Schneeeule (Nyctea nivea)

[69] Die Schneeeule (Nyctea nivea, scandiaca, erminea und candida, Strix nyctea, scandiaca, arctica, nivea und Wapacuthu, Noctua nyctea und nivea, Syrnium, Syrnia und Surnia nyctea) ist achtundsechzig bis einundsiebzig Centimeter lang, einhundertsechsundvierzig bis einhundertsechsundfunfzig Centimeter breit; die Fittiglänge beträgt fünfundvierzig, die Schwanzlänge sechsundzwanzig Centimeter. Die Färbung ist je nach dem Alter verschieden. Sehr alte Vögel sind weiß, zuweilen fast ungefleckt oder höchstens mit einer Querreihe brauner Fleckchen am Vorderkopfe und einzelner auf den großen Schwingen, mittelalte auf weißem Grunde mehr oder weniger mit braunen Quer- oder auf dem Kopfe mit solchen Längsflecken gezeichnet, jüngere Vögel noch stärker gefleckt als letztere und auf der Ober- wie auf der Unterseite förmlich gesperbert.


Schneeeule (Nyctea nivea) und Bartkauz (Syrnium lapponicum). 1/5 natürl. Größe.
Schneeeule (Nyctea nivea) und Bartkauz (Syrnium lapponicum). 1/5 natürl. Größe.

Das Auge ist prächtig gelb, der Schnabel hornschwarz.

[69] Anstatt einer ausführlichen Angabe aller Gegenden und Länder, welche die Schneeeule bewohnt, brauche ich bloß zu sagen, daß sie ein Kind der Tundra, nach Norden hin aber beobachtet worden ist, soweit Reisende gegen den Pol zu vordrangen. In der Tundra tritt sie keineswegs überall in gleicher Menge auf. Auch ihr Vorkommen richtet sich nach der Häufigkeit oder verhältnismäßigen Seltenheit der Lemminge. Nächstdem liebt sie Ruhe und Einsamkeit, meidet also Gegenden, welche vom Menschen, ihrem ärgsten Widersacher, oft besucht werden. Daher tritt sie in Amerika, Lappland und Nordwestrußland häufiger auf als in Nordostrußland und Sibirien, woselbst man ihr, wenigstens in den von uns durchreisten Gegenden, ihres Fleisches halber arg nachzustellen pflegt. Während des Sommers hält sie sich hauptsächlich auf den nordischen Gebirgen auf; im Winter streicht sie in tiefer gelegene Gegenden hinab, und wenn der Schnee in ihrer Heimat sehr reichlich fällt und die Nahrung knapp wird, tritt sie auch wohl eine Wanderung nach dem Süden an. Auf den taurischen Hochsteppen stellen sich, laut Radde, zuerst die Weibchen ein und zwar bereits gegen Ende September; die Männchen folgen viel später. In Skandinavien kommt sie erst mit Einbruch des Winters in die Thäler herab. Regelmäßiger als die Sperbereule erscheint sie in südlicheren Gegenden, insbesondere in Deutschland. In Ostpreußen, namentlich in Litauen, kommt sie fast in jedem Winter vor; Westpreußen, Posen und Pommern besucht sie ebenfalls sehr regelmäßig, und auch in Dänemark erscheint sie nicht allzu selten, obwohl sie für gewöhnlich auf dem Wege dahin nur bis Südskandinavien vorzudringen pflegt. Auf den Britischen Inseln wandert sie wahrscheinlich von beiden Seiten, nämlich von Skandinavien und von Grönland her, im Winter ein; Südrußland, die Steppen Südsibiriens und der Mongolei, China und Japan besucht sie von der sibirischen Tundra, dem Süden der Vereinigten Staaten, Mittelamerika und sogar Westindien endlich von dem hohen Norden Amerikas aus. Unter Umständen verweilt auch sie ausnahmsweise während des Sommers im fremden Lande, um hier zu brüten. So wurde im Jahre 1843 auf der Kimcschener Flur im Ragniter Kreise in Ostpreußen von meinem Freunde, dem Rittergutsbesitzer Pieper, während der Pfingstferien auf einem Steinhaufen ein Schneeeulenhorst mit Eiern gefunden, und ebenso glaubt Hume, daß der Vogel dann und wann sogar in Indien, am Kabulflusse, horsten möge.

Eine Schneeeule in der Tundra ist ein herrlicher Anblick. Während unserer Reise durch die Samojedenhalbinsel hatten wir wiederholt Gelegenheit, den prachtvollen Vogel zu sehen. Die Schneeeule ist hier zwar minder häufig, als es, nach den bei allen Lager stellen der Ostjaken gefundenen Federresten zu urtheilen, der Fall sein müßte, kommt aber doch als Brutvogel durch das ganze Gebiet vor. Von anderen Eulen, insbesondere aber von der in der Tundra sehr häufigen Sumpfeule, unterscheidet man sie augenblicklich, erkennt sie überhaupt in jeder Entfernung. Ganz abgesehen von der bei Tage blendenden Färbung und bedeutenden Größe zeichnen sie ihre kurzen, breiten, stark gerundeten Flügel so bestimmt aus, daß man über sie nicht im Zweifel sein kann. Sie fliegt bei Tage wie bei Nacht und ist unter Umständen in den Nachmittagsstunden lebhafter als im Zwielichte des Morgens und Abends. Zu ihrer Warte wählt sie vorspringende Kuppen und Hügel, auf denen sitzend sie auch ihre weit vernehmbare, dem Geschrei des Seeadlers nicht unähnliche, gackernde Stimme oft ausstößt. Hier verweilt sie manchmal Viertelstunden lang, erhebt sich dann und zieht, abwechselnd mit den Flügeln schlagend und schwebend, fort, steigt, wenn sie einen weiteren Weg zurücklegen will, in Schraubenlinien bis zur Höhe eines Bergzuges auf und senkt sich sodann zu einem zweiten Hügel herab, um wiederum von ihm aus Umschau zu halten. Ihr Wohn- und Jagdgebiet scheint nicht sehr ausgedehnt zu sein, da wir sie im Laufe eines ganzen Tages auf wesentlich denselben Stellen beobachten konnten. Eine, welche ich erlegte, war das Männchen eines Paares, welches sich in dem gleichen Gebiete umhertrieb. Obwohl die Tundra der Samojedenhalbinsel äußerst spärlich bevölkert und demgemäß höchst unregelmäßig von Ostjaken und Samojeden durchzogen wird, zeigt sich doch die Schneeeule auffallend scheu, läßt mindestens den Europäer nicht ohne weiteres zu Schusse kommen. Der in Rede stehenden konnte ich mich nur dadurch nähern, daß ich sie mit dem Renthierschlitten anfuhr. Dieselbe Scheu behält sie, wie ich von meinen ostpreußischen [70] Jagdfreunden erfahre, in der Fremde bei. Auch hier meidet sie die Waldungen gänzlich und hält sie sich vorzugsweise auf den in den Feldern zusammengelesenen Steinhaufen oder den Weidenbäumen auf, welche die Landstraßen besäumen, ist aber stets äußerst vorsichtig. An Kühnheit und Dreistigkeit scheint sie alle übrigen Eulen zu überbieten. Hunde greift sie, nach Schraders Beobachtung, mit großem Ungestüme an und sticht auf sie hernieder wie ein Falk. Das von mir erlegte Männchen fiel flügellahm aus der Luft herab, bereitete sich hierauf sofort zum Angriffe vor und wehrte sich, als ich es aufnehmen wollte, in verzweifelter Weise. Heiser fauchend und heftig knackend empfing es mich, und als ich die Hand nach ihm ausstrecken wollte, hieb es nicht allein mit den Fängen, sondern auch mit dem Schnabel um sich, so daß ich genöthigt war, ihm den Gewehrkolben auf die Brust zu setzen und diese zu zerquetschen. Aber auch jetzt noch ließ es den Stiefel, in welchen es sich verbissen hatte, erst los, als ihm der Athem ausging.

Kleine Nagethiere, vor allen anderen Lemminge, außerdem Eichhörnchen, Pfeifhasen, Biberratten und dergleichen, bilden die Nahrung der Schneeeule; sie schlägt aber auch Thiere von Hasengröße. »An einem Vormittage im Anfange des April 1869«, schreibt mir Pieper, »sah ich wieder eine Schneeeule in großer Entfernung auf einem Steinhaufen sitzen und begann, um schußgerecht mich zu nähern, sie in der früher von mir erprobten Weise zu umkreisen. Beim Gehen über die Stoppel scheuchte ich einen jungen Hasen von der Größe einer Katze auf, und dieser lief zufällig gerade auf die Schneeeule zu. Obwohl ich nur noch einhundertfunfzig Schritte von letzterer entfernt war, stieß sie doch ohne Besinnen auf den etwa dreißig Schritte weit von ihr vorüberlaufenden Hasen, schlug ihn beim zweiten Stoße, schleppte ihn dicht über dem Erdboden weg, etwa hundert Schritte weiter, und setzte sich dann hier, um ihn zu kröpfen. Als ich mich bis auf etwa sechzig Schritte genähert hatte, wollte sie mit ihrem Raube weiterziehen; ich aber schoß sie aus der Luft herab. Der Hase war über der Mitte des Leibes zu beiden Seiten geschlagen und bereits verendet.« Truppweise geschart folgt sie den Lemmingszügen; paarweise oder einzeln bedroht sie Federwild aller Art. Schneehühner verfolgt sie mit Leidenschaft, nimmt angeschossene vor den Augen des Jägers weg, sogar aus dem Jagdsacke heraus; Waldhühner, Enten und Wildtauben sind ebenso wenig vor ihr gesichert, Fische nicht vor ihr geschützt. »Eines Morgens«, erzählt Audubon, »saß ich in der Nähe der Ohiofälle auf dem Anstande, um wilde Gänse zu schießen, und dabei hatte ich Gelegenheit, zu sehen, wie die Schneeeule Fische fängt. Sie lag lauernd auf dem Felsen, den niedergedrückten Kopf nach dem Wasser gekehrt, so ruhig, daß man hätte glauben können, sie schliefe. In dem Augenblicke aber, als sich ein Fisch unvorsichtig zur Oberfläche des Wassers erhoben, tauchte sie blitzesschnell ihren Fang in die Wellen und zog regelmäßig den glücklich erfaßten Fisch ans Land. Mit ihm entfernte sie sich sodann einige Meter weit, verzehrte ihn und kehrte nun nach der alten Warte zurück. Hatte sie einen größeren Fisch erlangt, so packte sie ihn mit beiden Fängen und flog dann weiter mit ihm als sonst davon. Zuweilen vereinigten sich ihrer zwei zum Verzehren der Mahlzeit, gewöhnlich wenn der von einer gefangene Fisch groß war«. Bei ihrer Jagd fliegt sie jedem Gegenstande zu, welchen sie in der Luft schweben sieht. »Ich brachte«, erzählt Holboell, »einmal eine solche Eule dahin mir fast eine Viertelmeile weit im Mondscheine zu folgen, indem ich meine Mütze wiederholt in die Luft warf.«

Die Fortpflanzung der Schneeeule fällt in den Hochsommer. Im Juni findet man die Eier, deren sie mehr legt als irgend ein anderer Raubvogel ihrer Größe. Wiederholt hat man sieben Stück in einem Horste gefunden; die Lappen behaupten jedoch einstimmig, daß die Schneeeule auch wohl acht bis zehn Stück lege. Collett bestätigt letzte Angabe und bemerkt, daß auch das Fortpflanzungsgeschäft der Schneeeule, wie ihr ganzes Leben, nach dem jeweiligen Auftreten der Lemminge sich richtet, so daß sie nicht allein da zu brüten pflegt, wo jene Nager sich besonders vermehrt haben, sondern auch in Lemmingsjahren mehr Eier legt, als in anderen. Wie es scheint, beginnt das Weibchen bereits zu brüten, während es noch legt; denn in einzelnen Nestern findet man Junge merklich verschiedener Größe. Die Eier sind etwa fünfundfunfzig Millimeter [71] lang, fünfundvierzig Millimeter dick und schmutzigweiß von Farbe. Der Horst ist eine seichte Vertiefung auf der Erde, welche mit etwas trockenem Grase und einigen vom Brutvogel selbst herrührenden Federn ausgefüttert wurde. Das Weibchen sitzt fest auf den Eiern und läßt den Menschen, welchem es sonst immer vorsichtig ausweicht, sehr nahe herankommen, nimmt auch wohl zu Verstellungskünsten seine Zuflucht, indem es sich auf den Boden wirft, als wäre es flügellahm geschossen und hier eine Zeit lang wie todt mit ausgebreiteten Flügeln liegen bleibt. Während das Weibchen brütet, hält das Männchen, in der Nähe auf einer passenden Warte sitzend, scharfe Umschau und warnt die Gattin bei dem geringsten Anzeichen von Gefahr durch lautes Schreien, infolge dessen sie augenblicklich das Nest verläßt und über demselben in Gemeinschaft mit dem Männchen, wie dieses fortwährend schreiend, stundenlang das Nest umfliegt. Bei dieser Gelegenheit offenbart das Männchen seine ganze Kühnheit, stößt wüthend auf den Eindringling, noch heftiger auf einen diesen begleitenden Hund herab und läßt sich nur schwer vertreiben, wogegen das Weibchen selten ebenso wie jenes sein Leben aufs Spiel setzt.

In Europa wird die Schneeeule wohl nur von Naturforschern und Jägern, denen Erlegung eines so großen Vogels besonderes Vergnügen gewährt, ernstlich gefährdet; in der Tundra der Samojedenhalbinsel dagegen verfolgen sie Ostjaken und Samojeden regelrecht, fangen sie mit Hülfe riesiger Sprenkel und verzehren ihr Wildpret mit Behagen.

Schneeeulen im Käfige gehören zu den Seltenheiten, dauern auch nur ausnahmsweise vier bis sechs Jahre in Gefangenschaft aus. Im Vergleiche zu anderen Verwandten sind sie munterer und auch bei Tage lebendiger als andere Arten gleicher Größe, fliegen gern im Käfige auf- und nieder und ertragen den Blick des Beschauers, ohne sich darüber sonderlich zu erbosen. Reizt man sie freilich, dann werden auch sie sehr ärgerlich und knacken und fauchen ebenso wüthend, wie andere ihrer Zunft. Ein Liebhaber will Schneeeulen mit Adlern zusammengesperrt und bemerkt haben, daß sich diese natürlichen Feinde wohl vertrugen.


*


Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 69-72.
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