Neunte Familie: Reiher (Ardeidae)

[368] Der Leib der Reiher (Ardeidae), welche die reichhaltigste, gegen siebzig Arten umfassende Familie der Unterordnung bilden, ist auffallend schwach, seitlich ungemein zusammengedrückt, der Hals sehr lang und dünn, der Kopf klein, schmal und flach, der Schnabel in der Regel länger als der Kopf, mindestens ebenso lang, ziemlich stark, gerade, seitlich sehr zusammengedrückt, auf Firste und Kiel schmal, an den etwas eingezogenen Mundkanten schneidend scharf, nächst der Spitze gezähnelt, mit Ausnahme der Nasengegend mit glatter, harter Hornmasse bekleidet, das Bein mittelhoch, der Fuß langzehig, die Kralle der mittleren Zehe auf der Innenseite sein kammartig gezähnelt, der Flügel lang und breit, vorn aber stumpf, weil die zweite, dritte und vierte Schwinge fast gleiche [368] Länge haben, der aus zehn bis zwölf Federn gebildete Schwanz kurz und abgerundet, das Kleingefieder sehr reich, weich und locker, am Scheitel, auf dem Rücken und an der Oberbrust oft verlängert, theilweise auch zerschlissen, seine Färbung eine sehr verschiedenartige und nicht selten ansprechende, obgleich eigentliche Prachtfarben nicht vorkommen. Ganz eigenthümlich sind zwei kissenartige, mit hellgelbem oder gelblichweißem, seidigem, flockigem oder zottigem Flaum bekleidete Stellen auf jeder Seite des Leibes, von denen eine unter dem Flügelbuge über der Brusthöhle, die andere neben dem Kreuzbeine an der Bauchseite liegt. Die Geschlechter unterscheiden sich äußerlich höchstens durch die etwas verschiedene Größe; die Jungen tragen ein von dem der Alten abweichendes, minder schönes Gefieder.

Am Knochengerüste fällt die Schlankheit des Halses, der Rippen und Hinterglieder auf; das sehr gestreckte Schädelgerüst erinnert an das eines Lappentauchers oder Eisvogels; die Hirnschale ist niedrig, flach gewölbt, die Hinterhauptsleiste scharf, das Hinterhauptsloch groß, die Scheidewand der Augenhöhle durchbrochen, das Riechbein klein, das Thränenbein dagegen sehr groß, das Quadratbein durch vier zur Verbindung mit dem Unterkiefer dienende Gelenkköpfe ausgezeichnet. Die Wirbelsäule besteht aus sechzehn bis neunzehn schlanken, schmal gedrückten Halswirbeln, acht bis neun, nicht mit einander verschmolzenen Rückenwirbeln, deren letztere jedoch mit den Beckenwirbeln zu einem Stücke verwächst, und sieben bis neun kleinen, schwachen Schwanzwirbeln; von den acht bis neun Rippenpaaren sind die ersten drei falsch, fünf oder sechs haben den Rippenknochen; das Brustbein ist schwach, viereckig, sehr lang, sein Kiel hoch, sein Rand sehr bogenförmig, der kleine, schmale Mittelgriff deutlich vom Kiele geschieden. Die beiden Schlüsselbeine stehen mit ihren unteren und inneren Theilen hinter einander; der dünne, wenig gespreizte Gabelknochen erscheint merkwürdig wegen eines längeren unpaaren Fortsatzes, welcher von dem Vereinigungswinkel der beiden Seitentheile aus zwischen denselben nach oben aufsteigt; die Schulterblätter sind schmal, spitzig und wenig gebogen; im Gerüste der Vorderglieder zeigt sich der Oberarm stets länger als die Schulterblätter, der Vorderarm länger, der schlanke Handtheil kürzer als der Oberarm; das Becken ist schmal, an den Hintergliedern der Unterschenkel stets der längste Theil; die Wurzelglieder der hinteren und inneren Vorderzehen berühren sich. Die Zunge ist sehr lang, schmal, spitzig, an beiden Seitenrändern zugeschärft, weich, der schmale Zungenkern fast so lang wie die Zunge selbst und knorpelig; der kropflose Schlund bildet mit dem Vormagen und Magen einen einzigen langen Sack, ohne äußerliche merkliche Abtheilungen oder Einschnürungen; neben dem dünnwandigen Hauptmagen ist ein Nebenmagen vorhanden; der Darmschlauch erreicht das Zehn- bis Zwölffache der Rumpflänge, besitzt aber nur einen einzigen kleinen Blinddarm.

Die Reiher bewohnen alle Erdtheile, alle Gürtel der Höhe und mit Ausnahme der hochnordischen alle Länder. Schon innerhalb des gemäßigten Gürtels treten sie zahlreich auf, in den Wendekreisländern bilden sie den Hauptbestandtheil der Bevölkerung der Sümpfe und Gewässer. Einige Arten scheinen das Meer zu bevorzugen, andere halten sich an Flüssen, wieder andere in Sümpfen auf; einige lieben freiere Gegenden, andere Walddickichte oder Wälder überhaupt.

Das Wesen der Reiher ist nicht bestechend. Sie verstehen es, die wunderbarsten Stellungen anzunehmen: keine einzige von diesen aber kann anmuthig genannt werden; sie sind ziemlich bewegungsfähig: jede ihrer Bewegungen aber hat, mit der anderer Reihervögel verglichen, etwas schwerfälliges oder mindestens unzierliches. Ihr Gang ist gemächlich, langsam und bedächtig, ihr Flug keineswegs ungeschickt, aber einförmig und schlaff. Sie sind im Stande, im Röhrichte oder im Gezweige behend umherzuklettern, stellen sich dabei aber so an, daß dies ungeschickt aussieht; sie sind fähig zum Schwimmen, thun dies jedoch in einer Weise, daß sie unwillkürlich zum Lachen reizen. Ihre Stimme ist ein unangenehmes Gekreisch oder ein lautes, weithin schallendes Gebrüll, welches manchem Menschen unheimlich dünkt, die Stimme der Jungen ein widerwärtiges Gebelfer. Unter den Sinnen steht unzweifelhaft das Gesicht obenan; der Blick des schönen, meist hell gefärbten Auges hat aber etwas tückisches, wie das einer Schlange, und das Wesen der Reiher [369] straft diesen Blick nicht Lügen. Unter allen Sumpfvögeln sind sie die hämischsten und boshaftesten. Sie leben oft in größeren Gesellschaften, dürfen jedoch schwerlich gesellige Vögel genannt werden; denn jeder ist neidisch auf des anderen Glück und läßt keine Gelegenheit vorübergehen, sein Uebelwollen zu bethätigen. Größeren Thieren weichen sie ängstlich aus, indem sie sich entweder entfernen oder durch sonderbare Stellungen unkenntlich zu machen suchen; kleineren gegenüber zeigen sie sich mordsüchtig und blutgierig, mindestens unfriedlich und zanklustig. Ihre Beute besteht vorzugsweise in Fischen; die kleineren Arten sind der Hauptsache nach Kerbthierfresser: aber weder diese noch die größten verschmähen irgend ein anderes Thier, welches sie erreichen können. Sie verzehren kleine Säugethiere, junge und unbehülfliche Vögel, Lurche verschiedener Art, vielleicht mit Ausnahme der Kröten, und ebenso Weichthiere und Würmer, vielleicht auch Krebse. Lautlos und höchst bedächtig, beutegierig das Wasser durchspähend, schleichen sie, den langen Hals so tief eingezogen, daß der Kopf auf den Schultern, die untere Schnabellade auf dem vorgebogenen Halse ruht, wadend dahin; blitzschnell streckt sich der Hals plötzlich zu seiner ganzen Länge aus, und wie eine geschleuderte Lanze fährt der Schnabel auf die meist unrettbar verlorene Beute. In ähnlicher Weise vertheidigen sie sich Angreifern gegenüber. So lange wie möglich fliehen sie vor jedem stärkeren Feinde; gedrängt aber greifen sie wüthend an, zielen jederzeit nach dem Auge ihrer Gegner und können daher höchst gefährlich verwunden.

Alle Reiher nisten gern in Gesellschaft von ihresgleichen, verwandter und nicht verwandter Vogelarten. Ihre Nester, große, roh zusammengefügte Bauten, stehen entweder auf oder im Röhrichte auf zusammengeknickten Stengeln. Das Gelege enthält drei bis sechs ungefleckte, weißgrünliche oder blaugrünliche Eier. Nur das Weibchen brütet, wird aber inzwischen vom Männchen mit Nahrung versorgt. Die Jungen verweilen bis zum Flüggewerden oder doch fast bis zu dieser Zeit im Neste, werden nach dem Ausflattern noch eine Zeitlang geatzt, hierauf aber ihrem Schicksale überlassen.

Gut besetzte Reiheransiedelungen gewähren ein großartiges Schauspiel. »Es ist«, so ungefähr schildert Baldamus, »im Anfange des Juni; die Rohre haben eine Höhe von reichlich zwei Meter erreicht und überdeckenden trüben Wasserspiegel des weißen Morastes. Soweit das Auge reicht, schweift es über die Ebene, ohne einen Ruheplatz zu finden. Aber auf dem endlosen Grün und Blau stechen wundervolle, gelbe, graue, weiße und schwarze Gestalten prachtvoll ab: Silber-, Purpur-, Schopf- und Nachtreiher, Löffler, Ibisse, Scharben, Seeschwalben, Möven, Gänse und Pelekane. Auf den Bruchweiden und Pappeln, welche hier und da sich erheben, nisten die ersteren. Eine ihrer Ansiedelungen hat höchstens einen Umfang von einigen tausend Schritten, und die Nester sind nur auf hundert bis hundertundfunfzig Weiden zerstreut; aber viele dieser Bäume tragen zehn bis zwanzig Nester. Auf stärkeren Aesten der größeren Weiden stehen die Nester des Fischreihers, daneben, oft auf deren Rande ruhend, die des Nachtreihers; schwächere und höhere Zweige tragen jene des Seidenreihers und der Zwergscharbe, während tiefer unten auf den schlanken Seitenzweigen die kleinen, durchsichtigen Nester des Rallenreihers schwanken. Auf dem in Rede stehenden Horstplatze ist, wie gewöhnlich, der Nachtreiher am zahlreichsten vertreten, auf ihn folgt der Seidenreiher, der Fischreiher und endlich der Rallenreiher. Mit Ausnahme der Zwergscharbe sind alle so wenig scheu, daß wochenlang fortgesetztes Schießen sie nicht vom Platze vertrieben hat. Sie fliegen zwar nach einem Schusse ab, bäumen aber bald wieder auf, ja sie bleiben oft genug auf demselben Baume sitzen, welcher eben bestiegen wird. Hält man sich eine kurze Zeit in dem Kahne, unter den Bäumen, so beginnt bald das bunteste Treiben, und es folgen sich so überraschende und wechselvolle Auftritte, daß man nicht müde wird, dem nie gehabten Schauspiele zuzusehen. Zuerst klettern die Nachtreiher unter lebhaftem Geschreie und unter sonderbaren Grimassen von den oberen Zweigen auf ihre Nester herab, haben dies und jenes daran zurecht zu zupfen, die Eier anders zu schieben, sich nach allen Seiten hin umzudrehen und den großen, rothen Rachen gegen einen allzu nahe kommenden Nachbar unter heiserem Gekrächze weit aufzusperren; dann kommen die kleinen Silberreiher im leisen Fluge, die ser ein trockenes Reis zum Neste tragend, jener behend von [370] Zweig zu Zweig nach seinem Horste steigend, dazwischen in leichtem, eulenartigem Fluge die herrlichen gelben Gestalten der Schopfreiher; zuletzt nahen sich etwas vorsichtiger die Fischreiher. Das ist ein Lärm, ein Schreien, Aechzen, Knarren und Knurren durcheinander, ein Gewimmel von schneeweißen, gelben, grauen und schwarzen Irrwischen auf dem lichtblauen Grunde, daß Ohr und Auge verwirren und ermatten. Endlich wird es ruhiger; der Lärm nimmt ab. Die große Mehrzahl der Vögel sitzt brütend auf oder wachend neben dem Neste, nur einzelne fliegen, Neststoffe herbeitragend, ab und zu. Da fällt es plötzlich einem sich langweilenden Nachtreiher ein, irgend ein Reis von dem Neste seines Nachbars für das seinige passend zu finden, und das Geschrei, welches eben etwas verstummt war, beginnt von neuem. Wieder ein Piano; denn eigentliche Pausen gibt es da nicht. Woher nun jetzt das schreckliche Fortissimo? Sieh da, ein Milan, welcher funfzig Schritte davon seinen Horst hat, nimmt mit aller Ruhe in jeden seiner Fänge einen jungen Fischreiher. Der Alte geht murrend und drohend vom Horste, läßt den Räuber aber ruhig mit seinen Kindern davonziehen, während nur ein Versuch, seine gefährliche Waffe und seine Kraft anzuwenden, dieser und ähnlicher Schmarotzer Tod werden müßte. Einige Nachtreiher begleiten schreiend den unberufenen Friedensstörer; aber plötzlich ruft sie ein neues, stärkeres Geschrei zurück. Eine Elster hier, eine Nebelkrähe dort, hat sich die Entfernung zu nutze gemacht, um einige Eier fortzutragen. Die Nachbarn der beraubten erheben sich unter entsetzlichem Geschreie, während andere desselben Diebsgesindels über die eben verlassenen Nester herfallen und blitzschnell mit ihrer Beute davoneilen. Noch tönt das verworrene Angst- und Rachegeschrei; da rauscht es in der Luft und gebietet lautlose Stille. Der gewaltige König der Lüfte, ein mächtiger Aar, zog vorbei, hinüber nach jenem unzugänglichen Rohrdickichte, wo das laute Geschnatter der Gänse und Enten ebenso plötzlich verstummt. Drüben am Wiesenrande fällt ein Schuß, und die ganze Siedelung, bis auf die Nachtreiher, erhebt sich und mischt sich mit den tausenden, welche dort, aus dem feichten Wasser aufgeschreckt, flüchtig umherkreisen und sich endlich wieder niederlassen.«

In Deutschland verfolgt man die Reiher an allen Orten eifrig, da sie in unseren Gewässern mehr schaden als jeder andere thierische Fischjäger. Da, wo sich ein Reiherstand befindet, ist es üblich, alljährlich ein sogenanntes Reiherschießen anzustellen, bei welchem soviele Reiher getödtet werden, als man tödten kann. Die Jagd ist übrigens auch nur in der Nähe dieser Reiherstände ergiebig, da die Scheu und Vorsicht der alten Reiher Nachstellungen gewöhnlich zu vereiteln weiß.

Hier und da fällt es einem eifrigen Liebhaber auch wohl ein, junge Reiher aufzuziehen und zu zähmen. Er hat dann Gelegenheit, die sonderbaren Stellungen des Vogels zu beobachten, kann ihn auch zum Aus-und Einfliegen gewöhnen und dahin bringen, daß er sich den größten Theil seines Futters selbst sucht, wird aber schwerlich besondere Freude an ihm haben; denn diese gewähren nur die kleinen und schön gefärbten Arten der Familie, nicht aber die bei uns vorkommenden Fisch- und Purpurreiher. In Thiergärten sieht man namentlich die südländischen Arten, welche durch ihr Gefieder allerdings zu fesseln wissen. Viele Arten schreiten im Käfige zur Fortpflanzung.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Sechster Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Dritter Band: Scharrvögel, Kurzflügler, Stelzvögel, Zahnschnäbler, Seeflieger, Ruderfüßler, Taucher. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 368-371.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hume, David

Dialoge über die natürliche Religion

Dialoge über die natürliche Religion

Demea, ein orthodox Gläubiger, der Skeptiker Philo und der Deist Cleanthes diskutieren den physiko-teleologischen Gottesbeweis, also die Frage, ob aus der Existenz von Ordnung und Zweck in der Welt auf einen intelligenten Schöpfer oder Baumeister zu schließen ist.

88 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon