VI.

[276] In meinem eigenen Hause blieb zwar das Leben fortwährend in gewohntem Gange, doch das »Organon« wuchs nun mehr und mehr seiner Vollendung entgegen, und indem mich auch dies abermals an so manche darüber geäußerte Gedanken von Frau von Lüttichau erinnert, kann ich nicht umhin, hier doch auch die Notiz beizubringen, daß jene merkwürdige Stelle über das unbewußte Seelenleben, welche ich in der zweiten Ausgabe der »Psyche« als Anmerkung beigefügt habe, ebenfalls einem ihrer Denkbücher entlehnt ist, als welche überhaupt einen solchen Schatz feiner und tiefgehender Bemerkungen enthalten, daß es im höchsten Grade erwünscht sein würde, wenn ein sattsam befähigter Geist aus diesem reichen Vorrate einst die zweckmäßige Auswahl träfe und veröffentlichte.

Indem ich nun zu meinen eigenen Arbeiten zurückkehre, muß ich doch sagen: es wäre jedenfalls unrecht, wollte ich hier zwar der Entstehung des ebengenannten »Organon« so ausführlich und wiederholt gedenken und nicht zugleich besonders hervorheben, daß in dem gegenwärtig besprochenen[276] Jahre 1855 nun endlich auch die große, vor dreißig Jahren begonnene Arbeit meiner »Erläuterungstafeln für vergleichende Anatomie« zu ihrem völligen Abschluß gelangte; ein Werk, welches ich mit seinen 74 großen Kupfertafeln und 1076 Figuren das größte und vollständigste der gesamten Literatur komparativer Anatomie nennen darf und das ich freilich ohne Ottos, d'Altons und einiger anderer Mitarbeiter Hilfe schwerlich zu vollenden vermocht hätte. – Kommen ja doch in jedem reichern Leben von Zeit zu Zeit Perioden vor, wo man nach einer oder der andern Richtung einen Haltpunkt setzen und sich abgrenzen muß – so also ich hier für meine vergleichenden anatomischen Forschungen, denen ich mich zwar bereits seit einem Jahrzehnt nach und nach mehr entfremdet fühlte, jetzt aber erst vollständig Lebewohl sagte.

Dabei traf es sich nun gut, daß eben in dieser Zeit ein weitläufiger Verwandter von mir, ein Enkel jenes Friedrich August Carus, bei welchem ich noch vor 50 Jahren Psychologie gehört hatte, in Leipzig den Lehrstuhl der vergleichenden Anatomie (den ich eigentlich im Jahre 1811 dort zuerst aufgerichtet hatte) nun zu übernehmen begann, ja auch dort durch ein Buch über »Morphologie« sich sehr vorteilhaft bekannt gemacht hatte. Diesem Professor, namens Victor Carus, bestimmte ich daher nun (gleichsam um für mich selbst die Versuchung zur Rückkehr in solche frühere Studien gänzlich aufzuheben) auch die Verwaltung meiner gesamten vergleichend anatomischen Präparate, fertigte über diese Sammlung eine Schenkungsakte an die Leipziger Universität aus und erhielt von dieser alsbald ein besonderes und förmliches Danksagungsschreiben; denn da bisher unsere einzige Landesuniversität noch keine Art von vergleichend anatomischem Museum besaß (ein Mangel, den ich für die Ehre sächsischer Wissenschaftsbestrebungen schon lange schwer empfunden[277] hatte), so mußte ihr freilich die wirkliche Begründung eines solchen als ein wichtiges Geschenk erscheinen, wenn auch die Sammlung an und für sich keineswegs so sehr bedeutend genannt werden durfte. – Damit ich nun aber gleich alles Weitere über diese Angelegenheit hier vollends zusammenfasse, so füge ich noch bei, daß im Herbst vorigen Jahres Professor Victor Carus selbst hierherkam, das Verzeichnis der Präparate vollendete, selbige bestens packen ließ und sie so, in zehn großen Kisten, durch die Eisenbahn nach Leipzig sendete, allwo sie jetzt, neu aufgestellt und schon mannigfaltig vermehrt, hoffentlich noch manchem eifrigen Studiosus zugute kommen soll.

Nach all diesem gegenwärtig mich wieder zum Jahre 1855 wendend und ohne jetzt noch insbesondere auch meiner damaligen praktischen Tätigkeit zu erwähnen, welche, obwohl sie jetzt schon nicht mehr den Umfang der früheren Jahre ganz erreichte, doch immer noch bedeutend genug blieb, um fortwährend meine ärztliche Erfahrung zu vermehren, kehre ich mich nun auch noch einmal gegen meine künstlerischen Bestrebungen, die nach wie vor, von Zeit zu Zeit, jene geistige Erfrischung mir darzubieten nicht verfehlten, welche bei immer fortgesetzter einseitiger Geistestätigkeit im höhern Alter nur gar zu leicht nachläßt, ja endlich wohl gänzlich vermißt wird.

Es waren aber namentlich vielfältige Phantasmagorien, wie sie zumal in stillen Dämmerungsstunden mir durch den Kopf gingen, welche sich häufig in der Form von Kohlenzeichnungen fixierten, an sich aber jetzt auch viel an Konzentration und Durchbildung gewonnen hatten.

Von ganz besonderer Wichtigkeit war es mir ferner, als einige Monate später der Vater dieser Kunstgattung für Deutschland, Professor Schirmer, Direktor der Kunstschule zu Karlsruhe, selbst hier eintraf und sofort durch[278] Freund Hübner mir zugeführt wurde. Er brachte nebst Hübner und Rietschel einen Abend bei uns zu, sah meine Zeichnungen mit aufrichtiger Teilnahme und vielem Interesse durch und zeichnete zum Andenken und um noch manche Vorteile der Behandlung mir deutlich zu machen, vor meinen Augen in Zeit einer reichlichen halben Stunde selbst eine Waldpartie bei untergehender Sonne von meisterhafter Wirkung, ein Blatt, welches noch jetzt meinem Portefeuille zu besonderer Zierde gereicht und viel beigetragen hat, fortwährend die Lust zu erhalten, manchen solchen Wolkenbildern der Phantasie eine etwas dauerndere Existenz zu bereiten.

War dies nun schon für mich eine große Genugtuung, so erwartete uns alle in der Stadt auch insofern eine besondere Freude, als das neue Museum, insoweit es die Gemäldegalerie einschließt, jetzt eben eröffnet und somit zum allererstenmal auch für den Winter zugänglich gemacht worden war. – Schon seit ein paar Jahren war ich mit Spannung diesem allmählich immer weiter vorrückenden Baue gefolgt, noch im letzten Sommer schon, ehe man noch einzuräumen begann, hatte ich an der einfachen großartigen Pracht der Eintrittshalle mit ihren geschliffenen Porphyrsäulen mich gefreut und an der Anlage der groß und frei aufsteigenden Treppe sowie der durchaus trefflich erleuchteten Säle mich geweidet, aber nun war ja alles wirklich fertig! – Eingezogen in diese Prachträume und frisch gereinigt, leuchteten die lange gekannten Bilder in solchem Oberlichte wie durchaus neue Erscheinungen und eröffnet war somit ein würdiger, für Jahrhunderte vorhaltender Tempel der Kunst, in vornehmer und doch zugleich vollkommen liberaler Weise! – O gewiß, in einer Welt, wo so selten irgend etwas recht Genügendes und Vollständiges reif wird, ist es allzeit ein erquickender und stärkender Genuß, in solchen Atmosphären das Auge[279] nach vollem Belieben läutern und baden zu können. Datiert denn doch auch die Gedankenfolge, aus welcher späterhin jener Aufsatz über die Sixtinische Madonna sich gestaltete, der bei Künstlern und Gelehrten sehr viel Anklang fand und ein ganz neues Moment in diesem wunderbaren Werke Raffaels aufdeckte, ganz aus diesen Tagen; denn die neuen Räume und das so viel schönere Licht ließ manches jetzt klar erkennen, was früher sich der Betrachtung großenteils entzogen hatte.

Indes, gleichsam als sollte es nicht genug sein an diesem erhöhten Genuß alter Meister, so trat fast zu gleicher Zeit ein merkwürdiges Kunstmeteor der Jetztwelt hervor in der Person der Ristori, welche in der ersten Hälfte des Monats November mit ihrer italienischen Gesellschaft durch den Kunstsinn und die Liberalität des Intendanten, Herrn von Lüttichau, viermal hier auftrat und an allen drei Abenden, da ich sie sah, mich so eigentümlich erregte, daß ich viel darüber niederschrieb.

Es geht mir mit dieser Frau wie mit Italien selbst. Als ich es zum erstenmal sah, stieß es mich fast ab, um späterhin aber mich aufs höchste zu begeistern. Das Vorwalten der Nationalität in der Ristori bringt mich zurück auf Betrachtungen über Nationalität in der Kunst überhaupt. Wenn man sagen darf, daß unter den höhern Stämmen der Menschheit der Deutsche für das Denken, der Franzose für das Sprechen, der Engländer für das Tun in besonderm Maße ausgestattet sei, so muß man dafür dem Italiener vorzugsweise das Expressive der schönen Gestalt lassen und ihm zugestehen, daß selbst auf seinen untersten Stufen kein anderes Volk diese Naturgabe habe, in den Betonungen der Worte wie in den Gesten allen und jeden Vorgängen des Gemütslebens Offenbarung im Äußern geben zu können. Ein solches Vermögen wächst nun natürlich mit der Vollendung der Organisation; und[280] von hier aus übersehe ich nun erst vollkommen das ungeheuere Talent dieser Frau, wo Gedanken und Gefühle gleichsam ein inneres Feuer werden, welches das ganze Körperliche zu durchglühen und zu durchleuchten auf das beste geeignet bleibt.

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 2. Band. Weima 1966, S. 276-281.
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