XI

Die Erschaffung des stellinger Tierparks

[202] Wie der Weg meines Hauses seinen Anfang von dem Seehunde-Bottich auf St. Pauli genommen und über die Hamburger Dombuden, über Tierschau und Zirkusleben hinweg bis zum Tierpark in Stellingen führte, so hat mich mein eigener Lebenspfad durch die Kreise des fahrenden Volkes aufwärts geführt durch das Lager der Wissenschaft und vielfach bis in die Kreise der Regierenden. Auf den weitverzweigten Feldern meiner Arbeit in allen Ländern der Erde bin ich vielen Menschen begegnet, manche Hand hat sich mir vertraulich entgegengestreckt, und das große Glück ist mir zuteil geworden, unter Menschen aller Stände und jeder Farbe Freunde und Förderer zu finden.

Wenn ich jetzt alle die, deren Erscheinung sich in meiner Erinnerung eingegraben hat, im Geiste vorüberziehen lasse, bin ich selbst erstaunt über die Fülle der Gestalten. Regierende Häupter, die Gewaltigen der Erde, Häuptlinge wilder Völkerstämme, Gelehrte und Tierbändiger, Weltreisende und Artisten, Philosophen und Gaukler – alle sind mitbestimmend in mein Leben getreten, und manchen Namenszug, der unter anderen Schriftstücken das Schicksal unserer Welt beeinflußte, bewahrt mein altes Gästebuch für die Nachwelt auf. Neben diesen in Elefantenhaut gebundenen Erinnerungsblättern meines Lebenswegs liegt dort im feuersicheren Fach des Geldschrankes die blaue Porzellanuhr meines lieben Vaters, die er bei meiner ersten, ernstlich gerügten Unpünktlichkeit damals mit strengem Blick zu Rate zog. Daneben sehe ich dort mein erstes Türschild. »Carl Hagenbeck jr.« ließ ich stolz in sauberen Lettern auf die kleine Tafel malen, als ich, ein frischgebackener Ehemann, am 11. März 1871 meinen eigenen Hausstand gegründet hatte. Heute bin ich selbst der »alte Hagenbeck« und trage einen greisen Bart. Habe ich in den vorangegangenen Kapiteln hin[203] und wieder dem Gang der Ereignisse vorgegriffen und Erlebnisse aus dem Stellinger Tierpark erzählt, ohne ins einzelne zu gehen, so will ich das Versäumte jetzt nachholen. Wie ein Baum seine Äste entfaltet, so waren aus dem Stamm des Tierhandels die jungen Triebe der Völkerschauen, der Dressurschule und der mannigfachen Züchtungsversuche hervorgewachsen, und manches werdende Projekt ringt noch nach Wachstum und Blüte. Allein schon um einen neuen Zweig meines Unternehmens zur vollen Entfaltung bringen zu können, war die Schaffung eines umfassenden Geländes unumgängliche Notwendigkeit. Die Einführung jagdbaren Wildes aus fernen Landstrichen, der Import und Export von Haus- und Nutztieren hatte begonnen. Hand in Hand damit ging die Akklimatisierung, Züchtung und Kreuzung einheimischer mit fremden Tierrassen. Große Lieferungen für neu gegründete zoologische Gärten in Süd- und Nordamerika erforderten ebenfalls große Räume für den Tierbestand. Von dem Ausmaß des Tierhandels, der sämtliche Zoos und Tierschauen der Welt umfaßt, zeugt wohl am besten die Tatsache, daß die Kaiser von Deutschland, Österreich und Rußland, die Sultane der Türkei und Marokkos wie der Mikado von Japan mich bereits vor der Jahrhundertwende mit ihren Aufträgen beehrten. So mußte ich mich nach einem Gelände umsehen, das meinen Zukunftsplänen keine Schranken setzte.

Wo aber war in Hamburg ein Gebiet zu finden, das nach Größe und Lage für meine Zwecke in Betracht kommen konnte? Zwar besaß ich in der hamburgischen Vorstadt Horn ein größeres Grundstück. Aber alles angrenzende Land gehörte dem Hamburger Staat und schloß für mich die Möglichkeit aus, mich zu vergrößern. Außerdem wurde mir auf Anfrage mitgeteilt, daß von Staatsterrain nichts verkäuflich sei. Vergeblich bemühte ich mich jahrelang, auf hamburgischem Gebiet ein Grundstück von geeigneter Größe zu erwerben, und ich empfand es schmerzlich, daß in meiner eigenen Vaterstadt kein Raum für mich sein sollte.

»Nach Stellingen!« rief ich dem Kutscher zu, als ich an einem schönen Sonntagmorgen die Droschke bestieg, um meinen alten[204] Freund Wegner zu besuchen, der dort im Preußischen weit vor den Toren Hamburgs beschaulich in dörflicher Einsamkeit wohnte. Zweimal mußte mein Kutscher auf der langen Fahrt den Weg zwischen den Wiesen und Feldern erfragen, bis ich meinen Freund erreichte und ihm meine Sorgen anvertrauen konnte. Da erging es mir in jenen Minuten wie dem Manne, der seine Brille sucht, während er sie auf der Nase hat. Mitten im Gespräch nahm mich Wegner plötzlich beim Arm und sagte: »Komm mal eben mit, ich will dir ein schönes Stück Land mit einer kleinen Villa zeigen, das momentan billig zu haben ist.« Wir traten vor die Tür. Wegner führte mich zu einer Hecke, hinter der in einem arg verwilderten Garten eine Villa lag. Das Gelände hatte einen Umfang von 200000 Quadratfuß und sollte für 35000 Mark zu haben sein. Zwei Tage später war das Grundstück mein Eigentum. Am nächsten Mittwoch, es war der 9. September 1897, erfuhr ich von meinem alten Freund, daß zwei angrenzende Grundstücke ebenfalls noch preiswert zu haben seien, und vierundzwanzig Stunden später hatte ich auch diese Parzellen meinem neuen Eigentum hinzugefügt.

Wonach ich jahrelang gesucht hatte, war mir nun durch einen Zufall innerhalb weniger Tage in den Schoß gefallen. Nun hatte ich endlich ein prächtiges, hochgelegenes Terrain, welches sich vorzüglich zur Anlage eines Tierparkes eignete. In meinem Kopf gruppierte sich sofort der ganze Ausbau und fand in einer Zeichnung mit Angaben der Einteilung seine erste praktische Gestalt, so daß ich bereits fünf Monate später zwölf große Gehege und fünf schöne Tierhäuser fertiggestellt hatte. Das Werk wuchs indes in der Arbeit. Gelände und Baulichkeiten eigneten sich ganz vorzüglich für meine Zwecke, nur war die Anlage zu weit von meinem Hauptgeschäft in der Stadt entfernt, zu der die Verkehrsverbindungen sehr schlecht waren. Da kam ich auf den Gedanken, daß es vielleicht möglich sei, das von meinem Grundstück nach der Hamburger Grenze zu gelegene große Gelände preiswürdig zu erwerben und eventuell an ein Konsortium weiterzuverkaufen, um mir auf diese Weise die ganze Gegend aufzuschließen und eine direkte Verbindung zwischen[205] dem preußischen Stellingen und dem hamburgischen Eimsbüttel herzustellen. So leicht, wie ich es mir vorgestellt hatte, ging die Sache natürlich nicht. Nicht alle Leute sahen mit meinen Augen.

Fünf volle Monate waren bereits ins Land gegangen, als mir endlich wieder mein bester Freund, der Zufall, zu Hilfe kam. Eines Tages erhielt ich den Besuch eines mir wohlgesinnten Hamburger Herrn, der in England lebte und in Begleitung seines Bruders im Tierpark am Neuen Pferdemarkt ungarische Hirsche besichtigt und gekauft hatte. Nichts war natürlicher, als daß ich den Gästen von meinem neuen Wildpark in Stellingen erzählte und sie einlud, sich die Anlage anzusehen. Draußen in Stellingen besichtigten wir einige frisch eingeführte Hirsche und Rehe, wobei ich gesprächsweise meinen Plan erörterte, weiteres Gelände für mich anzukaufen, um mein Lieblingsprojekt, einen Tierpark nach meinen eigenen Ideen, ausführen zu können.

Nachdem ich mit meinem kleinen Vortrag zu Ende war, sah der eine der Gäste mich nachdenklich an und sprach die einfachen Worte: »Das scheint mir eine gesunde Sache zu sein. Für mein Teil habe ich 100000 Mark dafür übrig!« Mit der gleichen Summe beteiligte sich der Bruder dieses Herrn und sprach die Hoffnung aus, daß es nicht schwerhalten könne, eine kleine Gesellschaft für das Unternehmen zusammenzubringen. Nach weiteren acht Wochen war die ganze Angelegenheit perfekt geworden. Ich selbst hatte mich verpflichtet, mein ganzes Unternehmen nach Stellingen zu verlegen, mich mit mindestens 150000 Mark zu beteiligen und in Stellingen nach meinen neuen Plänen einen neuartigen Tierpark anzulegen.

Um mich an dieser Stelle kurz zu fassen, will ich nur sagen, daß der leitende Gedanke der war, die Tiere in größtmöglicher Freiheit und in einem der freien Wildbahn angepaßten Gehege ohne Gitter zu zeigen, damit aber gleichzeitig zu beweisen, was die Akklimatisation zu tun vermag.1 An einem großen, praktischen und dauernden[206] Beispiel wollte ich den Tierliebhabern zeigen, daß es gar nicht nötig ist, luxuriöse und kostspielige Gebäude mit großen Heizanlagen einzurichten, sondern daß der Aufenthalt in freier Luft und die Gewöhnung an das Klima eine weit bessere Gewähr für die Erhaltung der Tiere bieten. Ein modernes Tierparadies sollte sich da aufbauen, wo jetzt noch nichts zu sehen war als Sturzäcker. Von einem gegebenen Punkte des Gartens sollte man die Tiere aller Zonen in großen Abstufungen, jede Art in einer ihrer Heimat angemessenen Umgebung, gleichsam frei sich bewegen sehen. Die Gemsen, Wildschafe und Steinböcke auf künstlichen Gebirgen, die Tiere der Steppen auf weiten freien Triften, die Raubtiere in unvergitterten Schluchten, nur durch einen Graben von dem Besucher getrennt. In der Mitte sollte sich ein Zentralgebäude mit großer Arena für Dressurzwecke erheben nebst Räumlichkeiten für das, was ich im Tierhandel den Transitverkehr nennen möchte. Eine ungeheure Arbeit lag vor uns. Im Oktober des Jahres 1902 waren die Pläne so weit gediehen, daß mit den Erdbewegungen begonnen werden konnte. Bald darauf glich der gleiche Platz einer Szene aus Aladins Wundergeschichten. Leider war es mir nicht vergönnt, lediglich an jener märchenhaften Lampe zu reiben, um meine Wünsche in Erfüllung gehen zu lassen, sondern ein Heer von Tiefbauarbeitern, Ingenieuren, Künstlern und Architekten ließ in mühevollem, jahrelangem Schaffen diese meine Pläne täglich mehr und mehr Gestalt annehmen.

Da blinkten die Schaufeln und Spitzhacken, rasselten die Gespanne und die von Arbeitselefanten gezogenen Feldbahnen über die Gleise. 40000 Kubikmeter Erde mußten bewegt werden, damit Landschaftsgärtner Hinsch mit seinen Helfern aus dieser Wildnis einen Luxuspark zaubern konnte. Hoch auf den ragenden Gerüsten der zukünftigen Gebirgsformationen gestaltete der geniale Schweizer Bildhauer Urs Eggenschwyler inmitten seiner Schar von Maurern und Zimmerleuten mit Kelle und Meißel die alpinen Felspartien, die in ihrem hohlen Inneren Aussichtskanzeln, Pumpstationen und Stallungen für das künftige Hochgebirgswild der Dolomiten[207] und des Himalaja bergen. Gleichzeitig wuchsen die Mauern neuzeitlicher Gaststätten, Pavillons und des großen Zentralgebäudes aus ihren Fundamenten. Stetig schritt das Werk vorwärts, galt es doch nicht wie in St. Louis oder auf der Berliner Gewerbeausstellung aus Gips und Kulissen eine Scheinwelt zu errichten, sondern diesmal wollte ich erstmalig in der Welt die Tiere aller Breiten in einem nordischen Tierparadies akklimatisieren.

Als sich am 7. Mai 1907 die großen Portale öffneten, erwachte das Dorf Stellingen aus seinem Dornröschenschlaf. Tausende und aber Tausende trafen mit der zu diesem Tage eröffneten Straßenbahn ein und drängten durch den monumentalen Haupteingang, den der Bildhauer Josef Pallenberg mit den mächtigen, Ampeln tragenden Bronzehäuptern der Elefanten geschmückt hatte. Löwen und Eisbären verkörpern die Tierwelt der polaren und der tropischen Zonen, während die erzenen Standbilder des kriegerischen Somali und des Siouxindianers, modelliert von Franke-Berlin, die Völkerschauen zweier Welten versinnbildlichen.

Hier stand ich mit dem Zylinder in der Hand und begrüßte die Ehrengäste, welche, in Equipagen und Automobilen vorfahrend, meiner Einladung gefolgt waren. Es waren anwesend die Oberbürgermeister von Hamburg und Altona, die Senatoren, Gesandte und Konsuln, Spitzen der Behörden und Prominente des kulturellen Lebens, die Prinzipale der großen Schiffahrtslinien und Handelshäuser und als besonders aufmerksame Gäste die Direktoren der europäischen Tiergärten, die Zoologen und Künstler. Einen Namen aus dieser Schar zu erwähnen, hieße viele liebe Freunde zurücksetzen, die alle mit Rat und Tat mit dazu beitrugen, daß ich dies mein Werk heute der Öffentlichkeit feierlich übergeben konnte. Den Höhepunkt der Tierparkbesichtigung bildeten die Vorführungen Fritz Schillings, der in der neuen Manegenhalle die wunderbaren Ergebnisse der zahmen Dressur an einer großartigen gemischten Raubtiergruppe zeigte: die Könige der Wüste und des ewigen Eises unter dem Kommando ihres menschlichen Meisters. Später auf dem Eröffnungsbankett klopfte Direktor Julius Schiött vom Kopenhagener[208] Zoo an sein Glas und brachte einen humorvollen Toast aus auf das eröffnete Tierparadies, wobei er einen launigen Vergleich zwischen diesem und dem Garten Eden zog und meine Frau und mich als Adam und Eva apostrophierte.

Die Presse- und Kritikerstimmen – auch an denen fehlte es nicht – füllten in der Folgezeit manchen dickleibigen Band. Von allen Seiten, in allen Sprachen setzte man sich mit dem neuen tiergärtnerischen Ereignis auseinander. Stellingen war in das Rampenlicht der Weltöffentlichkeit getreten, und täglich strömten neue Besucherscharen zum Tierpark, der selbst bei einem eintägigen Aufenthalt in Hamburg in allen Prospekten den Reisenden neben der obligaten Hafenrundfahrt nebst Ozeandampferbesichtigung als erste Sehenswürdigkeit empfohlen wird. Waren es am ersten Pfingstfest des Eröffnungsjahres schon über 43000 Besucher, so verdoppelte sich im zweiten Jahre bereits diese Zahl, als ich zur besseren Entfaltung der Völkerschauen und weiterer Neuanlagen den zweiten Teil des Geländes durch eine die Kaiser-Friedrich-Straße überspannende Brücke mit dem jetzt rund 250000 Quadratmeter großen Park verbunden hatte.

Wo vor wenigen Jahren nichts zu sehen war als weite Kartoffeläcker und ein ungepflegtes, von Gestrüpp bedecktes Feld, erhebt sich heute eine blühende Landschaft, deren Charakter zwar nicht mit demjenigen der Norddeutschen Tiefebene übereinstimmt, aber dem Zwecke entspricht, für den sie geschaffen wurde. Gebirgsformationen und Felsschroffen steigen in die Luft empor. Zu ihren Füßen grünen weite Triften und schimmern glitzernde Seenspiegel, über die sich zur japanischen Insel zwischen den rotlackierten Tempeltoren zierliche Brücken spannen. Berge, Triften und Gewässer aber sind angefüllt mit einem eigenartigen Leben, das sich in unaufhörlicher Bewegung befindet und dem Beschauer immer neue reizvolle Ausblicke gewährt. Wenn man die Schritte zum Hauptrestaurant des Tierparks lenkt und, diesem Gebäude den Rücken zukehrend, den Blick geradeaus schweifen läßt, eröffnet sich ein seltsames und gewaltiges Panorama: das Tierparadies.[209]

Ganz im Vordergrund, in der Ferne von niedrigen Felsen abgeschlossen, blinkt das Wasser eines großen Vogelteiches, an dessen beiden Ufern sich Flamingoschwärme, Kraniche, Pelikane und Ibisse tummeln, während das Wasser von unzähligen Schwänen, Enten und Gänsen verschiedenster Arten belebt ist. Dahinter breitet sich die afrikanische Steppe. Mit wiegendem Gange folgt ein Dromedar einer flüchtenden Zebraherde. Langbeinige Strauße stelzen zwischen zierlichen Gazellen und Antilopen. Was aber das Auge jenseits dieser durch tief gelegene Besucherwege jeweils näher zu betrachtenden Gehege gewahrt, erscheint aus der Entfernung ganz unwirklich und traumhaft. Nur wenige Schritte von den eben beschriebenen Pflanzenfressern entfernt, tummeln sich in einer offenen, ganz frei gelegenen Felsenschlucht eine Anzahl von Löwen, und noch weiter hinaus wuchtet ein breiter Gebirgsblock kühn in die Höhe, dessen Felsenvorsprünge bis zum Gipfel hinauf mit Bergtieren belebt sind.

Unbeweglich steht auf hohem Grat ein Markhurbock, dessen Schraubengehörn sich prächtig vom blauen Hintergrund des Himmels abhebt. Jetzt beugt das Tier sich zurück, um im nächsten Augenblick gleich einem Vogel im Fluge über eine Kluft hinwegzuschnellen. Mähnenschafe aus Nordafrika und die berühmten sibirischen Wildschafe, Himalaja-Wildziegen in ganzen Rudeln und mannigfache andere Tiere führen auf allen Seiten der Felshänge ihre Kletterkünste aus. Die Freiheit, welcher sich alle diese Geschöpfe erfreuen, ist Schein und Wahrheit zugleich. Die Löwen in ihrer Grotte können zwar ihre Kräfte frei entfalten, kein Gitter schließt sie von der Umgebung ab – wohl aber ein breiter Graben, der durch eine mit Gewächsen bepflanzte Barriere unsichtbar gemacht ist. Die Illusion ist so vollkommen, daß die meisten Besucher sich erst durch eine Besichtigung des Grabens, zu dem längs der Felswand ein schmaler Durchgang führt, von der Tatsächlichkeit der Anlage überzeugen lassen.

Meine ersten Versuche, Tiere auf diese Art in Freiheit vorzuführen, machte ich im Jahre 1896 auf der Ausstellung in Berlin, wo mir[210] durch das Kaiserliche Patentamt unter der Urkunde Nr. 91492 das Patent des »Panoramas« erteilt und bestätigt wurde. Ehe diese Anlagen ins Leben traten, habe ich Versuche darüber angestellt, wie weit das Sprungtalent der verschiedenen Tierarten reicht. Katzenartige Raubtiere wurden auf diese Fähigkeit hin schon in meinem großen Außenkäfig am Neuen Pferdemarkt geprüft. Um zunächst festzustellen, wie hoch diese Tiere zu springen vermögen, wurde an einem drei Meter über dem Erdboden ragenden Palmenzweig eine ausgestopfte Taube befestigt. Die in den Käfig eingelassenen Löwen, Tiger, Panther und Leoparden bemerkten die Taube bald und bemühten sich um die Wette, die Beute vom Baum herunterzuholen. Löwen und Tiger brachten es mit ihren Sprüngen kaum über zwei Meter hoch. Die schwarzen Panther und Leoparden erreichten eine Höhe von drei Metern, so daß sie wohl den Palmenzweig packten, aber die Taube, welche noch höher befestigt war, trotz aller energischen Versuche nicht herunterholen konnten. Der größte Weitsprung, den ich in der Arena erprobte, gelang den Leoparden ohne Anlauf auf eine Entfernung von drei Metern. Ich bin indes überzeugt, daß sie bei einem größeren Anlauf vier bis viereinhalb Meter erzielen würden.

Auf Grund dieser Versuche sind die Einrichtungen in Stellingen getroffen worden. Sollten die Tiere es auch versuchen, mit einem Anlauf von zehn Metern den Graben zu nehmen, so würden sie schon in der Mitte des Grabens auf halber Sprungweite in die Tiefe fallen. Um noch größere Sicherheit zu erzielen, erfand ich jene schmale Leiste an der äußeren Kante des Geheges. Sie liegt tiefer, so daß absprungbereite Tiere mit den Vorderpranken tiefer stehen als mit den Hinterbeinen: eine ungünstige Absprungstellung, die einen weiten Sprung verhindert. Gehen die Tiere in dieser Rinne entlang, so stehen sie im rechten Winkel zu der Absprungrichtung, in einer Position also, die ein Überspringen des Grabens unmöglich macht.

Das Eismeerpanorama, jene ebenfalls von dem Erbauer der Felsen, Urs Eggenschwyler, geschaffene Freianlage für Walrosse, Robben,[211] Eisbären, Rentiere und Wasservögel, vereinigt in sich ebenfalls mehrere dieser Grotten und Schluchten. Künstliche Eisbarrieren täuschen eine arktische Landschaft vor, die von allen polaren Tierarten belebt ist, ohne daß jedoch die Eisbären sich aus den von speckglänzenden Robben und Seebären erfüllten Becken einen saftigen Braten zu angeln vermögen.

Allen Tieren ist wie den Menschen der Spieltrieb angeboren. Die Lust zum Spiel geht durch den ganzen Tierpark, und es wird ihr schon jetzt Rechnung getragen, während in Zukunft noch ganz besondere Einrichtungen dafür vorgesehen sind. Für die kalifornischen Seelöwen, die ein angeborenes Talent zum Balancieren von Gegenständen besitzen, genügt ein ins Wasser geworfener Knüppel, mit dem sie bald zu jonglieren beginnen. Das Rhinozeros dagegen ist von Natur ein Athlet und muß mit Apparaten versehen werden, an denen es seine Kraft erproben kann. Ich ließ in seinen Stall einen stramm mit Heu gefüllten Sack hängen, eine Art Punchingball, wie ihn heute die amerikanischen Boxer benutzen. Diese Gebrauchsauffassung schien auch mein Nashorn zu teilen, denn es begann sofort mit dem Sack herumzuboxen und ward dieses Spiels gar nicht müde.

Die Bisons, die ja ebenfalls Kraftgenies sind, erhielten als Spielgegenstand ein Fäßchen, das sie hin und her rollten und mit den Hörnern in die Luft schleuderten. Die Forderung »panem et circenses«2 gilt also auch im Tierreich, um die Bevölkerung bei guter Laune zu erhalten.

Neben Futter und Spiel steht als dritter großer Bewegungsfaktor die Liebe und die Freundschaft. Gäbe es unter den Tieren auch den Klatsch, der in der Menschenwelt so weitverbreitet ist, der Tierpark wäre voll davon. Hauptsächlich würde es sich natürlich um die Mesalliancen drehen, die hier ihr Wesen treiben. Was kann es Aussichtsloseres[212] geben als die Neigung zwischen einer riesigen Elefantenkuh und einem Känguruhmännchen! Und doch ist eine solche Freundschaft, die geradezu einen innigen Grad erreicht hat, beobachtet worden. Täglich spielten die beiden Tiere miteinander. Der Elefant liebkoste das Känguruh mit seinem Rüssel, und eins mochte nicht ohne das andere sein. Ein anderer Elefant, diesmal ein Bulle, hatte Freundschaft mit einer zierlichen Ponystute geschlossen, die ich schon an anderer Stelle erwähnt habe. Außerordentlich häufig sind diese Neigungsverhältnisse unter Vögeln verschiedener Art. Ein Kronenkranich und ein südamerikanischer Strauß gesellten sich zueinander. Ebenso ein Enterich und eine Möwe. Ich weiß aber nicht, ob es sich in diesen Fällen um eine Junggesellenfreundschaft oder um eine Liebe gehandelt hat. Wo viel Sonne ist, da gibt es aber auch viel Schatten, und der Eifersuchtsszenen ist kein Ende. Zu den interessantesten Tieren des Tierparks gehören meine Walrosse, von deren Fang, wie ihn mir mein Reisender Ole Hansen berichtete, ich bereits an anderer Stelle erzählte. Für die Wissenschaft gehört das Walroß, das man noch wenig in der Gefangenschaft beobachten konnte, zu den interessantesten Tieren. Es ist sehr empfindlich und bedarf großer Pflege, denn – es erkältet sich leicht. Einen derartigen Kapitalschnupfen kurierten wir einmal durch heiße Dampfbäder mit Erfolg. Die Tiere werden, wie man täglich sehen kann, von ihren Wärtern gefüttert wie die Kinder. Die Nahrung wird ihnen vor das Maul gehalten und schlürfend aufgenommen. Allerdings hat der Appetit nichts Kindliches an sich. Die drei jungen Walrosse, die ich im Oktober 1907 in der Nähe der Weigatsch-Inseln fangen ließ, fraßen im Monat 5035 Pfund Kabeljau, Lengfisch oder Seelachs im Werte von zusammen 710 Mark. Etwas teure Kostgänger!

Den Leser wird es vielleicht interessieren, an dieser Stelle eine kleine Übersicht über die Bevölkerung der Tierstadt und ihre leiblichen Bedürfnisse vorzufinden. So betrug der Tierbestand einschließlich der Dressurgruppen beispielsweise im August 1908: 91 katzenartige Raubtiere, darunter 49 Löwen, 26 Tiger und 3 Löwen-Tigerbastarde, 18 Eisbären und 12 Bären anderer Arten,[213] 40 Hyänen, Wölfe, Hunde in 15 Arten; ferner 15 Menschenaffen, 109 Affen in 22 verschiedenen Arten, 13 Elefanten, 3 Nilpferde, 2 afrikanische Nashörner, 4 Tapire, 3 Giraffen, 21 Kamele, Dromedare und Lamas, 57 Hirsche und Rehe, 43 Rinder, Wisente, Bisons und Büffel, 84 Wildschafe, Steinböcke und Ziegen in 18 Arten, 43 Antilopen, Elenantilopen und Wasserböcke, 73 Einhufer, darunter 21 Zebras. Ferner 3 Walrosse, 8 Robben, Seebären, Seelöwen, Seehunde usw. An Nagetieren waren 96 Exemplare in 8 Arten vorhanden, ferner 8 Gürteltiere, 12 Känguruhs, 36 Schildkröten, 12 Warane, Leguane usw., 11 Krokodile und Alligatoren sowie 68 Schlangen. Das Reich der Vögel umfaßte 1072 Stück, darunter 48 afrikanische Strauße, 18 Nandus, 11 australische Strauße und 13 Kasuare – dazu 295 Schwimmvögel, 273 Stelzvögel, darunter 90 Flamingos und 82 Kraniche, außerdem 187 Hühnervögel, 116 Singvögel, 69 Papageien, 21 Tukane, 16 Raubvögel. Weiter waren vorhanden Warzenschweine, Stachelschweine usw., insgesamt über 2000 Tiere, die einen Gesamtwert von 1125000 Mark repräsentierten.

Was in der Küche dieser Stadt draufgeht, vermag der Leser sich schon einigermaßen vorzustellen, wenn er erfährt, daß ausgewachsene Löwen und Tiger täglich 10 bis 15 Pfund Fleisch verzehren, daß jeder ausgewachsene Elefant, wenn er müßig geht, 10 Pfund Hafer, 5 Pfund Kleie, 40 Pfund Rüben und 60 Pfund Heu zu sich nimmt, wozu er 6 bis 8 Eimer Wasser hinunterspült. Diese Rationen erhöhen sich, wenn die Tiere arbeiten. An Delikatessen sind die unverdorbenen Magen der Tiere nicht gewöhnt, dennoch bietet der Speisezettel eine ziemliche Abwechslung, was aus der nachstehenden Futterliste für ein Jahr bei dem vorgenannten Tierbestande zu ersehen ist. Demnach gingen durch die Nahrungsmittelabteilungen des Tierparks im Laufe eines Jahres:


85107 kg Pferdefleisch800 kg Erbsen

34945 kg Rindfleisch8600 kg Pferdekeks

120 Tauben7600 kg Hundekeks[214]

270 Kaninchen16700 kg Mais

150 Hühner18300 kg Quetschmais

55128 kg Fische, davon7000 kg Kartoffeln

28825 kg für Walrosse850 kg Pferdemelasse

18156 kg Weißbrot4500 kg Wurzeln

15425 kg Roggenbrot99555 kg Rüben

4300 kg Kohl1225 kg Hanf

250 kg Salat1205 kg Buchweizen

400 kg Johannisbrot975 kg Hirse

800 kg Leinkuchen1625 kg Reis

3000 kg Eicheln u. Kastanien60000 kg Preßstroh

210 kg Datteln86000 kg Preßheu

4500 Stück Eier76559 kg Wiesen- u. Schilfheu

1104 kg Hafermehl15000 kg Kleeheu

13838 Liter Milch12400 kg Timotheeheu

12100 kg Weizen6000 kg Rentiermoos

88857 kg Hafer6850 kg Häcksel

7600 kg Gerste22980 kg Haferstroh

44650 kg Kleie


Ferner nahezu 50000 kg Roggen- und Haferstroh sowie, obwohl es nicht ganz in diese Rechnung paßt, 30000 kg Torfstreu und etwa 240000 kg Koks und Kohle. Die Ausgaben, welche diese Liste beansprucht, betrugen rund 150000 Mark. Hierzu kommen noch Fleischsuppen, Milch- und Fruchtsuppen, Bickbeerwein, Mehl, Kirschen, Trauben und andere Südfrüchte für die Menschenaffen, die durch den Schimpansen Moritz und das Orang-Paar Jakob und Rosa gegenwärtig vertreten werden.

Die beiden Orangs erwarb ich von einem Farmer, der sie auf Borneo als ganz kleine Tiere erhielt und mit der Flasche aufzog. Sieben Jahre hindurch waren sie von klein auf stets an den Umgang mit Menschen gewöhnt. Des Mittags aßen sie mit am Tisch und erhielten das gleiche Essen wie die Farmerfamilie. Kurz, sie wurden als Kinder gehalten und betrugen sich auch gesittet und manierlich[215] bei Tisch, eine Gewohnheit, die auch in Stellingen beibehalten wurde. Um ihnen den Mangel an Gesellschaft zu ersetzen, stellte ich einen besonderen Wärter an, dem es ausschließlich oblag, diese Tiere zu pflegen und sich dauernd mit ihnen zu beschäftigen. Dadurch hoffte ich, die Tiere seelisch so zu beeinflussen, daß sie den Verlust der Freiheit verschmerzten und keine Langeweile empfanden. Meine Anschauungen erwiesen sich als richtig. Ich erlebte die Freude, daß die beiden Affen nicht nur vortrefflich gediehen, sondern sich auch nach der geistigen Seite hin ausgezeichnet entwickelten. Sobald der Wärter nicht anwesend war, langweilte sich Moritz, der Schimpanse, und suchte durch allerlei Schabernack mit den Orangs seine Langeweile zu vertreiben. Bei den lustigen Balgereien bleibt Moritz stets Herr der Situation und weiß sich den Umarmungen Jakobs geschickt zu entwinden. Obwohl der Orang gleich hinter dem Flüchtling her eilt, gelingt es ihm doch selten, seiner habhaft zu werden, denn der Orang springt niemals und ist in seinen Bewegungen weit bedächtiger und weniger flink.

Außerordentlich erfinderisch zeigte sich der Schimpanse bei seinen Versuchen, das Freie zu gewinnen. Da das Giraffenhaus, in dessen abgetrennter Abteilung die drei Menschenaffen untergebracht sind, sehr hoch ist, hatte man die trennende Holzwand nicht bis zur Decke hinaufgeführt, da man annahm, daß es für die Affen unmöglich wäre, bis auf die freie Kante dieser Holzwand und somit ins Freie zu gelangen. Moritz war aber anderer Ansicht, und es spricht für die tatsächlich sehr weitgehende Verständigung dieser Affen unter sich, daß Moritz seine Freundin, den weiblichen Orang Rosa, so zu beeinflussen wußte, daß sie mit ihm vereint einen Befreiungsversuch ausführte, bei dem aber nur Moritz profitierte. In dem Käfig der Affen befand sich nämlich eine große hohle Blechkugel. Moritz veranlaßte nun seine Freundin, mit ihm zusammen diese große Kugel auf die in einer Ecke befindliche große Schlafkiste hinaufzuheben. Sodann stellte sich Rosa auf diese Kugel, richtete sich an der Wand zur vollen Größe auf, und über ihre Schulter hinweg sprang Moritz mit einem tüchtigen Satz ins Freie[216] und zwischen die Giraffen. Diese nahmen merkwürdigerweise so gut wie gar keine Notiz von dem Schimpansen, der sich mit wohlgezielten Faustschlägen ihre Zudringlichkeiten vom Halse hielt.

Als der Wärter herzutrat, konnte er sich zunächst den Ausbruch gar nicht erklären. Erst als Moritz auf einer zweiten Flucht beobachtet wurde, erhöhten wir die Trennungswand. Der Schimpanse wußte sich jedoch Rat! Nicht umsonst hing ein dickes Tau an der Decke des Stalles, und Moritz wußte es, indem er daran turnte, derart in Schwingungen zu versetzen, daß es nur eines geschickten Absprunges zur rechten Zeit bedurfte, um wiederum die Höhe der Wand und damit die Freiheit zu erreichen. Als die Bretter nun bis zur Decke emporgeführt wurden, überraschte Moritz eines Tages den Wärter damit, daß er sich des Schlüsselbundes bemächtigte und, wie er es von ihm abgeguckt hatte, einen Schlüssel nach dem anderen prüfend in das Schloß steckte. Schließlich hatte er den richtigen gefunden. Zufällig kam ich hinzu, und als mir der Vorgang erklärt war, fragte ich unwillkürlich: »Moritz, wie hast du das fertiggebracht?« – Und als ob der Affe den Sinn meiner Worte begriffe, glitt über sein Gesicht ein schlaues Lächeln, und er wies mir den Schlüssel, als ob er sagen wollte: »Mit dem da habe ich es ausgeführt!«

Für die hohe Intelligenz der Menschenaffen spricht auch die Tatsache, daß Jakob ein Eisenstück, das er von den Turngeräten losgebrochen hatte, als Hebel zu verwenden wußte, um das Vorhängeschloß aufzusprengen. Eine geradezu außerordentliche Freude bereitet jedem Tierfreund die Beobachtung der Affenmahlzeit. Die drei Menschenaffen erhalten außer saftigen Früchten noch Milch und Brot zum Frühstück, als Mittagessen aber ganz dieselben Speisen, wie sie in meinem Privathaus auf den Tisch kommen. Sie sind keine Kostverächter und haben sich an gute Hausmannskost gewöhnt, die ihnen vortrefflich mundet. Auch guten Rotwein mit Wasser vermischt erhalten sie zeitweise zur Mahlzeit. Dabei erweist sich Jakob als besonderer Weinliebhaber, während Rosa als Affendame dem Alkohol weniger Geschmack abgewinnt. Der Wärter[217] hat die drei Affen bei Tisch so sehr an Manieren gewöhnt, daß es eine Freude ist, den Tieren zuzusehen. Moritz funktioniert dabei als »Ober«! Er muß die Speisen herbeischleppen, ein Geschäft, das er mit großem Ernst besorgt. Nach der Mahlzeit muß er auch abräumen. Die Suppe wird geschickt mit dem Löffel ausgeschöpft. Nur wenn der Wärter einmal nicht Obacht gibt, fällt ein Kulturaffe aus der Rolle und schlürft genießerisch die Suppe mit weit vorgespitzten Lippen. Ein mahnendes Wort – und schleunigst tritt der Löffel wieder in Tätigkeit, zum großen Vergnügen der stets zahlreichen Zuschauer.

Als mein Enkel Fritz Wegner und der junge englische Dompteur Reuben Castang eines Morgens auf ihren Fahrrädern an dem Affenhaus vorrüberradelten, gebärdeten sich die Vierhänder wie toll. Was lag näher, als dies offenkundige Interesse in die richtigen Bahnen zu lenken! Und wenige Tage später sah man Moritz eifrig die Pedale tretend auf seinem Kinderrad die Wege des Stellinger Tierparks unsicher machen. Dem geborenen Sanguiniker macht das Radeln großen Spaß. Oft fährt er klingelnd und schreiend so schnell, daß der ihn begleitende Dompteur kaum zu folgen vermag.

Ich kann hier nicht aufzählen, was man dem klugen Tier alles beigebracht hat. Kurz, es beträgt sich ganz wie ein Mensch und vollführt Kunststücke, wie man sie sonst nur von Artisten zu sehen bekommt. Moritz geht stets völlig bekleidet mit Strümpfen, Schuhen, Unterkleidern, Weste, Rock und Mütze. Er speist dasselbe, was sein treuer Lehrer und Reisebegleiter R. Castang zu sich nimmt. Er schläft in seinem Bett, raucht seine Zigarette, trinkt seinen Wein, und wenn er reist, reist er 2. Klasse! – Im Frühjahr war er kurze Zeit zu Besuch in Stellingen. Als er mich sah, flog mir Moritz förmlich an den Hals, und die Freude des Tieres über das Wiedersehen war geradezu rührend. Jetzt befindet er sich wieder auf Reisen, denn er ist für die verschiedensten Städte Europas engagiert.

Meiner Ansicht nach scheiterte die Haltung der Menschenaffen, insbesondere der Gorillas, bisher nicht an der äußeren Pflege, die[218] diesen Affen zuteil wird, sondern an der seelischen Behandlung. Man hat diesen hochorganisierten Affen bisher viel zuwenig Empfindung zugetraut, und ich glaube bestimmt, daß die meisten Gorillas an Heimweh zugrunde gingen. Einen einzigartigen Anblick boten meine drei Menschenaffen, als ein Herr Heinike aus Kamerun einen jungen Gorilla in Begleitung seiner beiden Negerspielgefährten zum Tierpark brachte. Der Schimpanse drückte zunächst sein Erstaunen durch laute Rufe aus und versuchte dann, die Arme durch das Gitter streckend, den Gorilla an sich heranzuziehen. Als ihm dies nicht gelang, wurde er unwillig und bewarf ihn mit Sand und Steinen. Auch die Orangs zeigten das größte Interesse für den neuen Ankömmling und gaben sich Mühe, seiner durch die Drahtwand des Gitters habhaft zu werden. Der Orang Jakob ahmte dem Schimpansen das Bewerfen mit Steinen nach, während Rosa in der Erregung zu speien anfing, was geradezu spaßhaft aussah. Überhaupt war es ein seltener Anblick, die drei Vertreter der Anthropomorphengeschlechter3 versammelt zu sehen!

Lachstürme erregt es jedoch regelmäßig, wenn unseren Darwinschen Vettern die Musikinstrumente gereicht werden. Pauke, Triangel und Becken, und schon geht es los! Vierhändig und mit Leidenschaft. Fortissimo in allen Tonarten, und wenn man von den grinsenden, kunstbeflissenen Musenjüngern zum tränenlachenden Publikum blickt, so weiß man nicht, ob vor oder hinter dem trennenden Gitter die größere Freude herrscht.

Selbstverständlich läßt es sich nicht verhüten, daß bei einem Bestande von Tausenden von Tieren Krankheiten aller Art auftreten. Nicht immer brauchen sie so gefährlich zu sein, wie es beispielsweise die Vorboten der Cholera waren, die, wie ich schon früher erwähnte, in kurzer Zeit meinen Tierbestand nahezu vernichteten. Ich rechne auch zu den besonderen Krankheitserscheinungen nicht die, welche sich nach einem anstrengenden Transporte aus dem Inneren ferner Kontinente und über die Weltmeere hinweg bei der Ankunft an vielen Tieren bemerkbar machen. Der Leser entsinnt[219] sich aus dem Kapitel über den Tierfang, wie aufregend und erschöpfend sich der Fang für viele Tiere abspielt. Kommt ein derartiger Transport zum Tierpark, so ist es die Aufgabe der Pfleger, zunächst die Nerven dieser Tiere zu beruhigen und ihnen durch eine wohlbemessene Nahrung die Wiederherstellung ihres normalen Gesundheitszustandes und die Gewöhnung an das neue Klima zu erleichtern. Sind die Tiere erst einmal aufgefüttert und akklimatisiert, so lassen sich im allgemeinen feste Regeln für ihre Ernährung innehalten. Der ausgewachsene Löwe erhält seine beschriebenen Portionen. Ich pflege dreimal mit Pferdefleisch und einmal mit Rindfleisch in der Woche zu füttern, von letzterem die Köpfe und Herzen der Rinder mit. Einmal in der Woche wird für die Raubtiere ein Fastentag eingelegt. Nicht aus Ersparnisrücksichten, sondern weil die Raubtiere in der Freiheit sich auch nicht täglich an den gedeckten Tisch setzen können, diese Fütterungsweise also mehr der natürlichen entspricht. Auch gebe ich reichlich Knochen, denn das Sprichwort bewahrheitet sich, daß Knochen die Knochenbildung fördern, und außerdem kräftigen sie das Gebiß. So hatte ich einmal einen hervorragend schönen Berberlöwen, der an schwerer Zahnfistel an den Fangzähnen und den beiden Zahnreihen des Oberkiefers litt. Zunächst erhielt er Milch, Eier, gehacktes und geschabtes Fleisch, eine Nahrung, welche die Entzündung nicht weiter beunruhigte. Die dick angeschwollenen Lippen traten zurück, das Tier kräftigte sich wieder, und nun schritt ich zur Knochenfütterung, wodurch die schadhaften Zähne von selbst ausbrachen.

Einen der interessantesten Fälle aus den Krankheitsgeschichten, die im einzelnen mehr den Fachmann als den Leser interessieren werden, erlebte ich an einer indischen Büffelkuh, die vor der Einschiffung noch in ihrer Heimat erkrankte. Bei dieser hatte sich aus nicht aufgeklärten Gründen eine eiternde Entzündung an der Schnauze gebildet. Das Tier fieberte und magerte zusehends ab. Eine Untersuchung ergab, daß das eiternde Geschwür von unzähligen Schmarotzerwürmern angefüllt war. Die arme Kuh wurde[220] zunächst auf wissenschaftliche Methode erfolglos behandelt, bis eines Tages ein alter Hindu voll Interesse die Kuh betrachtete. Als ihm mitgeteilt wurde, wie viele fruchtlose Heilungsversuche bereits unternommen waren, erbot er sich schmunzelnd, das Tier innerhalb eines Tages zu kurieren. Wir gaben das Tier bereits verloren und hatten nichts dagegen einzuwenden. Der Hindu verschwand und kehrte nach einigen Stunden mit einem Bündel blütentragender Zweige eines uns unbekannten Strauches zurück. Ich kann nur sagen, daß die Blüten einen ziemlich durchdringenden Geruch verbreiteten. Diesen Blumenstrauß band der Medizinmann an die Schwanzquaste der Kuh. Das Tier wurde natürlich davon beunruhigt und schlug sich mit dem Schwanze um den Kopf, versuchte auch, die Zweige vom Schwanz loszureißen, und brachte sie dabei ständig mit dem Maul in Berührung. Nach nicht allzulanger Zeit fielen die Würmer wie betäubt aus der Nase. Das Geschwür wurde nun ausgewaschen, und nach kurzer Zeit trat eine gründliche Heilung ein.

Einfach wie dieses Hausmittel, wenn man es erst kennt, sind alle jene Kuren, die ich auf Grund eigener Erfahrung herausgefunden und mit der Zeit in ein ziemlich geordnetes System gebracht habe. Stets habe ich versucht, mit altbewährten Hausmitteln zu arbeiten, sofern es sich nicht um besondere Infektionserscheinungen handelte. Es ist auch ausgeschlossen, jedesmal, wenn einer von meinen Tausenden von Schützlingen einen Schnupfen oder einen kranken Fuß hat, tierärztlichen Rat und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Als eines der Beispiele, wie ich mir in solchen Fällen durch eigenes Beobachten und Nachdenken stets zu helfen suchte, möchte ich noch die Geschichte eines Eisbären erzählen, dem in dem engen Käfig seines früheren Herrn mangels Bewegungsfreiheit die Krallen an den Hinterpranken nicht nur ins Fleisch hinein, sondern völlig durch das Fleisch hindurch gewachsen waren, so daß die Spitzen an der Oberfläche wieder heraustraten. Dieses Übel tritt leicht bei Eisbären ein, denn sie haben die Gewohnheit, sich bei allen Wendungen kurz auf der Hinterhand umzudrehen. Ich[221] ließ einen großen Umsatzkasten bauen und nötigte den Eisbären, aus seinem großen Käfig in diesen nur einen halben Meter breiten hinüberzuwandern. Der Kasten hatte vorn Gitterstäbe, auf die der Eisbär zu stehen kam, als ich den Kasten mit Hilfe einiger Wärter hochkantete. Es war mir darum zu tun, dem Tier ohne Fesselung und Narkose die Krallen abzuschneiden. Als der Bär auf seinen Füßen stand, wurde der Kasten mit Schraubstöcken und Tauen angehoben und auf Böcke gesetzt. Jetzt kroch ich unter das Gitter und schnitt von unten her die Nägel mit einer kräftigen Eisendrahtzange aus, nachdem ich das jeweilige Bein festgebunden hatte. Es war verhältnismäßig leicht, die abgeschnittenen Nagelstümpfe aus dem entzündeten und faulen Fleisch herauszuziehen. Darauf siedelte der Eisbär in einen anderen Käfig über, dessen Boden mit Zink ausgeschlagen war und den ich mit eiskaltem Wasser füllte, während ich den anderen Teil des Käfigs etwa eineinhalb Meter höher aufbockte. Der Bär war auf diese Weise gezwungen, mit seinen Hinterpranken im Wasser zu liegen, das ständig kühl und sauber gehalten wurde. Nach vierzehn Tagen war der Bär vollkommen geheilt und wanderte gegen einen hohen Preis in eine Tierschau.

Weit verbreitet ist auch in der Tierwelt die Vorliebe für Alkohol und Zucker. Mit dem Hinweis darauf, daß man Rennpferden vor dem Start Sekt zu trinken gibt oder ihnen mit Schaumwein die Nüstern wäscht, sage ich wohl nur den wenigsten etwas Neues. Daß Affen gerne Wein und Alkohol trinken, ist vielfach verbürgt, und der Leser entsinnt sich noch des angetrunkenen Elefanten, der mir auf dem Transport allerhand Unannehmlichkeiten bereitete, so daß ich ihn mit einem Kanonenrausch auf die Streu strecken mußte. Die Anwendung des Alkohols bei Bären, und zwar in einer recht grausamen, jeden Tierfreund empörenden Absicht, erfuhr ich gelegentlich eines Verkaufs von mehreren europäischen Bären an den Tierschaubesitzer Malferteiner. Als ich ihm die Bären übergeben hatte, bemerkte ich, daß seine Käfige für die ungewöhnlich großen und starken Tiere nicht widerstandsfähig genug waren.[222] Zu dieser Zeit tauchte eine Zigeunerbande auf, die für die Bären großes Interesse hatte. Malferteiner stellte fest, daß die Burschen über einige Barmittel verfügten, und verkaufte seine gerade erworbenen Bären sofort weiter an diese dunkle Zunft von Wahrsagern und Kesselflickern. Auf die Frage, wie sie ohne Hilfsmittel und Käfige diese keineswegs gezähmten Bären zu transportieren gedächten, hatten sie verschmitzt gelacht und ihm bedeutet, das solle er nur ihre Sorge sein lassen. Das erste, was diese Zigeuner taten, war, daß sie den armen Tieren zwei Tage lang nichts zu fressen gaben. Darauf schleppten sie ein Faß Salzheringe herbei. Der Widerwille gegen diese Nahrung half dem Meister Petz nichts. Der Hunger war stärker als die Abneigung. Am dritten Tage waren die Heringe aufgefressen. Nun stellte sich natürlich ein jämmerlicher Durst bei den Tieren ein. Wasser bekamen sie aber nicht. Dagegen stellten ihnen die neuen grausamen Besitzer einen Bottich mit stark versüßtem Spiritus vor die Nase. Gierig stürzten sich die Bären über die wohlschmeckende Flüssigkeit und betranken sich vollkommen. Sie sanken in einen todähnlichen Schlaf, worauf die Zigeuner furchtlos in den Käfig zu den völlig ungefährlichen Raubtieren stiegen und ihnen mit Zangen die Fangzähne abbrachen und die Krallen von den Tatzen abkniffen. Es kam ihnen nicht darauf an, wenn sie bei dieser Operation tief ins Fleisch der Pranken rissen. Die Bären erwachten nicht davon, und Mitleid kannten diese Tierquäler nicht. Darauf wurden den beiden Raubtieren Ringe durch das Nasenbein gezogen und eine Kette um den Hals, eine andere durch den Nasenring gelegt. Die so gefesselten und wehrlos gemachten Geschöpfe luden die Zigeuner auf einen Wagen und fuhren mit ihnen fort. Nach mancher Stunde der Fahrt wachten die Tiere auf, fielen vom Wagen herunter und mußten nun, von einer Kette gehalten, hinterhertraben. Zum Überfluß hatten ihnen die Zigeuner noch Maulkörbe vorgelegt, die aber völlig unnötig waren, denn die noch immer halb betäubten, vom Schmerz geschwächten Bären dachten gar nicht an einen wohl gerechtfertigten Angriff auf ihre Peiniger.[223]

Im Jahre 1908 hatte ich den Plan gefaßt, in Stellingen die erste deutsche Straußenfarm zu errichten. Ein Jahr später war es nun soweit. Auf einer großen Wiese, um die sich die Ausläufer der einzelnen Zuchtpaare gruppierten, tummelten sich Hunderte von Straußenvögeln aller afrikanischen Rassen vom Kap bis zum Blauen Nil. Die größte Bewunderung erweckte jedoch das Kükenhaus mit den Brutmaschinen, wie ich sie auf den kalifornischen Farmen vorgefunden hatte. Wir beobachteten das Ausschlüpfen der Küken, die auf dem von Heizschlangen erwärmten Sand des Auslaufes trockneten und sich die ersten zwei Tage nur von winzigen Bissen der Eierschalen nährten. Der ganze wohltemperierte Raum war durch große Glaswände abgeteilt. Eine dort angesäte kleine Luzernewiese bot den Jungtieren die nötige Nahrung der ersten Tage. Später konnten sie durch die Glastüren ebenfalls nach eigenem Ermessen ins Freie gelangen, wo sie das gleiche Futter wie die ausgewachsenen Strauße erhielten. Nach einem halben Jahre wurden den inzwischen stattlich gewachsenen Küken die ersten Federn abgeschnitten, eine schmerzlose Prozedur, die sie in der Folgezeit aller neun Monate durchmachten.

Dem Tierfreund sei verraten, daß die Tiere sich bei größtem Wohlbefinden ständig im Freien aufhalten und dabei ein prachtvolles Federkleid entwickeln. Das alljährliche Schneebad dieser grotesken Tropenvögel zählt wohl zu den seltsamsten Anblicken meines Tierparks.

Veranlaßt mich mein Beruf und die Größe meines Unternehmens auf diese Weise zu einem Seitensprung von der Tierarzneikunde zur Damenmode, so liegt es noch näher, daß ich häufig die Grenzgebiete der Zoologie streifen muß. Panta rhei – alles fließt, sagte schon Heraklit4 und erkannte damit, daß die Fauna, welche heute die Erde belebt, nicht das Werk einer einmaligen Schöpfung ist, sondern sich aus uns unbekannten Anfängen in den verschiedenen Epochen unserer Erdgeschichte ständig wandelnd fortent[224] wickelte. In Anpassung an die jeweiligen klimatischen und biologischen Bedingungen entstanden Tierwelten und traten ab von der Bühne des Lebens, wenn unser Erdball in Gezeiten, wie sie die Paläontologie unterscheidet, ihnen keine Lebensbedingungen mehr gewährte. Skelettfunde und Versteinerungen geben uns heute eine Vorstellung jener vorweltlichen Riesen, die in der Sekundärzeit unsere damalige Welt belebten. So fand man 1861 im Langenaltheimer Haardt bei Solnhofen den versteinerten Abdruck einer fliegenden Eidechse. Weitere Funde führten zur Rekonstruktion des Urvogels Archäopteryx. In Amerika erregte der Fund des völlig erhaltenen Skeletts eines Diplodocus großes Aufsehen und gab mir den Gedanken, diese vorsintflutlichen Ungeheuer, in Stein nachgebildet, im neuen Teil meines Stellinger Tierparks aufzustellen.

Den geeigneten Bildhauer fand ich in Josef Pallenberg, der mir bereits als junger Künstler in meinem damaligen Reptilienhaus am Neuen Pferdemarkt durch seine ausgezeichneten Krokodil- und Eidechsenplastiken aufgefallen war. Ich entsandte den von meinem Vorschlag begeisterten jungen Düsseldorfer zum La-Plata-Museum in Argentinien, um dort die Ausgrabungsfunde und Panzerreste der Riesengürteltiere zu studieren. In den prähistorischen Museen von Berlin, Paris, London und New York setzte Pallenberg seine Studien an den Überresten der Saurierfunde fort und rekonstruierte deren Körper derart exakt, daß seinen Modellen eine lobende Anerkennung der europäischen und amerikanischen Paläontologen nicht versagt blieb.

Mit einem Stab von Mitarbeitern schuf Pallenberg in den Jahren 1908 und 1909 in einem künstlichen, die Phantasie des Beschauers noch anregenden Sumpfgelände die Riesenplastiken der vorsintflutlichen Ungeheuer in Originalgröße. Da kämpfte ein Nashornsaurier mit dem stachelbewehrten Stegosaurus. Ein Allosaurus zermahlt den Kadaver eines Brontosaurus, und hoch über die Baumwipfel reckt sich das Schreckenshaupt eines Iguanodon, einem gigantischen Känguruh in der langgeschwänzten Gestalt nicht unähnlich.[225] Aus dem trüben Wasser starren die Rachen der gepanzerten Urahnen späterer Krokodilgeschlechter. Flugdrachen horsten mit ihren befingerten Gleitflügeln an der Felsenwand und blicken auf die Fabelwesen der dreigehörnten Ochsensaurier und anderer Urwelttiere, unter denen der fünfundzwanzig Meter lange Diplodocus besonders die Aufmerksamkeit des Besuchers erregt. Mit einem geschätzten Gewicht von über 20000 Kilo ist diese fossile Echse als das größte Landtier aller Zeiten anzusprechen und findet heute nur noch ein Gegenstück in dem Riesenwal oder Blauwal, der als rund siebenmal so schweres Säugetier auch nur in den unermeßlichen Weiten des Atlantik denkbar ist, als dem gewaltigsten Tier, das je die Natur erschuf. Die gigantischen Ausmaße dieser Meereskolosse kann der Tierparkbesucher ermessen, wenn er die neben meinem Eismeerpanorama aufgestellten Kinnbacken eines Grönlandwales gleich einem Domportal durchschreitet.

Sollten nicht die Weiten der Ozeane, die unerforschte Welt der Tiefsee oder die nie von eines Menschen Fuß betretenen fieberschwangeren Sümpfe Innerafrikas noch Nachfahren dieser verschollenen Epochen bergen, zu denen die Altertumskammer unserer Tierwelt »Australien« manche Brücke schlägt? Häufig brachten meine Expeditionen aus dem Inneren der großen Kontinente Eingeborenenberichte mit, die von Tierarten Kunde geben, welche uns unbekannt scheinen. Nicht so oft, wie man vielleicht anzunehmen geneigt ist, sind solche Berichte Übertreibungen oder gar bewußte Lügen, vielmehr führt eine gewissenhafte Prüfung ihrer Berichte häufig zu neuen Entdeckungen. Berühmt geworden ist ja in der gesamten Tierkunde unserer Tage die Auffindung der Überreste des Riesenfaultieres in Südamerika. In aller Erinnerung ist ebenfalls noch das Aufsehen, welches die Entdeckung des Okapi machte. Oft geben auch die primitiven Überlieferungen aus dem Kunstleben der Eingeborenen Fingerzeige für das Vorhandensein unbekannter Tierarten. So erhielt ich beispielsweise vor einigen Jahren aus ganz verschiedenen Quellen Berichte über solche Malereien auf Felsen und in Höhlen im Inneren von Rhodesia. Der eine Bericht stammte[226] von einem meiner Reisenden, der andere von einem hochgestellten Engländer, der zur Jagd auf großes Wild hinausgezogen war. Der erste hatte sich dem Inneren des Kontinents vom Südwesten aus, der andere vom Nordosten genähert. Beide Berichte stimmen merkwürdigerweise darin überein, daß ihnen die Eingeborenen von dem Vorkommen eines Ungeheuers erzählt hätten, das, halb Elefant, halb Drache, in den unzugänglichen Sumpfgebieten nahe der Kongostaatgrenze zwischen den Flüssen Lunga und Kafue hause. Ja, vor mehreren Jahrzehnten brachte mir mein vortrefflicher Reisender Menges schon Berichte über ein ähnliches sagenhaftes Geschöpf. Auch Zeichnungen dieses Tieres, von den Eingeborenen primitiv modelliert und auf die Wände von Höhlen gemalt, fanden sich im Inneren Afrikas. Nach allem, was mir davon bekanntgeworden ist, kann es sich nur um eine Art Brontosaurus handeln. Die Berichte, von so verschiedener Seite kommend und trotzdem so übereinstimmend, bringen mich fast zu der Überzeugung, daß dieses Tier heute noch existieren muß, zumal Eingeborene immer wieder behaupten, daß in dem gleichen Gebiet weder Krokodile noch Nilpferde vorhanden seien. Ich gebe diese Meldungen mit allen Vorbehalten wieder, dennoch bestätigten mir meine Reisenden, daß letzteres Wild in diesen Gegenden nicht anzutreffen sei. Unter erheblichen Kosten habe ich sofort eine Expedition in dieses Gebiet entsandt. Sie mußte aber unverrichtetersache heimkehren, weil in diesen undurchdringlichen und Hunderte von Kilometern sich nach allen Seiten ausdehnenden Sümpfen meine Reisenden von schweren Fieberanfällen heimgesucht wurden. Auch verhinderten kriegerische Eingeborene durch vielfache Angriffe das weitere Vordringen. Ein anderes Mal beteiligte ich mich an jener vielbesprochenen Tendaguru-Expedition, die, wenn auch kein unbekanntes Sumpftier, so doch Knochenreste eines Sauriers von gewaltigen Ausmaßen entdeckte.5

Trotzdem gebe ich die Hoffnung noch nicht auf, unserer Zoologie[227] den Beweis der Existenz dieses Geschöpfes zu erbringen und damit vielleicht zu weiteren Entdeckungen Anlaß zu geben. Denn wenn man sich erst überzeugt, daß tatsächlich ein solches Tier heute noch lebt, das man seit Jahrtausenden für ausgestorben hält, so wird die Suche nach weiteren zur Zeit noch unbekannten Tierarten des Festlandes oder der Ozeane neuen Ansporn erhalten!

Fußnoten

1 Durch seine Akklimatisationserfolge hat sich Hagenbeck als Lehrer und Berater aus seiner Praxis heraus vielen Tierzüchtern und Tiergärtnern nützlich erwiesen; dieses Rufes erfreut er sich bei ihnen teilweise noch heute.


2 »panem et circenses« (lat.): »Brot und Schauspiele im Zirkus«; ein Grundsatz, nach dem die römischen Machthaber glaubten verfahren zu müssen, um das Proletariat mit seinem Los zufrieden zu machen und vom politischen Denken und Handeln fernzuhalten.


3 Anthropomorphen: menschenähnliche Affen


4 Heraklit: griechischer Philosoph aus Ephesus, lebte um 500 v.u.Z.


5 Die Suche nach »vorsintflutlichen« Sauriern geriet zu jener Zeit in Mode; die erwähnte Expedition ist nur eine von vielen.


Quelle:
Hagenbeck, Carl: Von Tieren und Menschen. Leipzig 1967, S. 228.
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