Schwebeweih (Ictinia mississippiensis)

[680] Der Schwebeweih (Ictinia mississippiensis, Falco, Milvus und Nertus mississippiensis) ist siebenunddreißig Centimeter lang und fünfundneunzig Centimeter breit; die Fittiglänge beträgt neunundzwanzig, die Schwanzlänge dreizehn Centimeter. Kopf, Hals, Armschwingen und die ganze Unterseite sind bleifarben, wobei zu bemerken, daß der Kopf von der Stirne an, die Armschwingen von der Spitze her aus Silberweiß allmählich in die angegebene Färbung übergehen; die übrigen Theile, mit Ausnahme der schwarzen Zügel und Augenlider, haben vorherrschend dunkel bleigraue Färbung, welche auf den kleinen Oberflügel- und den Oberschwanzdecken, den Handschwingen und Steuerfedern in Grauschwarz übergeht. Die Wurzeln der Kopf-, Hals-, Schulter-, Brust- und Bauchfedern sind weiß, wodurch bei Verschiebung des Gefieders unregelmäßige Flecke hervortreten, die Handschwingen außen mit einem undeutlich begrenzten braunen Streifen, innen mit großen braunen Flecken verziert. Beim Weibchen sind die hellen Farben dunkler, beim jungen Vogel, welcher dem Weibchen ähnelt, trüber als beim Männchen. Das Auge ist blutroth, der Schnabel schwarz, der Fuß karminroth.

Das Verbreitungsgebiet des Schwebeweihes beschränkt sich auf den äußersten Süden und Südwesten der Golfstaaten von Nordamerika. Einzelne haben sich von hier aus bis Südkarolina, andere bis nach Mississippi und weiter nördlich verflogen, andere sind hier und da im Lande erlegt worden; ihr wirkliches Heimatsgebiet aber sind die angegebenen Länder Texas und Mejiko.

»Wenn der Frühling kommt«, so erzählt uns Audubon, »stellt sich auch der Schwebeweih in dem Gebiete des edlen Stromes ein, dessen Namen er trägt, und wandert seinen Ufern entlang bis gegen Memphis hin. In Louisiana erscheint er um die Mitte des April in kleinen Flügen zu fünf oder sechs und macht sich an den Ufern der Ströme in den Wäldern seßhaft. In das Innere des Landes geht er nicht. Pflanzungen, welche erst kürzlich angelegt wurden und in der Nähe von einem [680] Gewässer liegen, scheinen ihm vor allem zu behagen. Sein Flug ist anmuthig, kräftig und anhaltend und führt den Vogel oft in so große Höhen, daß nur der Schwalbenweih ihm es gleich thut. Oft schwebt jener ohne alle Bewegung in der Luft und zieht regelrechte Kreise, oft wieder jagt er mit plötzlich zusammengelegten Flügeln wie ein Pfeil schief nach unten und stößt dabei bis zum Berühren an Baumzweigen vorüber, auf denen er eine kleine Eidechse oder ein Kerbthier wahrnahm; zuweilen sieht man ihn auch rund um den Wipfel oder Stamm eines Baumes mit bewunderungswürdiger Gewandtheit fliegen, in der Absicht, eine Beute aufzunehmen; dann und wann bewegt er sich im Zickzack, als ob er von einem gefährlichen Feinde verfolgt würde, und manchmal scheint er sich zu überstürzen wie eine Tümmlertaube.


Schwebeweih (Ictinia mississippiensis) und Schwalbenweih (Nauclerus forficatus). 1/3 und 1/6 natürl. Größe.
Schwebeweih (Ictinia mississippiensis) und Schwalbenweih (Nauclerus forficatus). 1/3 und 1/6 natürl. Größe.

Wenn er wandert, fliegt er unstät dahin und zieht gewöhnlich ein Gefolge von Schwalben nach sich; zu anderen Zeiten sieht man ihn in großer Höhe unter den Flügen von Krähen und Aasgeiern, manchmal auch in Gesellschaft des Schwalbenweihes kreisen. Den Aasgeier neckt er gern, bis der Feigling niederfliegt, um dem behenden Weih das ihm unangenehme Spiel zu verleiden. Bei Verfolgung eines großen Kerbthieres, eines Kriechthieres oder kleinen Lurches dreht er seinen Leib zur Seite, streckt die Füße mit geöffneten Fängen aus und packt seine Beute gewöhnlich fast augenblicklich. Er frißt im Fliegen, anscheinend mit ebensoviel Behagen und Bequemlichkeit, als wenn er gebäumt hätte. Den Boden betritt er nie, so lange er gesund ist. Er greift niemals Säugethiere an, obwohl es ihm Vergnügen gewährt, einen Fuchs unter lautem Geschrei und wiederholtem Herabstoßen zu verfolgen; auch Vögel läßt er unbehelligt.« Der[681] Haupttheil seiner Nahrung besteht, laut Ridgway, aus verschiedenen Cikaden und Heuschrecken, zu denen gelegentlich kleine Schlangen kommen. Nicht immer packt er seine Beute mit den Fängen, ebenso oft benutzt er hierzu auch den Schnabel.

Der Horst des Schwebeweihes wird stets auf den obersten Zweigen des höchsten Baumes angelegt, vorzugsweise auf den prachtvollen Magnolien und Weißeichen, welche ein Schmuck aller südlichen Staaten sind. Er ist ein einfacher Bau, welcher dem der gemeinen Krähe ähnelt und aus leicht über einander geworfenen Zweigen besteht, welche oben mit spanischem Moose, Rebenrinden und trockenen Blättern belegt sind. Die zwei oder drei Eier sind rundlich und auf grünlichem Grunde über und über mit tief chokoladenbraunen und schwarzen Flecken gezeichnet. Ein Ei, welches Ridgway untersuchte, ist vierzig Millimeter lang, fünfunddreißig Millimeter dick, also sehr rundlich, und gänzlich ungefleckt. Beide Alten brüten und lieben die Jungen so warm, daß sie dieselben gegen jeden Feind und auch gegen den Menschen mit Muth vertheidigen. Audubon erfuhr, daß ein Paar, dessen Horst er stören ließ, wiederholt hart am Kopfe des emporkletternden Negers vorüberstieß. Die Jungen ähneln schon nach dem Ausfliegen den Eltern und erhalten ihr volles Kleid bereits vor ihrer Abreise nach der Winterherberge.

Der Schwebeweih ist durchaus nicht scheu und läßt sich, wenn er aufgebäumt hat, bequem unterlaufen, aber nicht immer ohne Mühe erlegen, weil er gewöhnlich fliegt und im Fluge sich fast regelmäßig außer Schußweite hält. Auch wenn er aufbäumt, wählt er stets die höchsten Wipfel im Walde, so daß nur ein Schuß mit der Büchse ihn mit Sicherheit in die Gewalt des Jägers bringt. Verwundet sucht er sich nach Art aller Falken zu vertheidigen.


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Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Vierter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Erster Band: Papageien, Leichtschnäbler, Schwirrvögel, Spechte und Raubvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 680-682.
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