VII.

[281] Die letzten Wochen des ablaufenden Jahres hatte ich der Ausarbeitung eines Vortrags über »Lebenkunst« gewidmet. War mir doch der Begriff einer Kunst, das Leben überhaupt würdig zu führen – es nicht nur zu schützen gegen tausend Zufälligkeiten, Schwächen und Schädigungen, sondern überhaupt seinen innern Gehalt schön und tüchtig herauszubilden, seit lange schon als eine, ja geradezu als die wichtigste Aufgabe des Menschen erschienen, freilich aber in diesem Sinne so gut wie gar nicht bisher bearbeitet worden. Allerdings fehlte es daher nicht an Gesundheitskatechismen, Diätetiken, Makrobiotiken usw., aber dies alles war weit entfernt von dem Sinne, in welchem ich mir eine wahre Lebenkunst ausgeführt dachte, welche dann keineswegs allein das Körperliche, sondern den ganzen Menschen – und zumal das, was uns in ihm das Wichtigste sein soll, das Seelische – ins Auge zu fassen haben würde; eine Aufgabe, für welche sich mir sogleich die uralten, von tiefer Weisheit eingegebenen Sprüche vom Tempel zu Delphi als wichtigstes Teilungsprinzip für die einzelnen Abschnitte entgegendrängten.

Daß ich nun übrigens gerade jetzt an die Ausführung einer solchen Arbeit ging, dazu gab der überall segensvoll hinwirkende Sinn der Königin Maria die nächste Veranlassung. Diese hohe Frau nämlich hatte gewünscht, den[281] Frauenvereinen des Erzgebirges für Linderung dortigen Notstandes unter andern auch dadurch Unterstützungen zuzuführen, daß mitunter Vorträge gehalten würden, deren Ertrag dann jenen Vereinen übergeben werden könnte. Auch ich war zu einem Vortrage dieser Art aufgefordert worden, und nachdem mich wie gesagt das obgenannte Thema schon längst besonders interessiert hatte, widmete ich ihm hier zunächst eine kürzere Durchführung, bis späterhin dasselbe in mehr erweiterter Form1 auch dem größern Publikum zugänglich geworden ist.

Die erste kürzere Bearbeitung trug ich zunächst einem kleinen Kreise im Hause von Frau von Lüttichau vor, wo ich mich großer und allgemeiner Zustimmung erfreute. Es war der letzte Abend, den ich mit all den Meinigen in der Nähe dieser geistig so eigentümlich einwirkenden Freundin verlebte, und wer hätte damals nicht glauben sollen, daß eine so vielseitig durchgebildete und lebendige Individualität noch auf viele Jahre die Zierde ihres Hauses bleiben müßte, obwohl es so ganz anders in den Sternen geschrieben stand.

Am 3. Januar 1856 hatten wir in meinem Hause noch einmal Gelegenheit, das tiefsinnige Werk von Sebastian Bach, dessen bereits früher gedacht worden ist (Konzert auf drei Flügeln mit Quartettbegleitung), zu bewundern, zugleich aber zu beklagen, daß gerade Sachen dieser Art, in welche man sich eigentlich erst durch vielmaliges Hören wirklich einarbeiten kann, so selten gehört werden. – Es ist nämlich ohne Widerrede mit den Repetitionen in der Musik überhaupt eine ganz eigene Sache! Und ich habe wohl kaum je mehr mich überzeugen können, daß der selige Kotzebue ein, zumal hinsichtlich der Musik, höchst[282] vernachlässigter Geist war, als bei einer Stelle, wo er sich darüber lustig macht, daß die Musiker sich so häufig erlauben, durch ein Wiederholungszeichen einzelne Sätze zweimal (ja zuweilen mehrmal) repetieren zu lassen. Gerade so (meint er), als wenn ein Dichter anordnen wollte, daß gewisse Strophen oder Verse seines Gedichts immer zwei- oder mehreremal gelesen werden sollten. – Die Sache ist aber die, daß alle Musik, eben weil sie eigentlich an sich keiner Worte bedarf, sondern am besten bloß »in süßen Tönen« denkt, ganz notwendig Repetitionen gewisser Sätze (zum Beispiel der ersten Hälfte des ersten Satzes einer Sonate oder eines Quartetts) haben muß, nur damit dieses sich tiefer einprägen und der Geist nun besser folgen kann, wenn der darauf kommende Satz nun den vorhergehenden in vielfachen und reichen Modulationen aufs neue durchgeht und in reizenden Verschlingungen es uns vorstellig werden läßt, welchen Reichtum von Gedanken eigentlich schon die Melodien des ersten Satzes enthalten hatten. –

War doch überhaupt jener Winter in engen und weiten Kreisen vielfach mit Vorträgen und Vorlesungen bedacht! Und in all diesen heitern Unternehmungen nun brach ganz unerwartet am Morgen des 1. Februar jenes traurige und höchst erschütternde Ereignis hervor ...: der plötzliche Tod von Frau von Lüttichau! Es war ein Tod, welcher so schnell erfolgte, daß bei meiner Ankunft, die doch fast unmittelbar nachher statthatte, nicht das leiseste Lebenszeichen mehr vorhanden war und eine rasch noch geöffnete Ader kein Blut mehr ausgab.

Gewiß, das ganze Wesen dieser Frau war ein durchaus merkwürdiges und seltenes! – Es wurde mir einige Zeit später noch ein Blatt von ihrer Hand bekannt, wo sie schreibt: »Ich fühle, daß es jeden Moment mit mir aus sein kann. Dies ist das Krankhafte, was seit zwei Jahren[283] durch mein Leben geht und wovon mich kein äußeres Raisonnement mit allen scheinbar gewichtigsten Gründen abbringen kann, weil es meine innerste Empfindung ist. Wie der recht gesunde Mensch sich selbst innerlich nicht fühlen muß, in demselben Maße fühle ich umgekehrt immerwährend meinen ganzen Organismus, wie er abwechselnd erregt und abgespannt ist, jeden Nerv, ja ich möchte sagen das innere Getriebe der ganzen Maschine. Daher auch ein ewiges Vibrieren; Tonschwingungen wie auf Aeolsharfen von den Elementen erregt, und so ist mein ganzes Leben vor Gott nur wie ein kranker Hauch. Durch Konstellationen, durch wunderbare Fügungen wird dies Wesen äußerlich zusammengehalten, daß es nicht zusammenbricht in Atonie aller Kräfte. Wie man sprichwörtlich sagt, das Leben hänge an einem losen Faden, so fühle ich es immer organisch in mir: ein Schreck, jeder Zufall, jedes Ereignis, ja ein Gedanke könnte mich töten, denn meine ganze Vitalität hat sich im nervösen System konzentriert, und so hat Carus recht, wenn er mich zuweilen eine Spinnwebennatur nennt.«


Im Frühjahr 1856 trat mein »Organon der Erkenntnis der Natur und des Geistes« ans Licht; ein Buch, dessen Ausarbeitung ich in den letztverflossenen zwei Jahren alle meine besten Mußestunden gewidmet hatte und dessen Inhalt viel mit denkenden befreundeten Geistern durchgesprochen worden war. Es lag jetzt übersichtlich vor und gab mir das eigen befriedigende Gefühl, in diesen reinen, ja abstrakten Regionen doch nie den Boden eines gewissen, im höhern Sinne organischen Gedankenganges aus den Augen verloren zu haben. – Von außen fehlte es zwar nicht an Widersachern, welche insbesondere eine Art handwerksmäßigen philosophischen Machwerks vermißten, durch dessen nebelhaften Nimbus man (ganz im Gegensatz[284] freier platonischer Dialoge) in unsern Tagen so oft Philosophie vom Leben gänzlich absperren möchte. Übrigens lag jetzt noch immer auf unserm Familienleben eine eigene trübe Stimmung, teils durch alles Vorhergegangene, teils durch ein Erkranken meiner nun schon uns allen sehr liebgewordenen Schwiegertochter, wodurch wir Eltern namentlich um die Erwartung eines Enkels uns getäuscht sehen sollten. Meine gute und treffliche Frau insbesondere wurde von all diesem schwer angegriffen, so daß ich natürlich um so lieber jede Gelegenheit zu ergreifen pflegte, wodurch irgend Bewegung in solche stagnierende und oft weit um sich greifende Zustände gebracht werden konnte.

Glücklicherweise boten bald zwei ungesucht herantretende Umstände Veranlassung dar, einige größere Lebendigkeit in unser stilles Leben einzuführen. Der eine wurde gegeben dadurch, daß Freund Reichenbach die eben jetzt ein paar Tage in Dresden weilende Ida Pfeiffer, die durch ihre vielen und weiten Wanderzüge berühmt gewordene Reisende, einst bei uns einführte und mit ihr zusammen ein kleines Mittagsmahl bei uns annahm; und das andere war, daß ich mich zu einer Konsultation nach Berlin eingeladen fand, wohin eine früher selbst Dresden bewohnende und meines ärztlichen Rates hier genießende Familie, welche eben durch eigene Krankheitszustände schwer beunruhigt wurde, mich dringend verlangt hatte.

Bevor ich sodann übrigens jenem Rufe zu einer ärztlichen Beratung nach Berlin folgte, traf es sich auch noch, daß am Palmsonntag wieder jenes wunderbare Werk Beethovens, die neunte Symphonie, aufgeführt wurde, und nachdem ich schon früher davon immer aufs nachhaltigste angeregt worden war und auch manche Gedanken darüber niedergeschrieben hatte, so sollte ich doch diesmal wieder eine neue Erfahrung dabei machen! – Die schweren Verluste,[285] die die verflossenen Jahre uns gebracht hatten, mußten notwendig auch manches in mir umgestimmt und vertieft haben und – wie es zuletzt jedes ernste Mahnen des Schicksals soll – war der Geist zwiefach empfänglich geworden für großartige Rührungen der Seele und näheres Verständnis des eigentlichen Pathos, dessen rechte Fülle und Erhabenheit in dem großen Adagio vielleicht auf gewaltigere und mehr unmittelbare Weise zutage bricht als in irgendeinem andern Kunstwerke, welches von Menschen geschaffen worden ist.

Unmittelbar nach Ostern ging ich also auf einige Tage nach Berlin, sah täglich die Familie, welche früher schon eine Reihe von Jahren vertrauensvoll und sehr zu ihrem Besten meinem Rate nachgelebt hatte, und verwendete die übrigbleibende Zeit dazu, möglichst von alledem Kenntnis zu nehmen, was mir in so weniger Zeit erreichbar werden konnte und mich schon oftmals interessiert hatte.

Daß niemand in dieser Beziehung mir näherstand als mein lieber alter Freund Rauch, kann man denken! – Sorglich hatte der Treffliche schon vor meiner Ankunft im Hotel Nachfrage über mein Eintreffen gehalten und verdankte ich ihm denn auch bei diesem kurzen Verweilen die reichsten und besten Stunden. – Sein größtes Werk, das Monument Friedrichs des Großen, sah ich erst diesmal ganz vollendet im Freien und kann nicht sagen, wie eigentümlich es so in reinem frischem Morgenlicht auf mich wirkte! – Es wird immer eins der außerordentlichsten Werke bleiben, die in dieser Art aus dem Geiste eines Künstlers hervorgegangen sind.

Sobald ich frei war, holte mich denn der treue Freund selbst ab, um mich zunächst in die Kunstwelt einzutauchen. – Zuerst in sein Atelier! Was war da nicht alles wieder geschaffen worden! An die Marmorgruppe »Moses, Hur und Aaron, den Sieg herabflehend auf ihr Volk«[286] legte er eben die letzte vollendende Hand. Ferner gedieh da eine Nymphe, in Marmor lebensgroß und schön durchgeführt, sehr zur Freude meiner Augen, und ebenso taten es die mannigfaltigen Wiederholungen seiner Viktorien. Sodann sah ich zum erstenmal seinen »Kant«, seine schöne Marmorbüste Alexanders von Humboldt, jene prächtig gegossenen und ziselierten alten Könige von Polen und so manches andere, was denn alles beitragen wird, seinen Namen mit unvergänglichen Zügen in die Tafeln der Kunstgeschichte einzuzeichnen.

Ein zweiter Gang mit ihm galt dem Neuen Museum, wo er mich mit Herrn von Olfers bekannt machte, welcher mir alsbald einen Einblick in die damals sich erst vervollständigende, so überaus schön und zweckmäßig eingerichtete und mich besonders interessierende ethnographische Sammlung gab, mich auch zugleich das nunmehr in seiner Ausstattung ganz vollendete Ägyptische Museum bewundern ließ und einiges Neuangekommene, besonders Wichtige mir dort bemerklich machte. Es ist wirklich höchst anerkennenswert, welche Summen und mit wie großartigem Sinne sie hier verwendet werden, um jeden, der über diese Fächer Arbeiten vorhat, es zur unerläßlichen Pflicht zu machen, gerade hierher seine Studien zu wenden! – Namentlich muß ich noch einmal auf die ethnographische Sammlung zurückkommen – diese tausendfältigen Jagd-, Fischerei- und Kriegsgeräte, mit denen der Mensch auf so verschiedenen Kulturstufen und unter so verschiedenen Himmelsstrichen das kurze Leben zu erhalten, zu zerstören oder zu bereichern bemüht ist, die mannigfaltigen Arten der Wohnungseinrichtung und Kleidung, die Erleichterungsmittel des Verkehrs usw., zu wieviel bald ernsten, bald humoristischen Betrachtungen geben sie nicht Veranlassung! Gedanken, die uns deshalb hier um so leichter kommen, weil die Gegenstände in ihrer musterhaften[287] Anordnung (so sind zum Beispiel gleich die Schränke für die Produkte der verschiedenen Weltteile jedesmal durch verschiedene Farben bezeichnet) hier so gar übersichtlich vorliegen und der Vergleichung untereinander sich gleichsam von selbst darbieten.

Und wie vieles war nun ferner in den eigentlichen Museumsräumen, seit ich nicht hier war, teils fertig geworden, teils neu entstanden oder angekauft worden! Unter letzterm gab nichts mehr zu denken als die Plastik der alten Assyrer mit ihren seltsam kolossalen geflügelten Stierkörpern, ihren unendlich gekräuselten Bärten, ihren wunderlich historischen Reliefs von Jagden, Schlachten und Belagerungen und ähnlichem mehr. Dachte man dabei an die hohe Einfachheit griechischer Kunst, wie sie dann kaum ein halbes Jahrtausend später in der Periklesperiode Griechenlands sich kundgab, so kamen einem unfreiwillig auch Parallelen genug, bald aus der Geschichte der Poesie und bald der Malerei in die Gedanken.

Unter den Werken Kaulbachs, welche großenteils auf mich die mächtigere Wirkung als Kartons geübt hatten, befriedigte mich in Farbenton und meisterhafter Ausführung doch eigentlich allein vollkommen die Hunnenschlacht; denn sehr eigentümlich fand ich dort das Visionsartige des Ganzen mit echt künstlerischer und eigen plastischer Durchführung im einzelnen merkwürdig verbunden.

Doch ein besonderer Genuß stand mir jetzt immer noch bevor, denn der treffliche Rauch führte mich nun auch zum erstenmal in das neue Kupferstich- und Handzeichnungskabinett und machte mich mit dessen Direktor Herrn Schorn bekannt und ließ mich nur die Kürze der Zeit beklagen, welche hinderte, mehr als einen ganz flüchtigen Überblick hier gesammelter Schätze zu nehmen. So kam es daher, daß ich eigentlich von vielem hier diesmal[288] Nur ein einziges, aber ganz vortreffliches Blatt, und zwar von Ruisdael, in den Gedanken behalten habe – eine schwach kolorierte und getuschte Federzeichnung –, die Aussicht auf alte kleine Stadtgärten und seltsame baufällige Hintergebäude in einer kleinen holländischen Stadt wiedergebend. Alles, was in solchen einfachen Gegenständen an Meisterhaftigkeit, Originalität und interessanter Auffassung des Ganzen geleistet werden kann, dürfte man hier als gelungen aussprechen, und als ich endlich, nunmehr meinen sonstigen Tagesaufgaben nachgehend, mich verabschieden mußte, hatte ich doch die Befriedigung, wieder einmal einen ganz neuen und durchaus naiven Eindruck eines früher nicht gekannten Kunstwerks erhalten zu haben.

Ein anderer Tag war von mir in seinen Freistunden für Besuche mehrerer alter Freunde bestimmt; ich sah Ehrenberg, Weiß, von Raumer und den Nestor aller, Alexander von Humboldt; ja ich sah hier den letztern und Geheimrat Weiß zum letztenmal, denn in nicht allzu langer Zeit schon nahm sie beide der Tod hinweg. Alexander von Humboldt war mit mir und einigen andern, wie ja sonst täglich, an jenem dritten und letzten Tage in Berlin nach Charlottenburg zur königlichen Tafel befohlen. Als ich ihm jedoch noch vor Tisch meinen Besuch machte, vertraute er mir, daß er diesmal durch eine Geburtstagsfeier im Mendelssohnschen Hause abgehalten sei zu erscheinen, worüber mir übrigens später noch eine hübsche kleine Begebenheit erzählt wurde, die ich um so mehr hier aufbewahren möchte, als sie für die (oft vielfach angegriffene) Gemütsseite in Humboldt gewiß bedeutungsvoll genannt werden darf. Seit langer Zeit nämlich war Humboldt, wie vielen vornehmen Berliner Häusern, auch dem Mendelssohnschen Hause, ja diesem besonders, befreundet. Einmal nun kommt er zu Mendelssohn und sagt ihm beiläufig,[289] wie ihm das Unangenehme begegnet sei, daß das Haus, in welchem er seit lange wohne (Oranienburger Straße 67) verkauft worden und er somit zum Ausziehen genötigt werde. – Nun, wer irgendeinmal bei Humboldt war, weiß, wie sehr seine ganze zweite Etage mit Büchern, Herbarien, Karten, Naturalien, Bildern, mathematischen und physikalischen Apparaten usw. überfüllt zu sein pflegte, und ahnt deshalb, was für einen fast Neunzigjährigen es heißen müsse, da an Ausziehen zu denken! Indes, Mendelssohn spricht diesmal nicht weiter darüber, und beide trennen sich wie gewöhnlich. Nach einigen Tagen kommt indes Mendelssohn zu unserm Nestor und sagt ihm, er möge sich beruhigen und nicht an Ausziehen denken, er habe das Haus sofort selbst gekauft, und je länger er es bewohne, um so mehr werde es ihm Freude machen. Mit Darangeben mehrerer Tausende hatte also dieser echte Freund dem andern die Ruhe der Wohnung erhalten, und dieser hatte eine solche wahre Freundestat so fest im Gedächtnis behalten, daß er von nun an um so fester und inniger der Mendelssohnschen Familie attachiert blieb. – Übrigens fand ich diesmal Humboldt trotz seiner 88 Jahre sehr munter und wie immer sehr mitteilend und lebendig. Er wollte mich gern veranlassen, den Abend mit zu Frau von Bülow zu kommen, wo ich auch die schöne Caggiotti, jene Malerin, welche ihm ihr Bild verehrt und das seinige gemalt hatte, kennenlernen sollte, doch mußte ich leider absagen, da am andern Morgen meine Rückreise bestimmt war.

Noch am Tage vor dem Charlottenburger Diner hatte mich Rauch übrigens diesmal hinausgefahren in die mit Recht berühmten Borsigschen Gewächshäuser; und sie mußten mir merkwürdig sein, teils an und für sich – denn sie waren im neuesten Stil, hauptsächlich von Eisen, mit eisernen Galerien und Treppen erbaut und mit den seltensten[290] und prächtigst gehaltenen Orchideen, buschigen und baumartigen Farnkräutern sowie mit Palmen und neuholländischen Pflanzen erfüllt – teils aber auch durch ihre Begründung ganz im Fleiße, in der Anstelligkeit, Geschäftskenntnis und überhaupt recht eigentlichen Tüchtigkeit eines einfachen Bürgers, eines Mannes, dessen Vermögen und Fabriken bei seinem Tode auf 6 Millionen Taler gewürdigt wurden und nun unter Leitung eines rüstigen Sohnes immer noch reichlich sich vermehrten.

Nach Charlottenburg war diesmal auch Rauch eingeladen, und so fuhren wir denn zusammen hinaus, fanden uns in den angenehmen Räumen dieses kleinen Schlosses an einer Tafel von 21 Personen, unter welchen außer den sich mir auch diesmal sehr huldreich zeigenden Majestäten Graf und Gräfin Dönhoff, Graf Finkenstein und Graf Dohna schon bekannt waren, während ich außerdem noch den kunstliebenden Grafen Raczynski sowie Professor Curtius (welcher vor seinem Abgange nach Göttingen sich hier noch einmal eingeladen fand) nun kennenlernte. Übrigens hatte ich nach der Tafel noch die traurige Aufgabe, hier wieder, wie früher bei von Raumer, teils der Königin selbst, teils Gräfin Dönhoff, die nähern Umstände des Todes von Frau von Lüttichau mitteilen zu müssen, hatte aber auch die Befriedigung, mich von der vollen Anerkennung dieser bevorzugten Individualität überzeugen zu können.

Und doch gab es jetzt noch auf meiner Rückfahrt mit Rauch nach Berlin ebenfalls ein schmerzliches Thema durchzusprechen, nämlich das über die Gesundheit dieses teuern Freundes selbst. – Aus manchen Anzeichen hatte ich nämlich bei ihm schon früher Verdacht geschöpft, daß er einer ernsten Kur bedürftig sein werde, da das Bild des Leidens, welches ihn nur ein paar Jahre später wirklich hinwegraffte (bei der Autopsie fanden sich nicht weniger[291] als neun ziemlich große Blasensteine), sich durch manche Infirmitäten dem Erfahrenen schon mit ziemlicher Bestimmtheit andeutete. – Ich benutzte diese kleine Fahrt dazu, ihm dringend zuzureden, einer genauen Untersuchung sich zu unterwerfen und zu dem Ende baldmöglichst nach Dresden sich zu begeben, wo ich ihm einen vorzüglichen Arzt für gerade diese Leiden, empfehlen würde, erhielt auch ein vorläufiges Versprechen in dieser Beziehung; allein seine große Tätigkeit, die Menge von Kunstideen, die ihm noch vorschwebten, das Gewicht der Zeit vorzüglich, alles dies machte, daß er später dies Versprechen weiter und weiter hinausschob – bis endlich – wie die Welt weiß – es leider zu spät war und wir ihn selbst verloren.

1

In dieser Gestalt erschien das Ganze 1862 bei Türk in Dresden unter dem Titel »Die Lebenkunst nach den Inschriften des Tempels zu Delphi«.

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 2. Band. Weima 1966, S. 281-292.
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