Habichtsadler (Nisaëtus fasciatus)

[638] Der Habichtsadler (Nisaëtus fasciatus, grandis, niveus und strenuus, Aquila fasciata, Bonelli, intermedia und rubriventer, Falco Bonelli und ducalis, Spitzaëtus grandis, Pseudaëtus, Eutolmaëtus und Tolmaëtus Bonelli, Aquilastur Bonelli) erreicht etwa die Größe des Schelladlers: seine Länge beträgt siebzig, die Breite einhundertfünfundvierzig, die Fittiglänge fünfundvierzig, die Schwanzlänge sechsundzwanzig Centimeter. Das Weibchen ist um acht Centimeter länger und um reichlich zehn Centimeter breiter. Im ausgefärbten Kleide sind Stirn und ein Streifen über dem Auge weiß, Scheitel und Nacken auf braunem Grunde dunkler gestreift, Unterhals und Oberrücken weiß, mit schwarzbraunen Flecken an den Federkanten, die Mantelfedern einfarbig dunkelbraun, die des Unterrückens schwarzbraun, die Oberschwanzdecken weißlich und braun gemarmelt, Kehle, Brust und Bauchmitte auf weißem Grunde durch schwarze Schaftflecke, die Hosen aber durch breite, dunkle, zackige Bandflecke gezeichnet, die inneren Schenkel wie die Laufbefiederung rostbräunlich und grau gewellt, mit schwarzen Längsflecken, die Schwingen schwarzbraun, leicht purpurn scheinend, die Handschwingen innen an der Wurzel weiß, dunkelbraun gebändert und gemarmelt, die Armschwingen innen unregelmäßig grau gefleckt und gewässert, die Steuerfedern, abgesehen von den mittleren, fast einfarbig braunen, auf der Oberseite graubraun, mit weißgesäumter Endbinde und sieben schmalen, zackigen, dunklen Querbinden, auf der Unterseite weißgelblich überlaufen und braungrau getüpfelt. Im Jugendkleid ist der Scheitel lichtröthlich, der Nacken fahlroth, der Mantel lichtbraun, jede Feder fahlgelb gesäumt, der Schwanz auf der Oberseite aschgraubraun und neun- bis zehnmal quer gebändert und weiß gesäumt, die ganze Unterseite auf blaßgelblich rostbraunem Grunde durch feine dunkle Schaftstriche gezeichnet, der Bauch schmutzig röthlichweiß und ungefleckt. Das Auge ist erzgelb, der Schnabel hornblau, die Wachshaut schmutzig-, der Fuß graugelb.

[638] Der Habichtsadler, welcher ebenfalls schon in Deutschland erlegt worden ist, bewohnt ziemlich häufig Südfrankreich, Spanien, Portugal, Süditalien, Griechenland und die Türkei, Nordwestafrika, ebenso wahrscheinlich Turkestan und ganz Indien, vom Himalaya an bis zum äußersten Süden. In Griechenland und Süditalien ist er nicht selten, in Spanien und Algier der häufigste Adler. Waldlose Gebirge mit steilen Felsenwänden bilden hier seine Wohnsitze; in Indien haust er vorzugsweise in hügeligen, mit Dschungeln bewachsenen Gegenden.


Habichtsadler (Nisaëtus fasciatus). 1/5 natürl. Größe.
Habichtsadler (Nisaëtus fasciatus). 1/5 natürl. Größe.

Er wandert nicht, streicht aber während der Brutzeit im Lande umher und vereinigt sich dabei oft in Gesellschaften von ziemlich bedeutender Anzahl: mein Bruder sah einmal ihrer zwanzig über dem königlichen Lustgarten Pardo bei Madrid dahinziehen. Am Horstplatze duldet auch dieses Adlerpaar selbstverständlich kein anderes oder überhaupt keine anderen Raubvögel.

Der Habichtsadler ist ein außerordentlich gewandter, muthiger, kühner, ja ein dreister, frecher Vogel, welcher geistig dem Habicht vollkommen ähnelt, ihn aber durch leibliche Begabungen vielfach übertrifft. Sein Flug ähnelt mehr dem eines Edelfalken als dem eines Adlers, und die schlanke Gestalt des Vogels trägt noch wesentlich dazu bei, eine derartige Meinung aufkommen zu [639] lassen. Er kreist zwar auch nach Adlerart, fliegt aber mit viel rascherem Flügelschlag und deshalb auch weit schneller als alle übrigen mir bekannten Mitglieder seiner Familie. Im Stoßen saust er wie ein Pfeil vom Bogen durch die Luft. Nur im Sitzen trägt er sich weniger edel als andere Adler, nämlich mehr wagerecht, vorn niedergebeugt; doch nimmt auch er oft eine sehr aufrechte Stellung an. Sein Blick ist nicht bloß lebhaft, sondern brennend. Wuth und Wildheit leuchten aus seinem Auge heraus, und sein Gebaren widerspricht diesem Eindrucke nicht. Er vereinigt die Schnelligkeit des Falken mit der Gewandtheit des Sperbers, den Muth des Adlers mit der Mordsucht des Habichts, fürchtet sich vor keinem anderen Vogel und greift jeden an, welcher in seine Nähe kommt, sei es, um ihn zu vertreiben, oder sei es, um sich seiner zu bemächtigen. Mein Bruder sah ihn sich wüthend mit dem Geieradler balgen, Krüper ihn auf Seeadler, höchst gefährliche Gegner, mit demselben Eifer stoßen wie auf langhälsige Geier; ich lernte ihn als Verfolger des Kuttengeiers und des Steinadlers kennen. Wahrscheinlich streitet er sich mit jedem Raubvogel überhaupt.

Seine Jagd gilt, wie ich glaube, ebenso vielen Thieren wie die Jagd des Steinadlers. Temminck, sein erster Beschreiber, läßt ihn einfach auf Wassergeflügel stoßen; der Habichtsadler begnügt sich jedoch keineswegs mit einem so beschränkten Wildstande. In Spanien ist er der gefürchtetste Feind der Haushühner, erhebt sie unmittelbar vor den Augen des Menschen, und verfolgt sie mit einer Hartnäckigkeit, daß er den Hühnerbestand mancher einsam gelegenen Bauernhöfe buchstäblich vernichtet. Den Tauben stellt er nicht minder eifrig nach. Säugethiere bis zur Größe eines Hasen werden von ihm ohne Unterlaß bedroht. »Einmal«, so erzählt Taczanowski, »in der Nähe des Wüstenwaldes Sada in der Provinz Konstantine, sahen wir, wie ein Weibchen auf einen Wüstenhasen losschoß, ihn mit einem Griffe tödtete und dem hinzueilenden Männchen nicht erlaubte, an dieser Beute theilzunehmen. Ein anderes Mal, während der Jagd mit Falken auf Kragentrappen, bemerkten wir, daß die Falken nicht auf die Beute losschießen wollten: der Grund davon war, daß plötzlich ein Habichtsadler aus der Höhe heranflog und sofort den Kragentrappen tödtete.« In Indien jagt er, laut Jer don, Hasen, Dschungelhühner, Reiher, Enten und andere Wasservögel, nach der Behauptung der Schikaris auch Nimmersatts, nach der Versicherung der eingebornen Falkner sogar deren zahme oder abgerichtete Falken. Jerdon selbst sah ihn in den Nilgerris nach einander, weil die Dichtigkeit des Dschungels seine Angriffe vereitelte, jedoch vergeblich auf einen Hasen, ein Dschungelhuhn und einen Pfau stoßen. Ein Paar besuchte dort regelmäßig ein Dorf, um daselbst Hühner zu fangen. Elliot versichert, gesehen zu haben, daß zwei Habichtsadler einen Pfau fast überwältigten, wenigstens zu Boden warfen. »Großen Schaden«, sagt Jerdon, »richtete ein Paar in den Taubenhäusern in den Nilgerris an. Ich erfuhr, daß eins oder zwei dieser Häuser vollständig durch sie entvölkert worden waren. Der Taubenfang der Habichtsadler geschieht nach dem Bericht von Augenzeugen in folgender Weise. Wenn die Tauben die Flucht ergreifen, stürzt sich einer dieser Adler aus einer bedeutenden Höhe herab, nimmt aber seine Richtung mehr unter den Tauben, als geradezu in den Schwarm hinein. Sein Gefährte verwerthet den Augenblick, wenn die Tauben durch den ersten Stoß in Verwirrung gerathen sind, und stößt mit untrüglicher Sicherheit auf eine von ihnen herab. Der andere hat sich inzwischen von neuem erhoben und thut nun einen zweiten, ebenso verhängnisvollen Stoß.«

Alle Thiere, denen der Habichtsadler nachstellt, kennen seine Furchtbarkeit wohl und suchen dem Räuber deshalb so schleunig als möglich zu entgehen. »Wenn ich«, erzählt Powys, »gut im Riede verborgen an den Seen Albaniens auf Enten und Wasserhühner lauerte, habe ich oft bemerkt, welchen Eindruck das Erscheinen eines Habichtsadlers hervorbrachte. Alle Wasservögel bekümmerten sich kaum um die Rohrweihen, welche über ihnen dahinschwebten, und erhoben kaum ihr Haupt, wenn sich ein Schreiadler zeigte; sobald aber ein Habichtsadler sichtbar wurde, rannten die Wasserhühner in der bekannten Weise dem Riede zu; die Enten drückten sich mit wagerecht niedergebeugtem Halse platt auf das Wasser, und Warnungs- und Angstrufe wurden laut von allen Seiten, bis der

[640] Tyrann vorüber war. Ich habe zweimal gesehen, daß diese Raubvögel sich auf Vögel stürzten, welche ich verwundet hatte, bin aber niemals im Stande gewesen, einen Schuß auf sie anzubringen.«

Der Horst steht, wie es scheint, stets in Höhlungen steiler Felsenwände, an möglichst gesicherten Stellen. Krüper untersuchte einen, welcher in der Felsenhöhle eines griechischen Gebirges stand und zwei Eier enthielt. Das Bauwerk war aus kleinen Zweigen des wilden Oelbaumes, aus einigen Blättern der Stecheiche zusammengetragen und die Nestmulde mit den Dunen des Vogels belegt. Die beiden Eier waren in Färbung und Korn verschieden, denn das eine war fleckenlos und schmutzigweiß, das andere reinweiß mit kleinen deutlichen Flecken. Als auffallend hebt Krüper hervor, daß der betreffende Horst den Strahlen der Mittagssonne ausgesetzt und die Höhle deshalb ungemein erwärmt war. Oberst Irby beobachtete mehrere Jahre nach einander das einzige Pärchen, welches an den Felsen Gibraltars brütet, und erfuhr, daß auch die Habichtsadler mit den Horsten zu wechseln lieben. In den Jahren 1869 und 1871 benutzten sie einen Horst, welcher ungefähr hundert Meter über dem Fuße der Felsen stand, in den Jahren 1870 und 1872 dagegen einen zweiten höher gelegenen. Im Jahre 1873 war der Oberst von Gibraltar abwesend; nach seiner Rückkehr, im Jahre 1874, fand er, daß das Paar sich einen ganz neuen Horst gegründet hatte. Mit dem Baue des Horstes geben sich die Habichtsadler wenig Mühe, versäumen aber nie, den oberen Theil wiederholt mit frischen, grünen Olivenzweigen zu belegen. In welcher Weise sie dieselben abbrechen, scheint Irby nicht klar geworden zu sein. Einzelne, welche er am Fuße der Felsen auflas, waren durchnagt, als ob eine Ratte sie abgebissen hätte. Mit der Ausbesserung beschäftigen sie sich in der Regel schon von Weihnachten an, obgleich das Weibchen erst frühestens Anfang Februar zu legen beginnt. Im Jahre 1871 wurde das erste der beiden Eier am fünften Februar gelegt, und die Jungen entschlüpften am sechzehnten März, also nach vierzigtägiger Bebrütung. Beide Gatten des Paares brüten abwechselnd, sitzen auch oft gleichzeitig auf dem Horste. Die Eier drehen sie mit dem Schnabel um, und daher rühren eingekratzte Striche, welche man an länger bebrüteten Eiern sehen kann. Eier, welche unser Beobachter in den Jahren 1873 und 1874 den Horsten entnehmen ließ, waren wundervoll mit rothen Strichen und Punkten gezeichnet und unter sich so ähnlich, daß man sie sofort als die eines und desselben Weibchens erkennen mußte. Nicht alle Horste, welche Irby untersuchte, standen in bedeutender Höhe oder auf unzugänglichen Stellen, mehrere konnten im Gegentheile ohne sonderliche Anstrengungen erstiegen werden. Auch in Indien brütet der Habichtsadler regelmäßig auf Felsen.

Es läßt sich erwarten, daß die Habichtsadler ihre Jungen mit demselben Muthe vertheidigen, welchen sie sonst offenbaren; einen Menschen aber, welcher die Brut bedroht, scheinen sie doch nicht anzugreifen.

Während meines Aufenthaltes in Spanien erhielten wir zweimal lebende Habichtsadler. Der eine, ein alter Vogel, war auf einem mit Leimruthen zum Sperlingsfange hergerichteten Baume gefangen worden, nachdem er sich sein ganzes Gefieder mit dem Leime zusammengekleistert hatte; sein Fänger hatte ihn jedoch so mißhandelt, daß er nach wenigen Stunden, welche er in unserer Pflege verlebt hatte, seinen Geist aufgab. Der andere, ein junger Vogel, welchen der Fänger, wie er sagte, ausgehoben hatte, war bereits vollständig befiedert und schien schon alle Eigenschaften alter Vögel zu besitzen. Wir brachten ihn in einen Käfig, welcher bisher einen Steinadler, einen schmutzigen Aasgeier, einen Bartgeieradler und eine Dohle beherbergt hatte. Unter dieser eigenthümlichen Genossenschaft hatte bisher die größte Einigkeit geherrscht, sie wurde aber durch den Habichtsadler augenblicklich gestört. Dieser geberdete sich wie rasend, tobte im Käfig umher, versuchte mit allen Genossen anzubinden, warf sich, wenn diese ihm auf den Leib rückten, auf den Rücken und hieb mit den Klauen nach jedem seiner Kameraden. Die kecke, muntere Dohle wurde das erste Opfer des Wütherichs: eine Stunde nach seiner Ankunft hatte er sie bereits im Magen. Gegen uns benahm er sich ebenso ungestüm wie gegen seine Gefährten und griff uns ebenfalls ohne Besinnen an. Auch sein Betragen im Käfige erinnerte an das des Habichts.

[641] Jerdon meint, daß dieser Adler wahrscheinlich leicht zur Jagd von Antilopen, Hasen, Trappen und ähnlichem großen Wild abgerichtet werden könne, und hat wahrscheinlich Recht; denn derselbe gefangene, von dem ich oben sprach, zeigte sich später im Frankfurter Thiergarten als liebenswürdiges und zutrauliches Geschöpf.


*


Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Vierter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Erster Band: Papageien, Leichtschnäbler, Schwirrvögel, Spechte und Raubvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 638-642.
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