VI.

[355] Voltagio, 1. September mittags


So liegt denn Genua hinter uns, der Weg zeigt wieder nach Norden, und sehnsüchtig schweift der Blick nach vorwärts, nach den Geliebten der Heimat!

Der vorletzte Abend in Genua war noch einer der anmutigsten. Nach rüstig vollbrachter Tagesarbeit gingen wir zum Hafentor, die Sonne war unter, das duftige Zwielicht eines ziemlich bewölkten, aber farbigen Himmels schwebte über dem Meere, über der Hafenmauer ragte der Wald der Masten und Segelstangen hervor, in dem feinen Violettgrau des Spätabends, welches Schiffe, Meer und Hafengebäude halb einhüllte, wurden hier und da einzelne Lichtpunkte sichtbar, die großen, schiefgehängten, in einen Knopf sich endigenden Segelstangen der Barken standen schön zu den weiter entfernten geraden Kauffahrteimasten, und dazu nun die tiefe Ruhe des Abends, das sanfte Wiegen der Feluken untereinander, die großen Gewitterwolken, welche, am Horizonte hingelagert, noch an die Schwüle des Tags erinnerten, sie bildeten ein Ganzes, das sich mir tief eingeprägt hat.


Mailand, 3. September


Unsere Begleitung hierher machte diesmal eine römische Familie von vier Personen, eine Frau mit ihrem Manne, einem Knaben und einer schon erwachsenen Tochter, welche als Sängerin von einem Theater zum andern geführt zu werden schien, wenigstens haben alle schon seit langer Zeit keine eigentliche Heimat mehr und sahen denn auch etwas romanhaft und ärmlich aus, obwohl das Mädchen ihren kleinen seidenen Hut recht nett zu tragen wußte und überhaupt sich anmutig darstellte, ohne sonst eben sehr hübsch zu sein. Der Vater mit dem Knaben[356] saß auf dem Bocke, und wir plagten uns von Zeit zu Zeit, mit den beiden Damen etwas italienisch zu radebrechen. Sie selbst sprachen es sehr rein und verständlich.


Mailand, 4. September


Gestern sind wir hier angekommen und werden morgen weiterziehen. Auf der Brera hatte man indes die moderne Kunstausstellung geöffnet, und natürlich verfehlte ich nicht, sie zu besuchen. Hier nun in den herrlichsten Sälen, auf geschmackvolle und zweckmäßige Weise in guter Beleuchtung verteilt, stehen die ausgestellten Arbeiten der Beschauung einer Volksmenge offen, welche zu mehrern Hunderten in diesen Räumen sich ganz frei und gemächlich ergeht! Und daß dabei die großen üppigen Gestalten der vornehmen Mailänderinnen im höchsten Staate nicht versäumen sich zu zeigen, kann man denken.

Was die ausgestellten Werke selbst betrifft, so läßt sich wenig davon rühmen. Zwar Farbenpracht, Glätte der Ausführung, Handfertigkeit fast in allen Bildern; dagegen auch französierendes Wesen, ein überall durchstechender Mangel höherer Intention und Untergang in genußsüchtiger Sinnlichkeit. Eine dem Göttlichen entfremdete Seele spricht mehr oder weniger überall sich aus, und das treue einfache Halten am Wahren und Reinen suchst du vergebens. – Es gab viele Landschaften, aber fast alle nur im obigen Sinne.


Castellanza (auf der Straße nach dem Simplon),

5. September mittags


In einer Laube von ehrlichem Rüstergebüsch und in einem Garten, der seiner Physiognomie nach ebensogut drei Meilen von Leipzig als drei Meilen von Mailand[357] liegen könnte, soll eine magere Kollation von Früchten und Wein den Staub und Lärm der Landstraße vergessen machen. Zu sonstiger Erquickung greife ich nach dem Tagebuche.

Wir waren gestern nochmals auf der Brera, nachdem ich früh Farnese besucht und die geliehenen anatomischen Instrumente richtig wieder abgegeben, auch mit ihm einen Besuch bei Morlacchi, seinem teuern Cugino, dem sächsischen Kapellmeister aus Dresden, gemacht hatte. Morlacchi gefiel mir nicht übel, er ist geistreich und offen, und wenn auch seine Werke der wahren Musik im höhern Sinne des Wortes nicht angehören, so ist doch ein eminentes Talent gar wohl kennbar. Er lebt jetzt auf einige Zeit hier, um eine Oper für Venedigs Karneval zu komponieren, und denkt dann nach Dresden zurückzukehren. Seine Wohnung in einem schönen Gebäude am Corso, mit Aussicht nach schattigen Gärten, war anmutig genug. Überrascht fand ich mich etwas, in seinem Vorzimmer eine junge Mohrin Wäsche plätten zu sehen. Es war ein höchstens fünfzehnjähriges, zartes Geschöpf, deren samtene Haut bei ihrem feinen Nationalgesicht und ihrer weißen Kleidung einen eigenen, interessanten Anblick gewährte.

Nun noch ein letzter, kurzer Besuch bei den alten Bildern der Brera, vorzüglich bei Luini, Raffael, Guercino und Vitti. – Raffaels Verlobung allein wiegt die Beschwerden einer ganzen italienischen Reise auf! Ich entdeckte noch hier die Kopie von Vincis »Cena«, welche dem Original fast gleichgeschätzt wird: sie ist in vieler Hinsicht dürftig und trocken, wenn man des herrlichen Urbildes gedenkt, doch ziehe ich sie immer noch der großen modernen Kopie vor, welche im ersten Studiensaale hängt und mit einer Farbenpracht und weichlichen Eleganz prangt, welche bei dieser Aufgabe doppelt lästig wird.
[358]

Arona, 5. September abends


Auf dieser Straße zum Simplon wird schon hinter Castellanza das Land immer hügeliger, blaue Gebirgsrücken kündigen das Annähern der Alpen an, und der Lago Maggiore wird als Silberstreif sichtbar. Bei Sesto setzen wir über den aus dem See tretenden grünen Ticino und gelangen bei Sonnenuntergang hierher in ein Wirtshaus, dicht am See gelegen, wo wir der anmutigsten Aussicht uns erfreuen.

Tiefe Dämmerung senkt sich nun über den breiten Spiegel des Gewässers, dunkel ragt gegen uns über auf schroffen Felsen Angera, und weithin strecken sich die Ketten der Alpen, über denen ein Spätrot des Abends schimmert. Es ist alles so still. In der Bucht vor unsern Fenstern schwankte noch eine Barke bei leisem Wellenschlage des Sees, und ganz im Vorgrunde öffnet sich die alte gezackte Mauer, welche den kleinen Hafen umschließt, mit zwei Türmen zum Hafentore. Ein einsames Licht schimmerte in dem einen Turme über der Wasserfläche. Es war mir lange nicht so beruhigt, so friedlich zu Sinne wie diesen Abend!


Domodossola, 6. September abends


Mit verändertem Vetturin, städtischen Pferden und zur Genüge betrogen, zogen wir heute früh aus Arona. Die schöne Straße läuft von da dicht am Seeufer hin, immer sich gleich, schon hier mit häufigen granitenen großartig ausgeführten Brücken versehen. – Bei Stresa werden die Borromeischen Inseln sichtbar, und wir steigen zu Kahn, um nach der gepriesenen Isola bella zu fahren. Herrliches meerartiges Wogen dieses grünkristallenen Sees; köstliche, duftige, schön gezeichnete Bergrücken in Osten; vor uns Isola bella mit seinen wunderlichen Terrassen, ganz von Lorbeer, Zitronen und Orangen umgrünt, dahinter die schneebedeckten Gipfel der Alpen![359]

Wir landeten an der breiten Treppe des noch jetzt vom Grafen Borromeo bewohnten Schlosses und fanden uns auf dem Vorhofe eines mäßig großen, im altfranzösischen Stil erbauten Palastes. Sein unteres Gestock ist zu Grotten benutzt, deren Wände und Fußböden mit kleinen bunten Kalkgeschieben ausgelegt sind. Hin und wieder sind in Nischen Marmorstatuen von Schülern Canovas aufgestellt, am besten bleibt aber immer die außerordentliche Aussicht über den See hin. Es folgt dann ein auch etwas überladener Saal, mit weißem Marmor ausgelegt, und endlich eine Reihe geschmacklos verzierter, zum Teil mit schlechten Gemälden behangener Zimmer, alles an das Zeitalter Ludwigs XIV. erinnernd.

Es sind jetzt ungefähr 150 Jahre, daß diese wunderlichen Baulichkeiten entstanden, indem man einen nackten Gneisfelsen durch Überwölbung zu Terrassen umschuf und mit Erde mühsam bekleidete. Die Wahl des Orts hätte schwerlich glücklicher, der architektonische Geschmack der Ausführung schwerlich unglücklicher sein können!

So ruderten wir zurück nach Fairolo am Ufer des Sees, wo der Wagen uns erwartete, welcher gegen Abend durch herrliche Alpentäler hierher nach Domo uns führte.


Schweiz


Brieg, 8. September


Der Simplon sollte ganz zu Fuß überwandert werden. Gestern früh daher, bei leichtbewölktem schönem Morgenhimmel, zogen wir, unsere Bündel auf dem Rücken, aus Domo hinaus, über tauige Fußpfade längs des Tales hin, und zwar noch eine Stunde lang auf ziemlich ebenem Boden. Weiter fängt sich die Straße an zu erheben, aus tiefen Felsschluchten hervor stürzt reißend die Variola,[360] und eine auf kolossalen Pfeilern ruhende Brücke geleitet bequem den Wanderer über den Abgrund.

Wo abermals die Straße sich stärker erhebt, kommt man durch eine zweite kürzere Felsengalerie und gelangt nach Iselle, dem letzten sardinischen Orte mit einem Grenzamte. Ein Knabe bot Granaten, wie sie hier im Glimmer und Feldspat öfters vorkommen, zum Verkauf; wir brachten einige an uns. Bald darauf trafen wir auf den Rest einer im Frühjahr niedergestürzten Lawine. Selbst die schwüle Luft dieses heißen Tales hatte sie nicht ganz zu schmelzen vermocht. So immerfort allmählich zwischen den an ihren Häuptern von Sommerwolken umspielten Felswänden aufsteigend, gelangten wir zum ersten deutschen, dem Kanton Wallis zugehörigen Dorfe. Es ist ein recht eigentliches Gebirgsdorf! Unscheinbar liegen die grauen, von Steinen beschwerten Hütten zwischen den mächtigen Gebirgsmassen. Ein inmitten des Dorfes abgesondert liegendes Wirtshaus ist turm- oder kirchenartig, mit vielen Stockwerken übereinander, in die Höhe gebaut, offenbar des vielen Schnees wegen, welcher im Winter diese Täler erfüllen mag.

Immer mehr wird nun das Tal eine bloße Felsschlucht; der Weg windet mit gleicher Schönheit sich höher und höher, und endlich gelangt man zu einem von rechts herabstürzenden Wasserfall, welcher, die Straße kreuzend, schäumend der links in jäher Tiefe tobenden Variola zueilt. Ein Brückenbogen führt sicher über den stäubenden Fall, und durchnäßt vom Sprühen des Gewässers tritt man in die längste Felsengalerie dieser Bergstraße, welche, in ihrer Mitte zu Tage geöffnet, einen Blick in das neben ihr herabstürzende Wasser gestattet. Weiter oben fließt nun der Gebirgsbach ruhiger, man trifft abermals auf ein Refuge (schon weiter unten stehen mehrere große, mit Kaminen versehene massive Gebäude zum Dienst der Reisenden)[361] und gelangt durch eine vierte Galerie nach dem Dorfe Gesteig. Einzelne zerstreute Hütten zwischen öden, auf ihren Häuptern nur mit Flechten bekleideten Felsen bilden dieses Dorf. Die Straße wendet sich jetzt mehr nördlich, und bald erreicht man Dorf Simpeln, an welches schon ein zum Fletschhorn gehöriger Gletscher nahe heranreicht. Zierlich spielten die Wolken um die dunkeln Alpenhörner, die Luft war kalt, und wir freuten uns, vor einbrechender Dämmerung im Bereich eines trefflichen Wirtshauses zu sein.

Früh bei nebeligem Wetter schieden wir wieder von dannen, und seltsam jagten jetzt die grauen Wolken sich um uns her. Immer noch hebt sich die Straße, obwohl wenig. Gebirgsbäche stürzen schäumend zwischen Felstrümmern und Lärchenbäumen daher, Wolken ziehen in mancherlei Bildungen, Herbstnebeln ähnlich, dahinter; Gletscher reichen zur Linken tief herab, und an roh unter Felsblöcke hineingebauten Häusern fesselt ein einfältiglich wacker geschnitztes Kruzifix die Aufmerksamkeit des vorübereilenden Wanderers. – Die Straße selbst ist größtenteils öde; dunkelfarbige Kühe und gewaltige Schafe, meist auch dunkelfarbig, weiden hier und da am Wege. Einige Frauen begegnen uns, in deren kleinen runden Filzhüten und wunderlich steifen Kleidern schon die schweizerische Nationaltracht sichtbar wird.

So erreichen wir denn, immer von Wolken umspielt, das etwas tiefer links vom Wege abliegende Hospitium, wo zwei Bernhardinermönche mit ihren Doggen stets zum Wohle der Fremden beschäftigt sind. – Wir konnten nicht vorüberziehen, ohne von der Gastfreundlichkeit dieser wackern Männer eine Erfahrung mitzunehmen, und kehrten vertrauensvoll ein. Das Hospiz, ein altes, dunkles, wieder turmartig in mehrern Stockwerken aufgerichtetes Gebäude, gewährte einen unfreundlichen Eintritt. In Gesellschaft[362] einer französischen Magd und eines häßlichen Kretin blieben wir in der dumpfigen rauchgeschwärzten Unterstube bis zum Eintritt des Geistlichen. Es war ein sechzigjähriger, munterer Mann, über dessen schwarzer Kutte ein weißes Ordensband mit blauer Schleife vom Halse und rechter Schulter nach der linken Hüfte herabhing. Wohlwollend empfing er uns und führte uns ins obere Zimmer, wo wir mit Brot, Käse und Wein freundlich bewirtet wurden. Der gute Mönch er zählte, wie er nun bereits 14 Jahre hier auf dem Simplon wohne und wie er 18 Jahre vorher auf dem St. Bernhard zugebracht habe, während welcher ganzen Zeit er nicht einer einzigen Krankheit sich entsinnen könne. Mancherlei Personen waren in diesen 32 Jahren an ihm vorübergegangen; der meisten ausgezeichneten französischen Feldherren wußte er sich gar wohl zu entsinnen, und Murat war einer der letzten unter ihnen. Als bemerkenswert hob es der Mönch hervor, daß Napoleon die Straße über den Simplon, welche wir doch nur ihm verdanken, nie selbst bereist habe, obwohl seine beiden Frauen und seine Feinde hier über die Alpen gegangen sind. Schnurrend strich unter diesen Gesprächen eine starke braune Katze an unsern Stühlen hin und erregte durch ihre kleinen Ohren, den langhaarigen Schwanz und das seltene Gelbbraun ihres Pelzes unsere Aufmerksamkeit. Wir erfuhren, daß es der Bastard sei einer mit hierher gebrachten Katze und der Steinmarder der Gegend. Diese Bastarde sollen untereinander fruchtbar sein, und das Hospiz hält mehrere dergleichen. – Endlich schieden wir freundlich dankend; der Mönch geleitete uns bis zur Tür, den Fußsteig andeutend, auf welchem wir nun rüstig wieder die Heerstraße hinaufstiegen.

In einer Viertelstunde war jetzt der höchste Punkt der Simplonstraße erreicht; rechts und links dehnten sich öde, spärlich beraste Bergwände hinan, deren Häupter von[363] rastlos treibenden Wolken verborgen wurden. Eine Zeitlang geht die Straße ziemlich eben fort und leitet am Fundament des großen, von Napoleon beabsichtigten Hospizes vorbei. Das erste Geschoß ist in guten Verhältnissen und bedeutender Ausdehnung aufgebaut, auch liegen viele Materialien noch um die Straße her aufgehäuft, aber alles ist öde und tot, und schwarz starrt die Ruine des kaum begonnenen Gebäudes dem Wanderer entgegen, indes gewaltige schneebedeckte Felshörner, an denen ein Gletscher sich herabsenkt, dahinter aufragen, heute von rastlos sich wälzenden winterlichen Wolken bald entschleiert, bald verdeckt.

Wenn das Gewordene, das Ausgebildete zugrunde geht, so läßt sich der Mensch wohl noch darüber bedeuten, aber wenn das Werdende, das einer schönen Zukunft erst Entgegengehende plötzlich niedergeworfen und langsamer Vernichtung preisgegeben wird, so hält es ziemlich schwer, nicht mißmutig zu werden. Zu solchen und ähnlichen Betrachtungen, die ja das Leben oft genug herbeiführt, hatten wir Stoff genug, während wir eine Zeichnung dieser Umgebung zu entwerfen versuchten. Die Umnachtung des Gewölks ließ es indes nicht zu, alles und jedes nach Wunsch zu beendigen.

Die Straße fängt sich nun an nach der Nordseite der Alpen zu senken und öffnet den Blick in das mächtige Tal der Rhône. Zur Rechten stürzen aus einem ziemlich nahen Gletscher Wasserfälle hernieder, und eine Galerie führt durch einen weit vorspringenden Felsen, bis zu dessen Haupte der Gletscher sich vorstreckt. Von Strecke zu Strecke folgen nun regelmäßig kleine Gebäude mit der Inschrift »Refuge«; Reisenden zum Schutz und Leuten zur Wohnung bestimmt, deren Geschäft es ist, im Winter den angehäuften Schnee wegzuschaffen und die Bahn für die täglich passierende Diligence offen zu erhalten.[364]

Das Wetter wurde jetzt trübe und regnerisch, und um so gewaltiger und finsterer erschienen die zur Linken liegenden Abgründe und Höhen. – So gelangen wir zu einzelnen im Tale liegenden Bauerhäusern von vollkommen schweizerischer Bauart und mit hohen Nußbäumen umpflanzt. Auch die Neigung, durch irgendeinen Denkspruch sich dem Wanderer mitzuteilen, tritt wieder hervor, wie ich denn zum Beispiel an einem neugebauten Hause folgendes las:


Wer da baut an die Straßen,

Der muß die Leute reden laßen.


Unter wechselndem Sonnenschein und Regen erreichen wir endlich gegen 6 Uhr dieses Brieg, ein kleines, reinliches, katholisches Städtchen, wo moderne und echte Schweizerhäuser bunt untereinandergereiht sind und wo eben jetzt die Leute vor den Fenstern unsers Wirtshauses auf einem einfachen, hinreichend beregneten Fußwege mit Kegelschieben sich zu vergnügen trachten.


Martinach (Martigny), 10. September abends


Gestern, in Brieg, erwachte ich bei gewaltigen Regengüssen, die Berge hatten ihre Wolkenkragen umgetan, und wenn auch auf einzelnen Höhen etwas frisch gefallener Schnee sichtbar wurde, so war doch der Himmel so grau umzogen, daß wir, an Stans und Altdorf gedenkend, langes Regenwetter befürchten mußten. Ich entschloß mich sofort, die Grimsel und das Berner Oberland für diesmal aufzugeben, mietete einen elenden Einspänner, teuer genug, und so fuhren wir gen Sion ab.

Die Straße geht das Rhônetal entlang und hat wenig Abwechselndes, ist häufigen Überschwemmungen des wilden Flusses ausgesetzt, und durch Weiden und Hippophaägebüsch sich dahinziehend, übt sie den Reisenden im Ertragen tüchtiger Stöße des Wagens. Die anstehenden Talwände[365] zeigen sich an ihrem Fuße aus schiefrigem, krummschaligem Alpenkalkstein bestehend, lehnen sich aber unter mäßigem Neigungswinkel so gewaltig in die Höhe, daß ihre Gipfel in die Schneeregion eingreifen und von Wolkenzügen fortwährend umspielt werden. Weiter abwärts sind sie bewaldet oder bebaut. Die Dörfer dieser Walliser haben ein elendes Ansehen, die Unreinlichkeit herrscht im Innern, die Häuser, aus Holz zusammengefügt, ruhen gewöhnlich auf vier mit Steinplatten bedeckten Pfählen, und die häßlichen Kretins, einer immer widerlicher als der andere, begegnen dem Fremden allerwegen. – In manchen Dörfern sehen die Bewohner winterszeiten keine Sonne, weil sie über die Gebirge nicht heraufkommt, und daß gerade dieser Lichtmangel an der Entstehung des Kretinismus großen Anteil habe, scheint keinem Zweifel unterworfen. – Spät in der Nacht endlich gelangten wir nach Sitten (Sion), wo wir einige Mühe hatten, noch ein Unterkommen zu finden.


Martinach, 11. September


Wir gingen nun am 10. September früh von Sion ab und wanderten durch das schöne Wallisertal auf Martigny zu. Der Morgen war heiter und zeigte die herrliche Gegend von Sion in ihrem vollen Reichtum. Malerisch ragen über der Stadt die beiden alten Schlösser herauf, und gegen die fernen bläulichen Alpenketten bilden die schöne Talvegetation und die nähern, mit mannigfaltigem Grün bedeckten Vorsprünge der Berge, zum Teil mit Ruinen geziert, den anmutigsten Gegensatz.

Bei Ardon überraschte uns der Anblick eines aus ungeheuern Felsmauern hervorbrechenden Gebirgswassers (der Lucerne). Die Schlucht, aus welcher dieses Wasser hervorströmt, war von so gewaltiger Höhe, die Formen der Felsen so kolossal, daß man Dantes Eingang zur Unterwelt[366] füglich hierher hätte verlegen mögen. Noch imponierender jedoch erschien weiterhin bei St. Pierre der Einblick in die Kalkfelsen der Diablerets. Titanenhaft übereinander getürmt starrt hier eine grauenerregende Masse von Zacken und Pyramiden in schwindelnder Höhe. Eben zogen aufsteigende Regenschauer ihren zarten grauen Schleier um diese Schluchten, gespensterhaft stiegen Wolken an ihnen empor, und die abgedämpften, violetten, rötlichen und olivengrünen Töne vollendeten das Ganze zu einer zauberhaften Erscheinung.

Wir überschritten die Rhône und kamen im Sprühregen unter Erlengebüsch nach St. Pierre, wo eine alte dicke Wirtin uns ein einfaches tüchtiges Mittagsmahl bereitete, zu welchem der leidliche Landwein gut genug mundete. Alles spricht hier schon französisch.


Chamouny, 11. September abends


Mittag war vorüber, und wir stiegen wieder auf, um die Höhe des Col de Balme zu gewinnen, von wo uns die herrlichste Aussicht in das Chamounytal versprochen war. Diese Gebirgspfade jedoch waren die knappsten, die wir noch angetroffen, mühsam klimmen über Wurzeln und Blöcke die Maultiere hinauf, querüber geworfene Lärchentannen nötigen oft zu großen Umwegen, und mit Mühe hält man sich bei dem Geradeaufklettern der Tiere in dem sonst so bequemen Sattel. Endlich müssen wir absteigen, denn grimmig blicken die Tiefen herauf, und blendend leuchtet seitwärts durch die Tannen der Gletscher.

Höher hinauf kommen wir ins Freie, an ungeheuern Felsmassen vorbei, auf Alpenweiden, wo unter umhergestreuten Steinen läutende Herden klettern. Eine elende Sennhütte, von übereinandergelegten Steinplatten aufgerichtet, ragt kümmerlich auf einer Anhöhe vor, und ein Ziegenhirt[367] am Wege, hinter einem Felsblocke in ein braunes zottiges Schaffell eingewickelt, paßt gut genug zu dieser verödeten Umgebung. So reiten wir fortwährend aufwärts dem Col de Balme entgegen, über den noch immer sonnige Wolken in raschem Zuge herüberstreifen. Eine neue Flora von Gentianen, moosartigen Saxifragen und Sempervivum erscheint; Schnee, halb überfroren, wird in ziemlichen Flächen sichtbar, die Luft zieht schneidend kalt, und endlich sind wir auf der Höhe! Nun war's gut! Die Sonne leuchtete fort trotz mancher vorbeieilenden Wolke; mitten aus wogenden, hellerleuchteten Kumuli wurde der Montblanc sichtbar, weiter nach uns zu der Mont Dru. Rechts lagen die Aiguilles rouges; lange Gletscher strecken sich in das weitgeöffnete Chamounytal hinab; immer aber kehrt das Auge zu den ungeheuern Eis- und Schneemassen des Montblanc zurück, auf denen die wunderbarsten Spiele von Licht und Färbung sich entwickeln.

Jetzt kommen neue Wolken gezogen; erst vorbei, dann uns nebelartig einhüllend und endlich, sich gleich einem Vorhange wieder aufhebend, die herrlichen Täler und Firnen entschleiernd und weiterziehend. Eine wärmere Temperatur, minderer Luftzug und Geruch nach Nebel bezeichnet jedesmal dieses Wandeln in einer Wolke. – Zu Fuß wandern wir nun über abhängige feuchte Alpenwiesen, an großen Büschen der Gentiana purpurea vorbei ins Tal hernieder. Tiefer herabgekommen, zieht uns der Glacier du Tour an, wir ruhen nicht, bis wir über das aus ihm hervorquellende Gewässer, über den Sand- und Steinwall, der seinen Fuß umgibt, auf das Eis selbst vorgedrungen sind, und sitzen nun dort vor den ungeheuern Spitzen und Höhlen, um sie zu zeichnen. Zum erstenmal hören wir den Donner gelöster Eismassen, welche in den obern Regionen herabstürzen, und schauen das wunderbare Vitriolgrün, welches die Klüfte und Spalten dieses körnigen Eises bezeichnet.[368] – Einige Achattrümmer werden beim Weggehen aus der Oberfläche großer Eisblöcke losgebrochen und zum Andenken mitgenommen; denn bekanntlich führen die langsam herabsteigenden Gletscher vielfältiges Gerölle mit sich, jedoch immer wieder stößt die reine Kristallbildung des Eises die fremden Körper nach außen, und sie sind darin dem Meere sowie einem kräftigen menschlichen Gemüt ähnlich, die zwar auch halb freiwillig, halb gedrungen vielfältiges Fremdartige in sich aufnehmen müssen, jedoch zu rechter Zeit auch davon loszukommen, es von sich auszuscheiden hinreichende Macht haben.

Viel beschäftigte uns das Spiel der jetzt farbig werdenden Wolken um die ungeheure Höhe des Montblanc; ja, endlich in dem zierlichen Prieuré de Chamouny selbst, wo unsere Fenster die volle Ansicht des Montblanc geben, sehen wir die ihm angehörigen Gebirgsketten in der Abendsonne vergoldet. Als später aber das Dunkel der Nacht hereingebrochen war, hob eine noch zauberhaftere Erscheinung aus dem dunkeln Nachthimmel sich hervor, denn der aufgehende, uns lange noch nicht sichtbare Mond umgoß jetzt mit mildem Lichtsaume den Gipfel des weißen Berges.

O Gott! Hier ist ja nun eben das Ideal, welches ich von der Alpenwelt in mir trug, wirklich und wahrhaftig da! Und ich habe Mühe, mich zu überreden, daß es nicht ein bloßer Traum ist.


Chamouny, 12. September abends


Diesen Tag zeichne ich rot im Kalender! Ich war auf dem Mont Anvert, welcher, am Gebirgsjoche des Montblanc, östlich von Chamouny gelegen, 450 Toisen über das Tal und 900 Toisen über das Meer sich erhebt.

Mit guten Alpenstäben bewehrt, waren wir früh beim heitersten Morgen aufgebrochen, und ein dreistündiger, oft sehr mühseliger Waldweg leitete uns gegen 9 Uhr zur erfreulichen[369] Höhe. Erquickung boten unterwegs Kinder mit reinlichen Körbchen, worin sie Milch, Wasser, Erdbeeren, Kirschwasser und dergleichen dem Wanderer entgegentrugen. Mehr als alles erquickte jedoch auf der Höhe eine Gebirgsluft, wie ich sie noch nie und nirgends geatmet hatte. Vom reinen Himmelsblau niederwehend, über die ungeheuersten Eismassen streifend, schien sie von jedem irdischen Duft befreit, und schwach nur mischte sich ihr ein Würzgeruch der herrlichsten Alpenkräuter bei, welche üppig hier zwischen mächtigen Felsblöcken und einzelnen halbverwitterten Fichten emporsproßten. Zu alldem nun aber der Blick über das Eismeer, dessen bläulichgrünen, ewig starren Wogen, halb vom Mont Dru, halb vom Montblanc sich niedersenkend, bald zu einem einzigen Eisfelde sich vereinigen. Dann die schönen Alpenhörner mit ihren ewigen Schneefeldern! Der Grand Jorasse, der Geant, an dessen Fuße Saussure seine Beobachtungen anstellte, der Mont Dru, welcher mit seinen Glimmerschiefernadeln, gotischen Münstern ähnlich, in den blauen Himmelsraum aufragt, mit lockerm Schnee aufs zierlichste bestäubt, Alles in so übermenschlichen Verhältnissen, daß man erst Vergleiche anstellen muß, um die wahre Größe sich zu versinnlichen! Und wie reizend ist das Farbenspiel dieser gigantischen Massen, wie zart und rein die Abstufung ihrer rötlichen, ockerfarbigen und weiterhin violetten Töne, bei allem Ungeheuern ihrer Verhältnisse!

Eine kleine, von Pictet in Genf gestiftete Hütte nimmt uns jetzt auf, und durch Milch und Erdbeeren erquickt, machen wir uns nun auf den Weg zum Eismeer. Durch Gebüsch von Alpenrosen leitet hier ein Fußsteig abwärts, man gelangt zum hohen Steinwall, der hier wie überall die Ränder des Gletschers umgibt, und über das vom Eise herabgeführte und ausgestoßene Gerölle, ja über mächtige[370] Felsblöcke klimmend, betritt man endlich die furchtbaren bläulichen Wogen. Jetzt erscheint, was von oben als mäßige Rauhigkeiten sich darstellte, als baumhohe, pyramidalische Massen, als ein Gebirgsbild, von Tälern durchschnitten, ja von gewaltigen smaragdgrünen Spalten zerrissen. Diese Spalten sind von kristallreinem Wasser erfüllt, auf dem die reine frische Morgenluft eine leichte Eisrinde erzeugt hatte. Hinuntergeworfene Steine donnerten hohl in ihre gähnende Tiefe hinab, und gefährlich genug wandelt sich's an ihren glatten Rändern auf dem durchaus körnigen Eise.

Endlich mußten wir scheiden. Durch Alpenrosen und Wacholder, zwischen halberstorbenen Lärchentannen stiegen wir längs des Gletschers herab. Die warme Sonne löste von Zeit zu Zeit große Eismassen von den grimmig aufstarrenden Zacken; da, wo die Wasserfälle aus dem Eise sich ergossen, brachen sie vorzüglich los, senkten sich erst, hemmten den Lauf des Wassers und stürzten dann, zu feinem Eisstaube sich zermalmend, donnernd in die Tiefe neben uns hinab. Oft hemmte unsere Schritte das Vernehmen dieses herrlich widerhallenden Donners, aber vielmals mußten unsere Augen die Stelle lange suchen, wo eine solche Staubwolke am Eise niederschwebte, so klein erschien in der Ferne ein solcher Sturz an diesen ungeheuern Wänden.

Es war eben noch Zeit, einen Blick in das sogenannte Naturalienkabinett [von Prieuré] zu tun, ein mit Mineralien, Gemshörnern und dergleichen aufgeputztes Gewölbe, welches mehr zum Handel als für wissenschaftliche Zwecke zusammengebracht ist. Wichtiger dagegen war uns der nebenan in einer Scheune gehaltene lebende Steinbock. Das Tier ist dreijährig, grau, mit dunkler gezeichnetem Rücken, männlich, die Hörner mit drei Ringen umgeben. Es ist ganz jung gefangen, und eine Ziege hat es aufgesäugt.[371] Der Kopf ist größer als der der Gemse, das Auge groß und gar klug und lebhaft, der Hals kurz und kräftig und die Bewegung energisch, rasch und äußerst geschickt. Sein gewöhnlicher Aufenthalt waren die freiliegenden Hahnebalken der Scheune; mit einem Satze schwang es sich, von einem Knaben mit einer Stange aufgescheucht, herab auf die Tenne, aber ebenso rasch und kaum sichtbar erst an die Mauer anspringend, hatte es sich wieder auf seinen Balken hinaufgeschwungen. Wie frisch mögen diese tüchtigen Geschöpfe erst in ihrer Freiheit sich von Klippe zu Klippe schwingen!

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 1. Band. Weima 1966, S. 355-372.
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