Waldwasserläufer (Totanus glareola)

[313] Der Waldwasserläufer, Bruchwasserläufer, Waldjäger, Giff (Totanus glareola, affinis, grallatorius, glareoloides, sylvestris, palustris und Kuhlii, Tringa glareola, grallatoris, Trynga littorea, Rhyacophilus und Actitis glareola), ist merklich kleiner als der Verwandte: seine Länge beträgt zweiundzwanzig, die Breite dreiundvierzig, die Fittiglänge dreizehn, die Schwanzlänge fünf Centimeter. Die Obertheile sind grünlich schwarzbraun, alle Federn des Kopfes und Hinterhalses schwach weißlich gestreift, die des Rückens licht fahlgrau umrandet und grau und weiß geflockt, Hals und Kropf mit schmalen dunklen Längsstreifen auf weißlichem Grunde gezeichnet, Bürzel, Unterbrust und Bauch reinweiß, die Schwingen, deren erste weiß geschaftet ist, schwarzbraun, die Achselfedern weiß, schmal dunkel quer-, die Schwanzfedern bis zur Wurzel gebändert, die beiden oder die drei äußersten, auf deren Innenfahne das Weiß mehr und mehr überhand nimmt, außen nur noch quergefleckt, die oberen Schwanzdecken weiß, dunkel quergebändert. Das Auge ist tiefbraun, der Schnabel schwarz, der Fuß grünlichgelb. Im Herbstkleide ist die Oberseite lichter braun, rostgelblichweiß gefleckt, die Unterseite am Halse und Kropfe gestreift und gewellt.

[313] Mittel- und Nordeuropa sowie Mittel- und Nordasien bilden das Brutgebiet, fast ganz Europa, Asien und Afrika den Verbreitungskreis beider Wasserläufer. Auf Island und den Färinseln scheinen sie nicht vorzukommen; im übrigen Europa sind sie überall beobachtet worden. In unserem Vaterlande erscheinen sie im April und Mai, fangen gegen Ende des Juli an zu streichen und begeben sich im August und September wiederum auf die Reise nach der Winterherberge, welche schon im Süden Europas beginnt, aber bis Indien und zum Vorgebirge der Guten Hoffnung sich ausdehnt. Einzelne Bachwasserläufer überwintern sogar in Deutschland. Beide Arten führen eine versteckte oder doch heimliche Lebensweise; während der Bachwasserläufer aber, seinem Namen entsprechend, die Ufer kleiner, umbuschter Gewässer bevorzugt, siedelt sich der Waldwasserläufer mit Vorliebe im einsamen, stillen, düsteren Walde an, gleichviel ob der Bestand aus Nadel- oder Laubholz gebildet wird. In Skandinavien und Sibirien habe ich ihn nur ausnahmsweise anderswo gefunden und oft mit Vergnügen beobachtet, wie er auf Wipfel- und anderen Zweigen hoher Bäume fußte. Mangel an geeigneten Oertlichkeiten und andere Verhältnisse bedingen übrigens nicht allzu selten Abänderungen in der Wahl der Aufenthaltsorte.

Beide Wasserläufer sind höchst anmuthige Vögel, zierlich und gewandt in jeder Hinsicht, beweglich, scharfsinnig, klug und vorsichtig, jedoch nicht eigentlich scheu, es sei denn, daß sie üble Erfahrungen gemacht haben sollten. Sie halten sich im Sitzen wagerecht, wiegen sich oft wie der Flußuferläufer, gehen leicht und gut, fliegen ausgezeichnet, schwenken mit vollster Sicherheit durch das Geäst der Bäume oder Gebüsche und entfalten während ihrer Fortpflanzungszeit fast alle in ihrer Familie üblichen Flugkünste. Ihre Stimme ist ungemein hoch und laut, aber so rein und wohlklingend, daß einzelne Töne denen der besten Sänger fast gleichkommen. Der Lockton des Bachuferläufers ist ein silberglockenreines, mehrmals und rasch nach einander wiederholtes »Dlüidlui«, der des Waldwasserläufers ein pfeifendes »Giffgiff«, der Ausdruck der Zärtlichkeit bei jenem ein kurzes hohes »Dick, dick«, bei diesem ein ähnlich betontes »Gik, gik«, der Paarungsruf bei jenem der vertönte, oft wiederholte Lockruf, bei diesem ein förmlicher Gesang, in welchem man bald Laute wie »Titirle«, bald solche wie »Tilidl« herauszuhören vermeint. Im übrigen bethätigen beide die Eigenschaften ihrer Sippschaftsgenossen.

Der Bachwasserläufer legt sein Nest ebensowohl auf dem Boden wie auf Bäumen in alten Nestern, beispielsweise Eichorn-, Tauben-, Heher- und Drosselnestern, sogar in Baumhöhlen bis zehn Meter über dem Grunde, hier aber immer in unmittelbarer Nähe des Wassers, an. Für den Waldwasserläufer, welcher nach meinen Erfahrungen noch mehr Baumvogel ist als jener, dürfte dasselbe gelten; doch liegen, meines Wissens, bestimmte Beobachtungen über sein Nisten auf Bäumen noch nicht vor. Die kreiselförmigen Eier des ersteren, deren Längsdurchmesser etwa sechsunddreißig und deren Querdurchmesser sechsundzwanzig Millimeter beträgt, sind auf licht ölgrünem, bald mehr ins Gelbliche, bald mehr ins Grünliche spielendem Grunde mit kleinen Flecken, Schmitzen und Punkten von bräunlich aschgrauer bis dunkel grünbrauner Färbung gezeichnet; die des Waldwasserläufers, welche bei fünfunddreißig Millimeter Längsdurchmesser vierundzwanzig Millimeter Querdurchmesser haben, ähneln ihnen sehr, sind aber gröber gefleckt. Nach etwa funfzehntägiger Bebrütung entschlüpfen die Jungen, verlassen, sobald sie trocken geworden, das Nest, springen, wenn sie auf Bäumen gezeitigt wurden, wie Hintz erfuhr, ohne Schaden von der Höhe herab ins Gras und wachsen nun, unter treuer, aufopfernder Führung ihrer Eltern, rasch heran, werden auch ebenso bald wie andere ihrer Art selbständig.

Die Feinde anderer Strandvögel gefährden auch unsere beiden Wasserläufer. In Gefangenschaft halten sie sich ebenso gut und benehmen sich ebenso wie ihre Verwandten.


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Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Sechster Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Dritter Band: Scharrvögel, Kurzflügler, Stelzvögel, Zahnschnäbler, Seeflieger, Ruderfüßler, Taucher. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 313-314.
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