges mit der Nachtigall nicht messen, und dennoch ersetzt sie diese. Das Lied der Nachtigall erklingt nur während zweier Monate: die Heidelerche aber singt von Anfang des März bis zum August und nach der Mauser noch in der letzten Hälfte des September und in der ersten des Oktober, und sie singt in den öden, armen Gegenden, im Gebirge, wo außer ihr nur wenige andere gute Sänger wohnen, da, wo sie lebt, kaum ein einziger! Sie ist der Liebling aller Gebirgsbewohner, der Stolz der Stubenvögelliebhaber, die Freude des während der ganzen Woche an die Stube gefesselten, in ihr gefangen gehaltenen Handwerkers; sie verdient reichlich alle Liebe, welche ihr wird, allen Ruhm, welcher sie umstrahlt. Leider nimmt sie nicht an Zahl zu wie Feld- und Haubenlerche, vielmehr in beklagenswerther Weise ab, ohne daß man dafür einen durchschlagenden Grund anzugeben wüßte.


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Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 260-262.
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