Achtundzwanzigste Familie: Spechtmeisen (Sittidae)

[554] Spechtmeisen oder Kleiber (Sittidae) nennen wir eine aus ungefähr dreißig Arten bestehende Familie, deren Merkmale die folgenden sind. Der Schnabel ist mittellang, keilkegelförmig und spitzig, auf der Firste gerade, an der Dillenkante seicht gewölbt, der kurzläufige und sehr langzehige Fuß mit großen, spitzigen, stark gekrümmten Nägeln bewehrt, der Fittig, unter dessen Schwingen die dritte und vierte die Spitze bilden, breit und stumpf, der Schwanz kurz und breit, das Gefieder reichhaltig und weich. Die Zergliederung ergibt, laut Nitzsch, große Uebereinstimmung mit anderen Singvögeln. Die Wirbelsäule besteht aus zwölf Hals-, acht Rippen- und sieben Schwanzwirbeln. Die Hinterglieder zeigen auch im Gerippe ihre bedeutende Entwickelung. Luftführend sind nur die Hirnschale und die Oberarmknochen. Die Zunge ist lang, aber nicht wurmartig, breit, niedrig, oben gefurcht, vorn stumpf gespalten und in mehrere Fasern zerrissen, reicht in ihrer gewöhnlichen Lage bis zur halben Schnabellänge hervor, läßt sich jedoch über die Schnabelspitze vorstrecken. Der Vormagen ist kurz, der Magen fleischig.

Die Spechtmeisen fehlen, so weit bis jetzt bekannt, in Mittel- und Südafrika wie in Südamerika, beherbergen vorzugsweise, aber nicht ausschließlich Waldungen und klettern an den [554] Bäumen auf und nieder oder laufen an den steilsten Felsenwänden auf und ab. Vielleicht sagt man nicht zu viel, wenn man sie als die vollendetsten aller Klettervögel bezeichnet, da sie den Spechten in dieser Fertigkeit nicht nur nicht im geringsten nachstehen, sondern sie in einer Hinsicht noch übertreffen; sie verstehen nämlich die schwere Kunst, an senkrechten Flächen von oben nach unten herabzuklettern, was außer ihnen kein anderer Vogel vermag. »Ihre Fertigkeit im Klettern«, sagt mein Vater, »habe ich oft umsomehr bewundert, als sie aus der Einrichtung ihrer Füße und ihres Schwanzes nicht hervorzugehen scheint. Die Gestalt der Spechte kann als die Grundgestalt der Klettervögel betrachtet werden. Ihre starken, kurzen, mit gepaarten Zehen und großen, scharf gekrümmten Nägeln versehenen Füße, ihr keilförmiger, aus harten, zurückschnellenden Federn bestehender Schwanz, ihr meist schlanker, niedriger Körper setzen sie in den Stand, mit der größten Schnelligkeit und Sicherheit an den Bäumen hinauf zu hüpfen. Die ganze Einrichtung ist so zweckentsprechend, daß man meint, es könnte an derselben nichts verändert werden, ohne daß ein leichtes Klettern unmöglich würde. Bei den Kleibern aber ist vieles anders. Ihre Füße sind länger und von den Zehen drei vorwärts gerichtet; ihr Leib ist kurz, und der Schwanz hat so schwache und biegsame Federn, daß er beim Klettern durchaus keine Stütze abgeben kann. Und doch klettert der Kleiber nicht nur ebenso geschickt wie die Spechte an den Bäumen hinauf, sondern sogar an ihnen herab und hängt sich oft mit niederwärts gerichtetem Kopfe so fest an den Stamm an, daß er in dieser Stellung eine Buchen- oder Haselnuß aufknacken kann. Dies ermöglicht einzig und allein die Gestalt der Zehen und Nägel. Die Zehen nämlich sind ungleich länger als bei den Spechten und bedecken also eine viel größere Fläche: die Spitzen des Nagels der Mittel- und Hinterzehe liegen bei ausgespreizten Zehen fast so weit auseinander, als der Leib lang ist, haben sehr große, im Halbkreise gekrümmte, nadelspitzige Nägel und unten mehrere Ballen. Vermöge dieser Einrichtung können sie beim Klettern einen verhältnismäßig großen Umfang umklammern, welcher natürlich mehr Unebenheiten und also mehr Anhaltspunkte darbietet. Auch die Warzen an der Sohle befördern offenbar das feste Anhalten, und die Verbindung der Zehenwurzeln hindert das zu weite Auseinandergehen der Zehen und verstärkt also ihre Kraft. Da nun die Einrichtung der Kletterwerkzeuge des Kleibers ganz anders ist als bei den Spechten, so ist auch die Art seines Kletterns von der dieser Vögel sehr verschieden. Die letzteren stemmen sich beim Hinaufreiten an dem Baumstamme stark an den Schwanz und tragen die Brust weit vom Stamme abstehend; der Kleiber hingegen verläßt sich bloß auf seine Füße und hält den Schwanz beinahe ebensoweit wie die Brust vom Baumstamme ab, an welchem er hinaufhüpft. Auch die Fähigkeit, an den Bäumen herabzuklettern und sich an ihnen mit niederwärts gerichtetem Kopfe anzuhängen, wird aus der Beschaffenheit seiner Füße erklärlich. Die Hinterzehe ist mit ihrem großen Nagel sehr geschickt weit oben einzuhaken, während die Vorderzehe tief unten eingreift und das Ueberkippen des Körpers verhindert. Bei den Spechten stehen zwar zwei Zehen hinten, aber sie sind getrennt, und die große ist mehr seitlich als gerade nach hinten gerichtet; dabei sind die Vorderzehen, mit denen des Kleibers verglichen, kurz. Wollte sich nun ein Specht verkehrt an den Baum hängen, so würde oben der feste Anhaltungspunkt, welchen der Kleiber mit dem großen Nagel seiner gerade nach hinten gerichteten, langen Hinterzehe erreichen kann, fehlen, und die Vorderzehen würden viel zu weit oben eingreifen, als daß der Vogel ohne die größte Anstrengung in dieser Stellung auszuhalten, geschweige sich leicht zu bewegen im Stande wäre. Die ihm so wichtige Schwanzstütze müßte natürlich, wenn er sich ihrer bedienen wollte, sein Ueberkippen befördern. Man sieht, daß ein Vogel, welcher mit gleicher Geschicklichkeit an den Bäumen hinauf und herabklettern sollte, nicht anders wie der Kleiber gestaltet sein kann. Die Eigenthümlichkeit seines Fußbaues ermöglicht ihm aber noch eine dritte Bewegung, ein leichtes Herumhüpfen auf den Zweigen und auf dem Boden.«

Soviel bis jetzt bekannt, sind alle Arten der Familie Strichvögel, welche nur außer der Brutzeit in einem kleinen Gebiete auf- und niederwandern, im ganzen aber jahraus, jahrein an einer und derselben Stelle sich halten. Wo hohe alte Bäume oder unter Umständen Felswände ihnen [555] genügende Nahrung bieten, fehlen sie gewiß nicht, denn sie steigen auch ziemlich hoch im Gebirge empor. Ihre Nahrung besteht aus Kerbthieren und Pflanzenstoffen, namentlich aus Sämereien, welche sie von den Bäumen und von Felsenwänden wie vom Erdboden aufnehmen. Sie nisten in Baum- oder Felslöchern, deren Eingang fast regelmäßig mit Lehm und Schlamm überkleidet wird. Das Gelege besteht aus sechs bis neun, auf lichtem Grunde roth gepunkteten Eiern.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 554-556.
Lizenz:
Kategorien: