Jungfernkranich (Grus virgo)

[394] Oefter als die beiden vorhergenannten Arten besucht der in den mittelasiatischen Steppen heimische, bis Südindien, Mittel- und Südafrika wandernde, ungemein zierliche Jungfernkranich (Grus virgo und numidica, Ardea und Anthropoides virgo) unseren heimatlichen Erdtheil. Er unterscheidet sich von seinen beschriebenen Verwandten durch den kurzen, runden Schnabel, den ganz befiederten, hinten mit zwei langen Federzöpfen gezierten Kopf, das verlängerte Gefieder des Unterhalses und die nicht zerschlissenen und aufgekrempten, sondern nur verlängerten, aber die anderen weit überragenden Oberflügeldeckfedern und gilt deshalb als Vertreter einer gleichnamigen Untersippe (Anthropoides). Das Gefieder, welches sich durch Zartheit auszeichnet, ist licht bleigrau, der Vorderhals und sein herabwallender Schmuck tief schwarz, die zopfartige Kopfzierde rein weiß; die Schwingen sind grauschwarz. Das Auge ist hochkarminroth, der Schnabel an der Wurzel schmutziggrün, gegen die Spitze hin hornfarben, an ihr blaßroth, der Fuß schwarz. Dem jungen Vogel fehlen die Schmuckfedern am Kopfe und Unterhalse. Die Länge beträgt fünfundachtzig, die Breite einhundertsechsundsechzig, die Fittiglänge fünfundvierzig, die Schwanzlänge sechzehn Centimeter.

Unser deutscher Kranich, auf dessen Lebensschilderung ich mich beschränken muß, erscheint im Sudân scharenweise im Oktober und bezieht hier größere Sandbänke in den Strömen, welche über den Wasserspiegel hervorragen. In Indien trifft er ebenfalls zu derselben Zeit in namhafter Anzahl ein und bewohnt dann ähnliche Oertlichkeiten. Durch Deutschland sieht man ihn im Anfange des Oktober und zu Ende des März, regelmäßig in zahlreichen Gesellschaften, welche in hoher Luft fliegen, die Keilordnung streng einhalten und nur zuweilen kreisend in wirre Flüge sich auflösen, vielleicht auch hier und da auf den Boden herabsenken, um sich zu äsen, nirgends aber längere Zeit aufhalten, seines Weges dahinziehen. Diese Züge halten eine gewisse Richtung, vor allem die bekannten Heerstraßen der Vögel, alljährlich ein und lassen sich nur durch ungewöhnliche Erscheinungen ablenken: so beobachtete mein Vater, daß eine Kranichherde durch das brennende Dorf Ernstroda in Thüringen herbeigezogen wurde und längere Zeit über den Flammen kreiste, durch lautes Geschrei das Rufen der Arbeiter, die Klagen der Abgebrannten, das Brüllen des Viehes, das Prasseln des Feuers und das Krachen der Gebäude noch übertönte und in der Seele des damaligen Knaben einen Eindruck zurückließ, welcher vor dem geistigen Auge des Greises noch in voller Frische stand. Vor dem Herbstzuge gesellen sie sich, wie die Störche, auf bestimmten Oertlichkeiten, von denen sie sich eines Tages unter großem Geschreie erheben, und fliegen nun rastlos, Tag und Nacht reisend, ihrer Winterherberge zu. Hier angelangt, senken sie sich tief herab und suchen nun nach einer ihren Anforderungen entsprechenden und von anderen Wanderscharen noch nicht besetzten[394] Insel. Solange ihr Aufenthalt in der Fremde währt, halten sie sich stets in zahlreichen Massen zusammen und nehmen auch verwandte Arten, in Afrika die Jungfernkraniche, in Indien die Antigone-, in Südchina und Siam außer letzteren auch die Weißnacken-und Schneekraniche, unter sich auf. Mit ihnen fliegen sie gemeinsam jeden Morgen auf die Felder hinaus, um hier Nahrung zu suchen, kehren in den Vormittagsstunden zurück und verweilen nun Tag und Nacht auf den Inseln, zeitweilig mit verschiedenen Spielen sich vergnügend und beständig im Gefieder putzend und ordnend, da die jetzt stattfindende Mauser derartige Sorgfalt nöthig macht. Scharenweise brechen sie auch auf, und vereinigt noch kommen sie an in der Heimat; hier aber lösen sich die Heereshaufen bald in kleinere Trupps und diese in Paare auf, und jedes Paar bezieht nun eine zur Fortpflanzung geeignete Oertlichkeit, welche sich von der Winterherberge wesentlich unterscheidet. In Indien oder im Sudân ist der Kranich Strandvogel, im Norden Europas oder Asiens wird er zum vollendeten Sumpfvogel. Er bezieht hier die großen Brüche oder Sümpfe der Ebene, bezüglich der Tundra, und wählt in den Morästen diejenigen Stellen aus, welche mit niedrigem Seggengrase oder Riede bewachsen sind, ihm aber unter allen Umständen weite Aussicht gestatten. Sie werden zu seinem Brutgebiete, und von ihnen fliegt er hinaus auf die Felder, welche ihm auch während des Sommers zollen müssen. Brüche, Sümpfe oder Moräste, in denen viel Buschwerk oder hohes Röhricht wächst, liebt er nicht, es sei denn, daß ihre Ausdehnung die Annäherung eines Menschen erschwert und ihm die nöthige Sicherheit verbürgt.

Jede Bewegung des Kraniches ist schön, jede Aeußerung seiner höheren Begabungen fesselnd. Der große, wohlgebaute, bewegungsfähige, scharfsinnige und verständige Vogel ist sich seiner ausgezeichneten Fähigkeiten wohl bewußt und drückt solches durch sein Betragen aus, so verschiedenartig dieses auch sein mag. Mit leichten, zierlichen, aber doch abgemessenen Schritten, gewöhnlich ruhig und würdevoll, nur im Falle der Noth eilend und rennend, geht er seines Weges dahin; ohne Mühe erhebt er sich nach einem oder nach zwei Sprüngen vom Boden, mit wenigen, weit ausholenden Schlägen der kräftigen Flügel gewinnt er die nöthige Höhe, und nunmehr fliegt er, Hals und Beine gerade von sich gestreckt, stetig und ohne Eile zu verrathen, aber doch schnell und fördernd dahin, mit Entschiedenheit einem bestimmten Ziele zustrebend. Aber derselbe Vogel ergötzt sich auch, wenn ihn die Laune anwandelt, durch lustige Sprünge, übermüthige Geberden, sonderbare Stellungen, Verneigungen des Halses, Breiten der Flügel und förmliches Tanzen oder dreht sich fliegend in prachtvollem Reigen längere Zeit über einer und derselben Stelle umher. Wie im Uebermuthe nimmt er Steinchen und Holzstückchen von der Erde auf, schleudert sie in die Luft, sucht sie wieder aufzufangen, bückt sich rasch nach einander, lüftet die Flügel, tanzt, springt, rennt eilig hin und her, drückt durch die verschiedensten Geberden eine unendliche Freudigkeit des Wesens aus: aber er bleibt immer anmuthig, immer schön. Wahrhaft bewunderungswürdig ist seine Klugheit. Früher als jeder andere Stelzvogel lernt er die Verhältnisse beurtheilen oder würdigen und richtet nach ihnen seine Lebensweise ein. Er ist nicht scheu, aber im allerhöchsten Grade vorsichtig und läßt sich deshalb sehr schwer überlisten. Der einzelne denkt stets an seine Sicherheit; eine Herde stellt regelmäßig Wachen aus, denen die Sorge für die Gesammtheit obliegt; die beunruhigte Schar sendet Späher und Kundschafter, bevor sie den Ort wieder besucht, auf welchem sie gestört wurde. Mit wahrem Vergnügen habe ich in Afrika beobachtet, wie vorsichtig die Kraniche zu Werke gehen, sobald sie auch dort die Tücke des Menschen kennen gelernt haben: wie sie zunächst einen Kundschafter aussenden, dann mehrere, wie diese sorgsam spähen und lauschen, ob etwas verdächtiges sich noch zeige, wie sie sich erst nach den eingehendsten Untersuchungen beruhigen, zurückfliegen, die Gesammtheit benachrichtigen, dort noch immer nicht Glauben finden, durch Gehülfen unterstützt werden, nochmals auf Kundschaft ausziehen und nun endlich die Herde nach sich ziehen. Und doch lernt man den Kranich während seines Freilebens nie vollständig kennen, muß ihn vielmehr zum Gesellschafter erworben haben, wenn man über ihn urtheilen will. So vorsichtig er dem Menschen ausweicht, so lange er frei ist, so innig schließt er sich ihm an, wenn er in dessen [395] Gesellschaft kam. Mit Ausnahme der klügsten Papageien gibt es keinen Vogel weiter, welcher in gleicher Weise wie er mit dem Menschen verkehrt, jede menschliche Handlung verstehen und begreifen lernt und sich so gut, wie es ihm möglich, verständlich und nützlich zu machen weiß. Er sieht in seinem Gebieter nicht bloß den Brodherrn, sondern auch den Freund und bemüht sich, dies kund zu geben. Leichter als jeder andere Vogel gewöhnt er sich an das Gehöft, an das Haus seines Pflegers, lernt hier jedes Zimmer, jeden Raum kennen, die Zeit abschätzen, die Verhältnisse würdigen, in denen andere Leute oder Thiere zum Gastfreunde stehen, bekundet bewunderungswerthes Verständnis für Ordnung, duldet auf dem Geflügelhofe keinen Streit, hütet, ohne dazu aufgefordert zu werden, gleich dem verständigsten Hunde, das Vieh, straft durch scheltendes Geschrei oder empfindliche Schnabelhiebe und belohnt durch freundliches Gebaren, Verneigungen und Tanzen, befreundet sich mit wohlwollenden Menschen und drängt sich in deren Gesellschaft, läßt sich aber nichts gefallen und trägt ungebührliche Beleidigungen monate-, ja jahrelang nach, kurz, zeigt sich als ein wahrer Mensch im Federkleide. Es liegen über seinen Verstand so viele Beobachtungen vor, daß ich kein Ende finden könnte, wollte ich sie hier anführen.

Mit anderen Mitgliedern der Familie, auch wohl mit verwandten Vögeln, lebt der Kranich in gutem Einvernehmen; in ein Freundschaftsverhältnis tritt er aber nur mit ebenbürtigen Geschöpfen. Geselligkeit scheint ihm Bedürfnis zu sein; aber er wählt sich seine Gesellschaft. Dem Gatten gegenüber beweist er unwandelbare Treue; gegen seine Kinder bekundet er die wärmste Zärtlichkeit; gegen seine Art-, Sippschafts- und Familienverwandten legt er eine gewisse Hochachtung an den Tag. Demungeachtet kommt es vor, daß sich Kraniche in Sachen der Minne, während des Zuges oder gelegentlich anderer Zusammenkünfte erzürnen und wüthend bekämpfen. Man hat beobachtet, daß mehrere über einen herfielen und ihm durch Schnabelhiebe so zusetzten, daß er zur Weiterreise unfähig ward, ja, man will gesehen haben, daß solche Missethäter wirklich umgebracht wurden; wir haben außerdem in Thiergärten mehr als einmal erfahren, daß verschiedenartige Kraniche sich mit bitterem Hasse befehdeten, und daß einer den anderen tödtete. Doch gehören solche Vorkommnisse zu den Ausnahmen; denn eigentlich sind die Kraniche wohl necklustig und muthig, nicht aber boshaft, tückisch und hinterlistig.

Unser Kranich frißt Getreide und Saat, Grasspitzen und Feldpflanzen, sehr gern Erbsen, nimmt auch einzelne Früchte auf oder erbeutet Würmer und Kerbthiere, insbesondere Käfer, Heuschrecken, Grillen und Libellen, fängt auch ab und zu einen Thaufrosch oder einen anderen Wasserlurch. Die erwähnten Scharen, welche im Sudân überwintern, fliegen kurz vor Sonnenaufgang in die Durrahfelder der Steppe hinaus, füllen Magen und Speiseröhre bis zum Schlunde mit Körnern an, kehren zum Strome zurück, trinken und verdauen nun die eingenommene Nahrung im Laufe des Tages. Der geringsten Schätzung nach verbrauchen die am Weißen und Blauen Nile überwinternden Kraniche gegen hunderttausend Hektoliter Getreide. Dieser Verbrauch fällt dort keineswegs ins Gewicht, und wohl niemand mißgönnt den Vögeln das Futter; anders dagegen ist es in dem dicht bevölkerten Indien, wo das gereifte Korn höheren Werth hat: hier werden die überwinternden Kraniche mit vollem Rechte als sehr schädliche Vögel betrachtet und demgemäß mit scheelen Augen angesehen, auch nach Kräften verfolgt und vertrieben. In der Gefangenschaft gewöhnt sich der Kranich an die verschiedensten Nahrungsstoffe, läßt sich aber mit dem einfachsten Körnerfutter jahrelang erhalten. Er zieht Erbsen und Bohnen dem Getreide vor, sieht im Brode einen Leckerbissen, nimmt aber auch gern gekochte Kartoffeln oder klein geschnittene Rüben, Kohl, Obst und dergleichen zu sich, verschmäht ein Stückchen frisches Fleisch keineswegs, läßt auch keine Gelegenheit vorübergehen, Mäuse und Kerbthiere zu fangen.

Sofort nach seiner Ankunft in der Heimat nimmt das Kranichpaar Besitz von dem Sumpfe, in welchem es zu brüten gedenkt, und duldet innerhalb eines gewissen Umkreises kein zweites Paar, obwohl es jeden vorüberreisenden Zug mit lautem Rufen begrüßt. Erst wenn die Sümpfe grüner werden und das Laub der Gebüsche ausschlägt, beginnt es mit dem Nestbaue, trägt auf einer kleinen [396] Insel oder Seggenkufe, einem niedergetretenen Busche oder einem anderen erhabenen Orte dürre Reiser zusammen und schichtet auf ihnen bald mehr, bald weniger trockene Halme und Rohrblätter, Schilf, Binsen und Gras zusammen, ohne sich dabei sonderliche Mühe zu geben. Auf die seichtvertiefte Mitte dieses Baues legt das Weibchen seine zwei großen und gestreckten, etwa vierundneunzig Millimeter langen, einundsechzig Millimeter dicken, starkschaligen, grobkörnigen und fast glanzlosen Eier, deren Grundfarbe bald graugrün, bald bräunlich, bald hellgrün ist, und deren Zeichnung aus grauen und rothgrauen Unterflecken, rothbraunen und dunkelbraunen Oberflecken, Tüpfeln und Schnörkeln besteht, aber vielfach abändert. Beide Geschlechter brüten abwechselnd und vertheidigen gemeinschaftlich die Brut gegen einen nahenden Feind, falls derjenige, welcher gerade nicht brütet, aber die Wache hält, allein nicht fertig werden sollte. An gefangenen Kranichen, welche brüten, kann man beobachten, daß der Wächter mit Wuth auf jedes Thier stürzt, welches sich dem Neste nähert und, da er an den Anblick des Menschen gewöhnt ist, diesen ebenfalls rücksichtslos angreift; die freilebenden hingegen fliehen letzteren, ihren schlimmsten Feind, auch während sie brüten, ängstlich. Ihr Nest verrathen sie nie, bethätigen im Gegentheile bewunderungswürdige Geschicklichkeit, während der Brutzeit sich zu verbergen oder doch im Brüten dem Auge des Beobachters zu entziehen. »Der auffallende, große Vogel«, sagt Naumann, »läßt den Beobachter nur ahnen, in dem Sumpfe müsse er irgendwo sein Nest haben; aber die Stelle selbst weiß er jenem dadurch stets zu verbergen, daß er sich von weitem her jederzeit nur zu Fuße in gebückter Stellung und unter dem Schutze hoher Pflanzen und des Gebüsches nähert, daß der auf dem Neste sitzende bei annähernder Störung sich von demselben ebenso versteckt davonschleicht und weit vom Neste aus dem freien Sumpfe erst auffliegt und sichtbar wird, oder auch wohl, wenn ihm der Lärm nicht gar zu nahe kommt, gar nicht herausfliegt. Es läßt sich daher das Plätzchen so schwer ausmitteln, als es, wenn dies durch besonderen Zufall geglückt wäre, mühsam ist, sich ihm, des tiefen Morastes wegen, zu nähern.« Gleichzeitig gebraucht der Kranich noch ein anderes Mittel, um sich unkenntlich zu machen. »Eines Tages«, erzählt Eugen von Homeyer, »lag ich in sicherem Verstecke neben einem Moore, in welchem ein Kranichpaar seinen Stand hatte, und beobachtete die beiden klugen Vögel und ihre anmuthigen Bewegungen, als das Weibchen, sich ganz unbeachtet wähnend, die doppelte Scheu des Vogels und des Weibes beseitigend, begann, seine Putzkünste zu entwickeln. Es nahm von der Moorerde in den Schnabel und salbte damit den Rücken und die Flügeldecken, so daß diese Theile das schöne Aschgraublau verloren und ein düsteres erdgraubraunes Ansehen erhielten. Der Wissenschaft zu Liebe erlegte ich das schöne Thier und fand das Gefieder des Oberkörpers gänzlich von dem Farbstoffe durchdrungen, so daß ich außer Stande war, bei der sorgfältigsten Waschung denselben wieder zu entfernen; so fest, vielleicht durch den Einfluß des Speichels, hatte derselbe sich mit dem Gefieder vereinigt.« »Hiermit«, fügt Homeyer später hinzu, »war in einem Augenblicke erklärt, wonach ich jahrelang getrachtet: die eigenthümliche Färbung des Kraniches während der Brutzeit. Nur während dieser nimmt der Vogel diese Umfärbung vor; denn späterhin ausfallende und nachwachsende Federn behalten ihre natürliche Färbung, woher es kommt, daß wir unter all den nordischen Kranichen, welche durch Deutschland ziehen, keinen Rost sehen. Sie haben bereits das Kleingefieder vermausert.« Diese Beobachtungen Homeyers wurden durch chemische Untersuchung, welche Mewes anstellte, durchaus bestätigt.

Wie lange die Brutzeit dauert, weiß ich nicht; wohl aber sind wir über das Jugendleben der ausgeschlüpften Kraniche einigermaßen unterrichtet. An gefangenen Geschwistern hat man beobachtet, daß sie sich zuweilen wie Tauben schnäbeln, und deshalb angenommen, daß die Jungen anfänglich wohl von den Alten geatzt werden mögen; sehr junge Kraniche aber, welche ich erhielt, pickten ohne weiteres das ihnen vorgehaltene Futter aus der Hand und benahmen sich so geschickt und selbständig, daß ich sie unbedingt für entschiedene Nestflüchter halten muß. Trotz ihrer dicken Beine laufen sie sehr gut und wissen sich in dem dichten Riede oder Binsichte vortrefflich zu verbergen. Die Alten verrathen sich nicht, beschäftigen sich nur, wenn sie sich ganz unbeachtet glauben, mit[397] ihnen und führen sie, falls sie Gefahr befürchten, oft weit weg, beispielsweise auf Felder hinaus, um sie hier im Getreide zu verstecken. Aber sie behalten sie fortwährend im Auge und sehen auch dann noch nach ihnen, wenn sie gefangen und in einem der Brutstelle nicht sehr entlegenen Gehöfte untergebracht wurden. Unangenehm werden die niedlichen Thiere durch das ununterbrochene wiederholte Ausstoßen der einzelnen Silbe »Piep«; diese Untugend legen sie auch erst ab, wenn sie vollkommen erwachsen sind. Wer aber in dem Kraniche nicht bloß einen unterhaltenden Hofvogel, sondern einen wahren Freund, ich möchte sagen, einen gefiederten Menschen erziehen will, muß wohl oder übel jene Unannehmlichkeiten ertragen; denn nur derjenige Vogel, welcher von Jugend auf in der Gesellschaft des Menschen lebte, bekundet später die volle Bildungsfähigkeit seines Geistes.

Alte Kraniche werden nur von einem früher verbreiteten, den Vögeln also nicht mehr auffallenden Verstecke aus mit einiger Sicherheit erlegt, übrigens bloß durch Zufall erbeutet, vorausgesetzt, daß nicht besondere Umstände, beispielsweise drückende Hungersnoth, sie das ihnen sonst eigene Wesen vergessen lassen. Wie vorsichtig sie sind, habe ich am besten in der Winterherberge erfahren, in welcher doch alle Vögel leichter als sonst erlegt werden können. Nur wenn wir uns nachts auf jene Sandinseln begaben, dort ruhig niederlegten, das Boot wieder wegfahren ließen und so den Vögeln glauben machten, daß die Störung eine zufällige gewesen sei, durften wir auf ein günstiges Jagdergebnis rechnen. Sonst brachte bloß die weittragende Büchse einen oder den anderen in unsere Gewalt und dies auch bloß dann, wenn wir uns von einem der Ufer aus im Walde bis auf Schußweite anschleichen konnten. Eine Störung, und noch mehr der Verlust eines Gefährten, macht die übrigen dem Jäger geradezu unnahbar. Das Fleisch haben wir gern gegessen, gewöhnlich aber zur Bereitung einer vortrefflichen Suppe benutzt. In früheren Zeiten schätzte man es höher: Kranichwildpret durfte bei großen Gastmählern auf den Tafeln der reichen Jagdherren nicht fehlen. In Asien baizt man die dortigen Arten mit Falken und verfolgt sie auch in anderer Weise eifrig, um ihre Federn zu verwenden.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Sechster Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Dritter Band: Scharrvögel, Kurzflügler, Stelzvögel, Zahnschnäbler, Seeflieger, Ruderfüßler, Taucher. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 394-398.
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