Zehnte Familie: Kraniche (Gruidae)

[392] Als die edelsten Mitglieder der Zunft haben wir die Kraniche (Gruidae) anzusehen. Ihre Merkmale sind: verhältnismäßig langer, fast walzenförmiger, aber kräftiger, seitlich nicht zusammengedrückter Leib, langer, schmächtiger Hals, kleiner, schön gestalteter Kopf, mittelmäßig starker, gerader, seitlich etwas zusammengedrückter, stumpfrückiger, spitziger Schnabel, welcher dem Kopfe an Länge gleichkommt oder ihn etwas übertrifft, an seiner Wurzelhälfte weich, an der Spitze jedoch hart ist, sehr lange, starke, weit über die Ferse nackte Beine und vierzehige Füße, deren kleine, kurze Hinterzehe sich so hoch einlenkt, daß sie beim Gehen den Boden nicht berührt, deren äußere und mittlere Vorderzehe durch eine dicke, bis zum ersten Gelenke reichende Spannhaut verbunden werden, und deren Krallen kurz, flach gebogen und stumpfkantig sind, große, lange, breite Flügel, in denen die dritte Schwinge die längste, und deren letzte Oberarmfedern sich über alle übrigen verlängern, auch wohl sichelförmig biegen, überhaupt durch eigenthümliche Gestaltung auszeichnen, aus zwölf Federn gebildeter, ziemlich kurzer oder zugerundeter Schwanz und dicht anschließendes, derbes, jedoch reiches Kleingefieder, welches oft einen Theil des Kopfes und des Halses freiläßt oder hier sich zu schönen Schmuckfedern umgestaltet, bei einzelnen auch am Vorderhalse sich verlängert und verschmächtigt. Die Geschlechter unterscheiden sich nicht merklich durch die Färbung, wohl aber durch die Größe; die Jungen legen nach der ersten Mauser ein den Alten ähnliches Kleid an, erhalten jedoch die Schmuckfedern in ihrer Vollendung erst später.

Das Geripp der Kraniche hat, nach Wagner, mit dem der Störche und Reiher wenig Aehnlichkeit. Der Schädel ist schön gewölbt und abgerundet, oben vorspringend; über dem Hinterhauptsloche finden sich ein Paar Fontanellen; die Scheidewand der Augen ist zum Theil durchbrochen; dem unteren Keilbeinflügel fehlt die dritte Gelenkung. Die Wirbelsäule besteht aus siebzehn Hals-, neun Rücken- und sieben Schwanzwirbeln. Das Brustbein, der merkwürdigste Theil des Gerippes, ist lang und schmal, zeigt weder die sogenannten oberen Handgriffe, noch die unteren Fortsätze und fällt auf wegen seines starken und dicken, am Rande flach gewölbten Kieles, welcher theilweise eine Kapsel für die Luftröhre bildet. Die beiden Aeste der Gabel verschmelzen mit der vorderen Spitze des Brustbeinkieles; die Schulterblätter sind schmal und verhältnismäßig kurz, die lufthaltigen Oberarmknochen fast so lang wie die Vorderarmknochen, die Oberschenkelbeine nicht lufthaltig. Die Zunge ähnelt der eines Huhnes, ist mäßig lang und breit, der Schlund ziemlich weit, ohne Kropf, der Vormagen im Verhältnisse zu dem kräftigen, großen und starken Muskelmagen klein, der Darmschlauch ungefähr neunmal länger als der Rumpf. Höchst merkwürdig ist der Verlauf der Luftröhre, welche bei beiden Geschlechtern eine ähnliche, aber doch nicht übereinstimmende Bildung zeigt. Sie besteht aus mehr als dreihundert knöchernen Ringen, läuft am Halse gerade herab und tritt durch eine derbe, die beiden Aeste der Gabeln verbindende sehnige dichte Haut an der Verbindungsstelle der Gabeläste in den Kiel des Brustbeines, biegt sich beim Weibchen hinter der Mitte des Brustbeines in einem Bogen um, steigt wieder nach oben, biegt sich nach unten zurück bis in die erste Windung hinein, geht dann hinter dem ersten absteigenden Theile nochmals nach oben und steigt nun zwischen den beiden Schlüsselbeinen in die Brusthöhle; diese Windung beträgt ungefähr die Hälfte der ganzen Länge. Beim Männchen läuft sie dicht hinter dem Kiele bis zu dessen Ende und biegt sich nahe am Hinterrande in einem spitzen Winkel [392] in den aufsteigenden Theil um, welcher in einer Vertiefung an der hinteren Brustbeinfläche emporsteigt. Daß die starke Stimme mit diesem Baue in Verbindung steht, unterliegt keinem Zweifel.

Die Kraniche, von denen man sechzehn Arten kennt, sind Weltbürger, hauptsächlich aber im gemäßigten Gürtel heimisch. Jeder Erdtheil beherbergt besondere Arten, Asien die meisten. Ausgedehnte Sümpfe und Moräste bilden ihre Wohnsitze; solche, welche an bebautes Land grenzen, scheinen bevorzugt zu werden, da sie ebenso gut im Sumpfe wie auf den Feldern Nahrung suchen. Sie gehen mit abgemessenen Schritten, jedoch zierlich einher, gefallen sich in anmuthigen tanzartigen Sprüngen, bewahren stets eine gewisse Würde, waden ziemlich tief ins Wasser, sind auch im Stande zu schwimmen, fliegen leicht, schön, oft schwebend und große Kreise beschreibend, mit gerade ausgestrecktem Halse und Beinen, meist in hoher Luft dahin, haben eine laute, durchdringende Stimme, sind klug und verständig, gewöhnlich auch heiter, necklustig, aber ebenso kampfesmuthig und selbst mordsüchtig, zeigen sich gegen ihresgleichen äußerst gesellig und nehmen auch gern Familienverwandte, jedoch nur solche im engeren Sinne, unter sich auf, bekümmern sich sonst aber wenig oder nicht um andere Thiere oder maßen sich, wenn sie es thun, die Oberherrschaft über diese an. Ihre Thätigkeit währt vom frühen Morgen bis zum späten Abend; doch widmen sie nur wenige Morgenstunden dem Aufsuchen ihrer Nahrung, die übrige Zeit der Geselligkeit. Auf ihrem Zuge, welcher sie bis in die Wendekreisländer bringt, reisen sie fast ununterbrochen, bei Nacht ebensowohl wie bei Tage, legen deshalb auch ihre Wanderungen in überraschend kurzer Zeit zurück.

Alle Kraniche nehmen zwar gelegentlich auch Kerbthiere und Würmer, einen kleinen Lurch oder ein Fischchen mit auf, plündern zuweilen ebenso ein Vogelnest aus, scheinen aber doch thierische Nahrung nur als Leckerei zu betrachten. Körner verschiedener Art, insbesondere Getreide, außerdem Knospen, Blätterspitzen, Wurzeln oder Knollengewächse bilden ihre Nahrung. Da, wo sie häufig auftreten, können sie durch Räubereien im Felde lästig werden; bei uns zu Lande wird man jedoch den Schaden nicht hoch anschlagen dürfen, da sie von Jahr zu Jahr seltener werden.

Das Nest steht in tiefliegenden oder doch in sumpfigen Gegenden; zwei länglich runde, auf grünlichem Grunde braun gefleckte Eier bilden das Gelege. Beide Gatten brüten abwechselnd und atzen anfänglich die Jungen, welche wahrscheinlich während der ersten Tage im Neste verweilen und dann erst ausgeführt werden.

Die Kraniche haben wenig Feinde. In der Winterherberge werden einzelne, wie ich aus Erfahrung weiß, von Krokodilen weggeschnappt: andere Feinde, welche ihnen gefährlich werden können, sind mir nicht bekannt. Der Mensch verfolgt sie ihres schmackhaften Fleisches wegen oder nimmt die Nestjungen aus, um sie groß zu ziehen. Sie gewöhnen sich leicht an die Gefangenschaft, treten mit ihrem Pfleger in ein inniges Freundschaftsverhältnis und erfreuen durch die Zierlichkeit ihrer Bewegungen, die Anmuth ihres Wesens und ihre erstaunliche Klugheit. Es hält nicht schwer, sie an das Aus- und Einfliegen zu gewöhnen und ebenso, sie in der Gefangenschaft zur Fortpflanzung zu bringen. In Japan und China gilt einer, unzweifelhaft seiner ansprechenden Eigenschaften halber, als heiliger oder mindestens als allgemein geachteter Vogel.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Sechster Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Dritter Band: Scharrvögel, Kurzflügler, Stelzvögel, Zahnschnäbler, Seeflieger, Ruderfüßler, Taucher. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 392-393.
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