Siebenundzwanzigste Familie: Meisen (Paridae)

[539] Eine ziemlich scharf umgrenzte Familie bilden die Meisen (Paridae). Ihr Schnabel ist kegelförmig, gerade und kurz, auf der Firste gerundet, an den Seiten zusammengedrückt, an den Schneiden scharf; die Füße sind stark und stämmig, die Zehen mittellang und kräftig, die Nägel verhältnismäßig groß und scharf gekrümmt, die Flügel, unter deren Schwingen die vierte und fünfte die Spitze bilden, kurz und gerundet; der Schwanz ist meist kurz und dann gerade abgeschnitten oder nur wenig ausgeschweift, zuweilen aber auch lang und dann stark abgestuft, das Gefieder dicht, weich und lebhaft gefärbt.

Die Familie verbreitet sich über den ganzen Norden der Erde, tritt aber auch im indischen, äthiopischen und australischen Gebiete auf. Einige zu ihr gehörige Arten zählen zu den Wander-, andere zu den Stand- oder zu den Strichvögeln, welche zu gewissen Zeiten in zahlreicher Menge durch das Land ziehen, doch ihre Reisen niemals weit ausdehnen, sich vielmehr immer nur in einem sehr beschränkten Gebiete bewegen. Ihr eigentliches Wohn- und Jagdgebiet ist der Wald; denn fast sämmtliche Arten leben ausschließlich auf Bäumen und Sträuchern und bloß wenige mehr im Röhrichte als im Gebüsche. Sie vereinigen sich nicht bloß mit ihresgleichen, sondern auch mit anderen Arten ihrer Familie, unter Umständen selbst mit fremdartigen Vögeln, in deren Gesellschaft sie dann tage- und wochenlang verbleiben können.

Ihr Wesen und Treiben ist höchst anziehend. Sie gehören zu den lebendigsten und beweglichsten Vögeln, welche man kennt. Den Tag über sind sie keinen Augenblick ruhig, vielmehr fortwährend beschäftigt. Sie fliegen von einem Baume zum anderen und klettern ohne Unterlaß auf den Zweigen umher; denn ihr ganzes Leben ist eigentlich nichts anderes als eine ununterbrochene Jagd. Ihre Begabungen müssen als vielseitig bezeichnet werden. Auf dem Boden sind sie freilich recht ungeschickt, verweilen deshalb hier auch niemals lange, sondern kehren immer bald wieder zu den Zweigen zurück. Hier hüpfen sie gewandt hin und her, hängen sich geschickt nach unten an, wissen in den allerverschiedensten Stellungen sich nicht bloß zu erhalten, sondern auch zu arbeiten, klettern recht gut und zeigen sich im Durchschlüpfen und Durchkriechen dichtverflochtener Stellen ungemein behend. Der Flug ist schnurrend, kurzbogig und scheinbar sehr anstrengend; die meisten Arten fliegen deshalb auch nur selten weit, vielmehr gewöhnlich bloß von einem Baume zum anderen. Die Stimme ist ein feines Gezwitscher, welches dem Pfeifen der Mäuse nicht unähnlich ist und fortwährend, scheinbar ohne alle Veranlassung, ausgestoßen wird.

Viele Meisen verzehren neben Kerbthieren auch Sämereien; die Mehrzahl dagegen hält sich ausschließlich an erstere und jagt vorzugsweise kleineren Arten, noch mehr aber deren Larven und Eiern nach. Gerade hierin liegt die Bedeutung dieser Vögel für das Gedeihen der Bäume, welche [539] wir die unserigen nennen. Die Meisen brauchen wegen ihrer ewigen Regsamkeit eine verhältnismäßig sehr große Menge von Nahrung. Sie sind die besten Kerbthiervertilger, welche bei uns leben. Wenig andere Vögel verstehen so wie sie die Kunst, ein bestimmtes Gebiet auf das gründlichste zu durchsuchen und die verborgensten Kerbthiere aufzufinden. Regsam und unermüdlich, gewandt und scharfsinnig, wie sie sind, bleibt ihnen wenig verborgen und unerreichbar. Sie sind die treuesten aller Waldhüter, weil sie in einem bestimmten Gebiete verweilen und zu jeder Jahreszeit ihrem Berufe obliegen. Der Nutzen, welchen sie bringen, läßt sich unmöglich berechnen; zu viel ist aber gewiß nicht gesagt, wenn man behauptet, daß eine Meise während ihres Lebens durchschnittlich täglich an tausend Kerbthiere vertilgt. Darunter sind sicherlich viele, welche unseren Bäumen keinen Schaden zufügen; die meisten Eier aber, welche die Meisen auflesen und zerstören, würden sich zu Kerfen entwickelt haben, deren Wirksamkeit eine durchaus schädliche ist. Jeder vernünftige Mensch sollte nach seinen Kräften mithelfen, so nützliche Vögel nicht bloß zu schützen, sondern auch zu hegen und zu pflegen, ihnen namentlich Wohnstätten zu gründen im Walde, indem er alte, hohle Bäume ihretwegen stehen läßt oder ihnen durch Aufhängen von Brutkästen behülflich ist. Das größte Uebel, an welchem unsere deutschen Meisen leiden, ist Wohnungsnoth; dieses Uebel aber nimmt, falls nicht Gegenmaßregeln getroffen werden, in stetig sich steigerndem Umfange zu und schadet dem Bestande der nützlichen Vögel mehr als alle Feinde, einschließlich des Menschen, zusammen genommen schaden konnten. Zum Glücke für den Wald vermehren sie sich sehr stark; denn sie legen größtentheils zweimal im Jahre und jedesmal sieben bis zwölf Eier. Die zahlreiche Brut, welche sie heranziehen, ist schon im nächsten Frühjahre fortpflanzungsfähig.

Im Käfige sind viele Meisen höchst unterhaltend. Sie gewöhnen sich überraschend schnell an die Gefangenschaft, werden aber selten eigentlich zahm. Mit anderen Vögeln darf man sie nicht zusammensperren; denn sie überfallen selbst die größeren mörderisch, klammern sich auf ihrem Rücken fest, tödten sie durch Schnabelhiebe, brechen ihnen die Hirnschale auf und fressen das Gehirn der erlegten Schlachtopfer mit derselben Begierde, mit welcher ein Raubvogel seine Beute verzehrt.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 539-540.
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