Drittes Kapitel.
Das Laboratorium.

[31] Überblick. Die eben beschriebenen Ereignisse hatten sich vollzogen, ohne daß meine Lehrtätigkeit im neuen Amt hierbei in Frage kam. Ich hatte alsbald im Wintersemester 1887/88 anorganische, im folgenden Sommer physikalische Chemie gelesen, war stufenweise in meine anderen Pflichten als Examinator und Fakultätsmitglied eingetreten, hatte begonnen, die endlose Runde der Begrüßungsbesuche bei meinen neuen Kollegen zu machen und so mit allerbestem Willen mich bemüht, als gleichartiges Glied in den großen Organismus der Leipziger Universität einzutreten.

Dies war um jene Zeit bereits eine sehr umständliche ja schwierige Sache. Das ursprüngliche Universitätsgebäude lag am Rande der Altstadt, die den Raum bedeckte, der früher von den Stadtmauern umschlossen war. An deren Stellen waren längst Anlagen von breiten, baumbeschatteten Straßen getreten, jenseits deren die Vorstädte lagen, welche langsam und unwiderstehlich in die weitere Umgebung diffundierten und die dort aus den früheren Dörfern entstandenen abgetrennten Gruppen mit der Gesamtstadt vereinigten. Die verfügbaren Räume der alten Universität waren für ihre Bedürfnisse längst zu klein geworden. Statt nun, wie es vernünftig gewesen wäre, ein für das nächste Jahrhundert und vielleicht[32] länger reichendes zusammenhängendes Gelände am Rande der Vorstädte zur Aufnahme der Gesamtuniversität herzurichten, konnte man sich aus »historischer« Sentimentalität nicht entschließen, die alten »ehrwürdigen« Räume aufzugeben, sondern begnügte sich, von Fall zu Fall für die nötig werdenden Neubauten der medizinischen und naturwissenschaftlichen Anstalten im Südosten der Stadt einzelne Grundstücke anzukaufen und zu bebauen. In dem alten Universitätsgebäude hatten die »Geisteswissenschaften« ihre Räume.

Dadurch kam es, daß nur die zu dieser Gruppe gehörigen Professoren und Privatdozenten in den großen »Professorenzimmern«, die inmitten der Auditorien lagen, während der freien Viertelstunden in häufige persönliche Berührung kamen. Die draußen untergebrachten Mediziner und Naturforscher aber hatten jeder seinen eigenen Hörsaal und es gab überhaupt keinen Ort für sie, an dem sie ungerufen zusammentreffen konnten.

Zusammen mit meiner geringen Neigung zu dem gewöhnlichen geselligen Verkehr haben diese Umstände bewirkt, daß ich mich in Leipzig ebensowenig wie in Riga restlos in die vorhandenen Verhältnisse habe einleben können.

Das alte Laboratorium. Für die Zwecke des Zweiten chemischen Laboratoriums waren mir, wie erwähnt, die Räume zugewiesen worden, welche der Agrikulturchemiker Wilhelm Knop vor mir inne gehabt hatte. Er war ein Schüler Wöhlers gewesen und hatte sich dessen besonderes Wohlwollen als »sinniger« Forscher erworben. Durch die Einführung der Wasserkulturen für die Untersuchung des Nahrungsbedarfs der Pflanzen hat er eine dauernde Bedeutung für sein Arbeitsgebiet gewonnen.

Als ich ihn kennen lernte, war er ein alter, sonderbarer Junggeselle geworden, der mit einer ähnlichen Schwester in der weitläufigen Amtswohnung, die ihm[33] angewiesen war, nur einige Zimmer benutzte. Er war auch von den Gedanken über die geometrischen Formen der Atome angesteckt worden, welche durch van't Hoffs Kohlenstofftetraeder angeregt, soeben sich in Wislicenus' Händen als sehr fruchtbar erwiesen hatten. Nur hatte er die tetraedrische Gestalt dem Wasserstoff zugeteilt und dem Kohlenstoff eine oktaedrische.

Als ich ihn besuchte, fand ich ein kleines Männchen mit eulenartigem Gesicht und drolligem Benehmen, das teils bewußt, teils unterbewußt war. Sein Schädel war kahl und zeigte nur geringe Reste eines roten Haarwuchses; das Gesicht war bartlos. Er war sehr freundlich zu mir, legte mir seinen langjährigen Laboratoriumsdiener Naumann dringend an das Herz, der sich in der Folge auch ausgezeichnet bewährt hat, und beschenkte mich mit einer Abhandlung über seine Theorie nebst einer Sammlung Bilder, für die er sich nebst seiner Theorie hatte photographieren lassen. Er hatte Modelle aller Art auf dem Vorlesungstisch – demselben, den ich übernommen hatte – aufbauen lassen und die Tafel dahinter mit Erläuterungen vollgeschrieben. Auf einem der Bilder war das Modell des Benzols sichtbar, daneben er selbst, mit einem Stock darauf hinweisend, wozu er ein höchst ausdrucksvolles Gesicht gemacht hatte, und auf der Tafel stand zu lesen:


So, siehst Du wohl,

So konstruiert man das Benzol!

Sechs Tetraeder Wasserstoff,

Sechs Oktaeder Kohlenstoff.


Als ich ihn später einmal bei einer geselligen Zusammenkunft traf, hatte er eben die Zigarrenkiste ergriffen, hielt sie an seinen kahlen Schädel und fragte: was ist das? Natürlich wußte es niemand. »Mondschein an der Küste von Havanna« war die Auflösung. Es[34] war ein großer Teil Selbstironie bei diesen Wunderlichkeiten. Man kann sich denken, daß das Laboratorium, das ich von ihm erbte, keine hervorragende Beschaffenheit besaß. Das Haus war, wie erwähnt, für die Landwirtschaft erbaut, deren damaliger Vertreter namens Blomeyer kein hervorragender Fachmann oder Lehrer war. So hatte der Architekt ein und dieselbe schematische Raumeinteilung im Erdgeschoß für das Laboratorium, im oberen für die Sammlungen, im obersten für die Wohnungen und zu unterst für die Kellerräume durchgeführt. Es war ein Eckhaus und bestand aus zwei gleich großen Flügeln, die symmetrisch an ein mittleres Treppenhaus gesetzt waren. Die Teilung zwischen uns beiden wurde zu gleichen Hälften durchgeführt: je ein Stockwerk für die Anstalt und ein halbes für die Wohnung, doch sollten die Rechte des Hausherrn dem Landwirt zukommen. Es war, wie man sieht, eine durchaus unorganische Sache und die unvermeidlichen Schwierigkeiten blieben nicht aus, trotz meiner Bereitwilligkeit, mich dem viel älteren Kollegen unterzuordnen. Sie wurden noch viel größer, als nach einigen Jahren Blomeyer starb und sein Nachfolger, der die eingeschlafene landwirtschaftliche Abteilung zu heben gedachte, sich in dem Hause, das das landwirtschaftliche Institut hieß, überall durch die ausdehnungsbedürftige physikalische Chemie beengt und gestört fand. Im Ministerium erkannte man auch ziemlich bald die Unhaltbarkeit der Verhältnisse, doch gelang es meinem landwirtschaftlichen Kollegen, die Bedürfnisse seines Faches als die dringenderen zur Geltung zu bringen, die dann durch einen geräumigen Neubau erfüllt wurden. Ein solcher wurde auch mir in Aussicht gestellt. Die Mittel dazu konnten aber erst flüssig gemacht werden, nachdem jener Bau erledigt war, so daß ich den größeren Teil meiner Leipziger Unterrichtstätigkeit in ganz unzulänglichen Räumen durchführen mußte.

[35] Die Assistenten. Für jede der drei Abteilungen des Laboratoriums: die physikalisch-chemische, die analytische und die pharmazeutische war, wie berichtet, je ein Assistent vorgesehen worden. Die beiden letzten Stellen wurden durch dieselben Herren besetzt, welche bei Wiedemann und Wislicenus die entsprechenden Abteilungen geleitet hatten. Für die physikalisch-chemische Abteilung war kein Kandidat vorhanden. Da erinnerte ich mich des Dr. Walter Nernst, den ich eben in Graz kennen gelernt und über dessen Begabung und Kenntnisse Arrhenius ein sehr günstiges Urteil gefällt hatte. Da er ohnehin die Absicht gehabt hatte, in Riga bei mir zu arbeiten, so trug ich ihm die Stelle in Leipzig an, die er unverweilt annahm. Da die physikalische Abteilung mit nur zwei Praktikanten begann, so hatte Nernst reichlich Zeit, sich mit den besonderen Methoden vertraut zu machen, welche sich hier auszubilden begonnen hatten. Denn da er bisher nur als Physiker gearbeitet hatte, so waren ihm die Handgriffe der chemischen Praxis noch nicht geläufig. Er machte sie sich schnell zu eigen und schon im zweiten Band der Zeitschrift für physikalische Chemie konnte ein erstes Ergebnis veröffentlicht werden. Es war von Helmholtz einige Jahre vorher die thermodynamische Theorie der Voltaschen Ketten entwickelt worden, welche die Reaktionswärme des chemischen Vorganges mit der elektromotorischen Kraft und ihrer Temperaturveränderlichkeit in Beziehung setzt. Bei der Prüfung der Formel durch Czapski hatten sich neben einigen guten Übereinstimmungen sehr starke Abweichungen gefunden, die er nicht aufklären konnte. Sie traten ausschließlich in Ketten mit Quecksilber auf, dessen thermochemische Werte durch J. Thomsen bestimmt waren, die ebenso zweifellos erschienen, wie seine zahlreichen anderen, vielfach bestätigten Bestimmungen. Mir waren schon in Riga Zweifel an der Richtigkeit von [36] Thomsens Messungen am Quecksilber gekommen und ich hatte deren Kontrolle durch ein anderes, einwandfreies Verfahren einem besonders geschickten Chemiker als Diplomarbeit aufgegeben. Seine Zahlen waren von denen Thomsens erheblich verschieden und ergaben gute Übereinstimmung mit Helmholtz' Formel. Da aber diese Arbeiten in das Ende meiner Rigaer Zeit gefallen waren, hatte ich sie nicht so eingehend kontrollieren können, wie es die Bedeutung der Sache erforderte und eine Veröffentlichung unterlassen. Es war mir daher sehr willkommen, die Angelegenheit nochmals prüfen zu können. Nernsts Ergebnisse stimmten mit den Rigaschen überein und bewiesen somit gleichzeitig die Richtigkeit der thermodynamischen Theorie von Helmholtz und die Unrichtigkeit von Thomsens Messung. Ich schrieb dies an Thomsen mit der Bitte, zu der Sache Stellung zu nehmen, da ich nicht wünschte, den verdienten Forscher in eine zweite Polemik zu verwickeln, nachdem die erste mit Stohmann sehr unerfreuliche Formen angenommen hatte. Er stellte sofort einige Versuche an, welche die fraglichen Zahlen auf einem dritten, unabhängigen Wege kontrollierten; es ergab sich eine Bestätigung der von Nernst erhaltenen Werte. Ich veröffentlichte seine Mitteilung gleichzeitig mit der von Nernst, wodurch die ganze Angelegenheit in das Gebiet des Zweifellosen erhoben und jeder Streit vermieden wurde.

Sehr bald aber fand Nernst den Gedankenkreis, in welchem sich seine hohe Sonderbegabung glänzend entwickeln sollte.

Die Theorie der elektromotorischen Kräfte. In dem kleinen Kreise der Laboratoriumsgenossen war natürlich unaufhörlich von den Theorien die Rede, welche van't Hoff und Arrhenius geschaffen hatten, und deren Fruchtbarkeit erst vollständig zutage trat, als sie miteinander vereinigt wurden. Es ging den meisten schwer[37] ein, daß wirklich die gelösten Stoffe und entstandenen Ionen sich wie Gase in den Räumen ihrer Lösungen verhalten und insbesondere die starken Drucke ausüben sollten, die nach der Rechnung vorhanden sein sollten. Die Versuche von Pfeffer, welche den Druck unmittelbar bewiesen und messen ließen, hatte noch keiner von uns gesehen; später hat Pfeffer eine osmotische Zelle zu unserer Erbauung aufgebaut und uns das Manometer ablesen lassen. Warum fliegen die Molekeln nicht aus der Lösung heraus, wenn sie von innen gegen die Oberfläche stoßen? Darauf hatte der Wiener Physiker Stephan die Antwort gegeben, die uns geläufig war: beim Verlassen der Oberfläche entstehen sofort zurücktreibende Kräfte von vielen Atmosphären. Aber wenn man diese Kräfte dadurch aufhebt, daß man reines Lösungsmittel darüber schichtet, dann müßten sich die Molekeln sofort dahinein stürzen, sagte Nernst. Das tun sie ja auch, antwortete ich; die Diffusion setzt ja gleich ein. Aber bei einem Gase wäre der leere Raum in wenigen Augenblicken erfüllt, und die Diffusion dauert Wochen und Monate, lautete der Einwand. Der leere Raum bietet kein Bewegungshindernis, sagte ich; das flüssige Lösungsmittel aber einen sehr großen Reibungswiderstand, der die Bewegung entsprechend verlangsamt.

Ich ließ es dabei bewenden; in Nernsts Geiste aber gestaltete sich der Vorgang zu einem anschaulichen Bilde, das er mit den Mitteln der Analyse weiter verfolgte, bis es ihn zu seiner Entdeckung von der elektromotorischen Wirkung der Ionen führte1. Nach einigen Monaten[38] legte er in einer Abhandlung die Gesichtspunkte dar, deren weitere Entwicklung bald seine Theorie der Voltaschen Ketten ergab.

Ernst Beckmann. Von nicht minderer Bedeutung wie die Tätigkeit des physikochemischen Assistenten erwies sich die des pharmazeutischen. Ich habe schon erzählt, wie ich genötigt war, den Fremdkörper jener Abteilung zu übernehmen, und daß die Unbequemlichkeit mehr als ausgeglichen wurde durch die Persönlichkeit des Assistenten, der gleichzeitig bei mir eintrat. Tatsächlich entwickelte sich Ernst Beckmann zu einem meiner besten und erfolgreichsten Mitarbeiter, dessen freundschaftlich-dankbare Gesinnung mir gegenüber niemals auch nur die geringste Schwankung und Störung erfahren hat. Von allen Arbeitsgenossen, die ich damals gefunden habe, darf ich ihn wohl den treuesten nennen, und ich weiß, daß ich ihm, wenn er noch lebte, kein lieberes Wort sagen könnte.

Ich selbst muß mir dagegen den Vorwurf machen, daß ich, als später unsere Wege uns auseinander führten – er war zuletzt nach Berlin gelangt als Leiter eines der Kaiser Wilhelm-Institute – seine stets bewiesene Freundschaft durch Nachlässigkeit von meiner Seite hart auf die Probe gestellt habe. Nicht aus üblem Willen oder schwankender Gesinnung, sondern weil ich so viel anderes zu tun hatte und mein Interesse für die von ihm fortdauernd erfolgreich gepflegte Chemie mehr und mehr verlor. Er aber hat jede Gelegenheit benutzt, mich von der Unveränderlichkeit seiner guten Gesinnung zu überzeugen.

Beckmanns Forschungen. Zunächst fanden wir außerhalb der amtlichen Beziehung keinen gemeinsamen Boden. Er hatte längst angefangen wissenschaftlich zu arbeiten und hatte, wie damals fast alle Chemiker, seine Aufmerksamkeit und sein großes experimentelles Geschick[39] der organischen Chemie zugewandt, wo er von mir nichts lernen konnte, da er davon viel mehr verstand als ich. Bei seinen Forschungen war er auf sehr merkwürdige Fälle von Isomerie gestoßen, für deren Aufklärung es wichtig war, zu wissen, ob die Isomeren gleiche Molekulargröße hatten oder nicht. Da die Stoffe nicht flüchtig waren, so schien die Frage keine experimentelle Antwort zuzulassen. Im Gespräch darüber wies ich auf die Beziehungen zwischen Molekulargröße und Gefrierpunktserniedrigung der Lösungen hin, welche F.M. Raoult vor kurzem entdeckt hatte. Die Möglichkeit, die bisher nur bei flüchtigen Stoffen aus der Dampfdichte bestimmbaren Molekulargewichte, welche für die Deutung und Ordnung der chemischen Vorgänge von größter Bedeutung sind, nunmehr an allen löslichen Stoffen bestimmen zu können, d.h. bei allen, die es gibt, hatte mehrfache Aufmerksamkeit erregt und von mehreren Seiten wurden gleichzeitig entsprechende Versuche angestellt. Ich selbst hatte, veranlaßt durch Leitfähigkeitsmessungen Waldens an wässerigen Lösungen von Chromsäure durch Gefrierpunktserniedrigung nachgewiesen, daß sie nicht Chromsäure, sondern Dichromsäure enthalten. Dr. W. Hentschel (I, 189), der inzwischen von Dresden nach Leipzig übergesiedelt und bei Wislicenus Assistent war, hatte auf meine Einladung seine erhebliche experimentelle Geschicklichkeit auf die Ausbildung des Verfahrens gewendet und damit Verhältnisse aufgedeckt, die dem damaligen Chemiker wunderbar erscheinen mußten. Dem Physikochemiker erschienen sie freilich natürlich und notwendig und ich sah mich verpflichtet, dies näher darzulegen. Dies verstimmte ihn so, daß er das freundliche Verhältnis abbrach, ohne daß ich herausbringen konnte, was eigentlich ihn verletzt hatte. Er verließ nach einiger Zeit Leipzig, um sich ganz anderen[40] Aufgaben zu widmen und ist mir seitdem aus den Augen gekommen.

Auch Beckmann ging in gleicher Richtung vor und es ist ein glänzendes Zeugnis für seine mit einem sicheren Sinn für das Praktische verbundene experimentelle Geschicklichkeit, daß der von ihm 1888 beschriebene Apparat ohne wesentliche Änderung noch heute, nach bald 40 Jahren in Gebrauch steht. Insbesondere enthält schon seine erste Mitteilung die Beschreibung des »Beckmann-Thermometers« mit veränderlicher Füllung, das man in jedem beliebigen Temperaturgebiet gebrauchen kann.

Am Ende seiner Arbeit erwähnt Beckmann, daß er inzwischen auf meine Veranlassung auch das andere Verfahren nach Raoult zur Messung von Molekulargewichten aufgenommen hätte, nämlich die Bestimmung der Verminderung des Dampfdruckes von Lösungen. Mir war dieses besonders interessant, weil ich einen Teil dieser Beziehungen schon an dem von A. Wüllner gemessenen Material gefunden hatte (I, 195) und deshalb die Zweifel an der Richtigkeit von Raoults Ergebnissen nicht teilte, die damals geäußert wurden. Beckmann war sofort bereit, die Sache experimentell zu bearbeiten und wir besprachen die vorhandenen zwei Möglichkeiten: Messung des Dampfdrucks oder Messung des Siedepunkts.

Aus Öttingens Unterricht war mir geläufig, daß man die Temperatur innerhalb einer siedenden Lösung nur sehr ungenau messen kann, wegen der kleinen Siedeverzüge, die man als unvermeidlich ansah. Und im Dampf findet man nicht die Siedetemperatur der Lösung, sondern die des reinen Lösungsmittels, das sich alsbald aus dem Dampf auf dem Thermometer niederschlägt und die Temperatur nicht steigen läßt. Ich empfahl also das »statische« Verfahren, die Messung des Dampfdrucks.

Beckmann bemühte sich alsbald um die Ausführung, fand aber, daß hier wegen der äußerst geringen[41] Flüssigkeitsmenge, die als Dampf anwesend war, die Fehlerquellen noch größer sind. Statt den Gedanken ganz aufzugeben und sich auf die von ihm schon durchgearbeiteten Molekulargewichtsbestimmung durch Gefrierpunktserniedrigung zu beschränken, war er zäh und vorurteilsfrei genug, trotz meiner Warnung es mit den Siedepunkten zu versuchen, indem er die verschiedenen Mittel zur Vermeidung von Siedeverzügen erfand und erprobte, durch welche er im Laufe der Zeit das Verfahren zu einem hochgradig genauen entwickelt hat.

Auf diese Weise vollzog sich die Wendung seiner Arbeiten zur physikalischen Chemie. Seine Apparate und Methoden zur Bestimmung von Molekulargrößen an Lösungen haben sich über die ganze Welt verbreitet und es gibt wohl kein chemisches Laboratorium, in welchem sie nicht Anwendung finden.

Beckmann war in demselben Jahr geboren, wie ich; da er aber aus äußeren Gründen erst verhältnismäßig spät zur wissenschaftlichen Laufbahn gelangt war, so kam es, daß er sich noch in jener untergeordneten Stellung befand, als wir in Leipzig unter einem Dach unsere Arbeiten machten, obwohl er sich bereits einen geachteten Namen durch seine organischen Arbeiten erworben hatte. Der Aufstieg ließ aber nicht lange auf sich warten; er wurde nach einigen Jahren nach Erlangen berufen. Und wieder einige Jahre später kam er nach Leipzig zurück, um dort als Ordinarius für angewandte Chemie mein Kollege im engeren Sinne zu werden.

J. Wagner. Am wenigsten habe ich von dem dritten Assistenten (eigentlich dem zweiten) Dr. Julius Wagner zu erzählen. Er war bei Wiedemann ausgebildet worden und ließ sich nur langsam und unvollständig von der Flut neuer Gedanken und Forschungen hinreißen, in der die anderen aktiv wie passiv schwammen und steuerten. Seiner Pflicht, die Anfänger zu unterweisen und zu erziehen[42] kam er mit unverbrüchlicher Treue nach. Auch hat er einige wissenschaftliche Arbeiten ausgeführt, die zum Teil mit seinem Unterrichtsgebiet im Zusammenhang standen. Mit seiner Hilfe beseitigte ich den Übelstand, daß die künftigen Schullehrer mit den übrigen Chemikern im gewöhnlichen Unterrichtsgang vorwiegend zu Analytikern ausgebildet wurden, was für ihre Unterrichtstätigkeit keinen vernünftigen Zweck hat. Ich veranlaßte ihn deshalb, einen besonderen Unterricht in der sicheren und zweckmäßigen Ausführung von Schulversuchen zu organisieren. Die Aufgabe lag ihm gut und er hat durch lange Jahre diese Tätigkeit geübt, die dann der heranwachsenden Jugend zugute gekommen ist. Später erhielt er einen besonderen Lehrauftrag hierfür.

Von meinen Assistenten ist er der dauerhafteste gewesen, denn er war der Anstalt treu, bis die weichende Gesundheit ihn zur Ruhe zwang.

Der Aufstieg. Mit großer Spannung sahen ich und meine näheren und ferneren Kollegen der Entwicklung des physikochemischen Praktikums zu, denn dies war die Stelle, an welcher sich ausweisen mußte, ob und wie gut ich der übernommenen Aufgabe gerecht werden konnte. Im ersten Semester hatten zwei Studenten sich hierfür gemeldet; da einer von ihnen unverhofft Leipzig verlassen mußte und der nächste Termin keinen Zuwachs brachte, so enthielt im zweiten Semester das Laboratorium nur einen einzigen Praktikanten.

Das war ungefähr der Zustand, in welchem sich dies Studium auch zu der Zeit Wiedemanns befunden hatte, der keine große Anziehungskraft auf die Studenten ausübte und ich empfand mit Kummer, daß die Hoffnung auf einen großen Wirkungskreis, mit der ich nach Leipzig gekommen war, sich nicht verwirklichen zu wollen schien.

Doch das dritte Semester brachte acht Praktikanten, die sich in dem folgenden fast verdoppelten. Die ziemlich[43] engen Räume, welche die Belegung mit dem analytischen und dem pharmazeutischen Praktikum übrig gelassen hatte, waren bald vollständig in Anspruch genommen und es begann auch in Leipzig der Zustand einzutreten, unter dem ich in Riga während des größeren Teils meiner Amtszeit zu leiden gehabt hatte, daß nämlich die vorhandenen Räume durchaus unzulänglich waren für die Anzahl der Studenten, die sich meiner Führung anvertrauen wollten. So mußte ich auch hier nach wenigen Jahren der vorgesetzten Behörde eröffnen, daß größere Räume, und insbesondere solche mit zweckmäßigerer Einrichtung immer dringender notwendig wurden.

Für diesen schnellen Aufstieg war entscheidend, daß die neue Anstalt in Leipzig sich alsbald, wie beschrieben, mit einer grundwichtigen Angelegenheit verbinden konnte und dadurch der natürliche Mittelpunkt der wissenschaftlichen Ernte wurde, die sich in größter Fülle aus diesen Wurzeln ergab. Da außerdem im nächsten Jahre 1888 Arrhenius selbst nach Leipzig kam und während einiger Semester, zuerst als freier Mitarbeiter, später, nachdem Nernst vorübergehend seiner Gesundheit wegen nach Heidelberg gegangen war, als Assistent im Laboratorium tätig war, entstand eine neue kräftige Anziehung auf die strebsame Jungmannschaft. Damals standen keine Lehrstühle für Physikochemiker in Aussicht und wurden keine Examina in dem Fach abgehalten; es kamen daher nur solche Mitarbeiter nach Leipzig, welche unmittelbar durch die Größe und Fruchtbarkeit des neuen Forschungsgebietes angezogen wurden. So mag wohl selten ein akademischer Lehrer eine derart erlesene Schar junger Arbeitsgenossen sich anvertraut gesehen haben, wie sie damals in den alten, unzweckmäßigen Räumen in der Brüderstraße 34 versammelt waren. Unsere Arbeiten waren gemeinsam; die Besprechungen des Professors mit dem einzelnen Praktikanten fanden unter reger Teilnahme der[44] anderen statt und jeder Erfolg eines von uns spornte die anderen zu um so eifrigerer Arbeit an, die dann auch fast immer bald einen ähnlichen Lohn ergab.

Schreibtischarbeit dazwischen. Mir waren die mannigfaltigen Zweifel und Mißverständnisse bezüglich der neuen Lehre ein Anlaß, in einem besonderen Aufsatze über die Dissoziationstheorie der Elektrolyte die chemischen und anderen Folgerungen einzeln zu entwickeln, welche sich unmittelbar aus der Theorie ergaben. Insbesondere zeigte ich, daß die von mir seit Jahren namentlich an Säuren nachgewiesene Existenz besonderer Verwandtschaftszahlen, die bei den verschiedenartigsten Vorgängen angetroffen wurden, durch jene Theorie eine vollständige Erklärung fanden: die Reaktionen wurden jedesmal durch die Menge der anwesenden Wasserstoffionen bestimmt und mußten daher übereinstimmende Größen zeigen, wenn diese Menge durch die Natur und Verdünnung der Säure festgelegt war. Diese Erklärung ist so einfach und einleuchtend, daß man heute nur sie im Auge hat, ohne zu wissen oder sich zu erinnern, welche lange und mühselige Arbeit vorangegangen sein mußte, um auf chemischem Wege das Vorhandensein solcher allgemeiner Verwandtschaftsgrößen nachzuweisen, denen die Leitfähigkeiten sich proportional zeigten. Denn die Leitfähigkeiten sagen ja nichts an sich über chemische Verhältnisse aus; erst die Erkenntnis, daß sie wichtige chemische Verhältnisse abbilden, die unabhängig von ihnen entdeckt und gemessen werden mußten, gibt ihnen ihre allgemeine Bedeutung.

In diesem Aufsatz ging ich näher auf die Mißverständnisse und falschen Deutungen der Theorie von Arrhenius ein, die mir im Gespräch mit den Fachgenossen und den Schülern entgegengetreten waren und wies nach, daß bei konsequenter Durchführung die neue Lehre nicht nur von solchen Einwendungen nicht getroffen wird, sondern[45] umgekehrt erst ermöglicht, experimentelle Tatsachen, die bisher ohne Zusammenhang dastanden, unter einen einheitlichen Gesichtspunkt zu bringen und somit zu erklären. Ferner gab ich einige Beispiele für das Verdünnungsgesetz, aus denen hervorging, daß es sich über so weite Bereiche gültig erwies, wie niemals eine rein chemische Dissoziation hat untersucht werden können. Ich darf es wohl dieser Abhandlung zuschreiben, daß sich seitdem kein grundsätzlicher Widerspruch von fachkundiger Seite mehr gegen die Lehre erhoben hat und diese als legitimer Bestandteil der Wissenschaft anerkannt wurde.

Leitfähigkeit organischer Säuren. Neben diesen Arbeiten hatte ich noch eine übernommene Pflicht zu erledigen, nämlich die vielen Säuren auf ihre elektrische Leitfähigkeit zu untersuchen, welche ich im Sommer 1887 auf meiner Bettelfahrt erhalten hatte. Dazu kam noch eine Anzahl Präparate aus der alten Sammlung von O.L. Erdmann, die inzwischen dem von Wiedemann geleiteten physikalisch-chemischen Institut angehört hatten und von dort an das meine übergegangen waren, alles in allem rund 150 Stoffe. Es machte mir wieder ein ausgesprochenes Vergnügen, diese vielen gleichartigen Messungen durchzuführen, wozu ich hauptsächlich die Abende benutzte, wo es im Laboratorium schön still war. Die mannigfaltigen und lehrreichen Beziehungen zur chemischen Konstitution, die sich dabei herausstellten, hielten den Eifer warm. So waren es behaglich-glückliche Stunden, die ich bei dieser Arbeit zubrachte. Sie ergab außerdem unzählige Bestätigungen der Richtigkeit des Verdünnungsgesetzes.

Ehe ich aber an die Veröffentlichung all dieser Zahlen ging, wartete ich ein Mitteilung von van't Hoff ab, wie dessen Prüfung des Gesetzes ausgefallen war, denn ich hatte gehört, daß er damit beschäftigt war. Von einem Amsterdamer Laboratoriumsgenossen wurde mir später[46] geschildert, wie van't Hoff seinem Assistenten Reicher aufgetragen hatte, ganz reine Essigsäure herzustellen. Nachdem dieser mit aller Gewissenhaftigkeit das seine getan hatte, war van't Hoff nicht zufrieden gewesen und hat ihn zu immer wiederholter und gesteigerter Reinigungsarbeit veranlaßt, dabei aber kein Wort darüber gesagt, wozu er das Präparat brauchte. Ebenso ging es mit einigen anderen Säuren. Das Ergebnis war, wie er dann in einer kurzen Abhandlung berichtete, eine vollständige Bestätigung des Verdünnungsgesetzes. »Kein einziger Fall von gewöhnlicher Dissoziation ist innerhalb so weiter Grenzen geprüft worden.« Dem vielgeprüften Assistenten aber gewährte er die Belohnung, daß er ihn auch auf dem Titel nannte, obwohl der Professor die entscheidenden Gedanken und Messungen allein gemacht hatte.

Unter den gemessenen Säuren befand sich auch ein exotischer Gast aus Japan, eine »Shikimisäure«, die eben von Prof. Eykman in Tokio entdeckt worden war. Der fremdartige Ursprung hat sie nicht verhindert, sich gleichfalls genau dem in Europa aufgestellten Gesetz gemäß zu betragen.

Hiernach schritt ich endlich zur Mitteilung meiner vielen Messungen, durch welche die Grundzüge eines Kapitels der Wissenschaft festgestellt wurden, das allerdings hernach keine so allgemeine Pflege erfahren hat, als die Sache verdient hätte. Mein Interesse an den Konstitutionsfragen, welche das Verfahren zu lösen oder doch bestimmter zu formulieren gestattete, war nicht groß genug, auch drängten andere Probleme. Doch blieb darum dies Kindlein nicht verwaist, denn Professor Wegscheider in Wien hat sich seiner liebevoll und erfolgreich angenommen, so daß er die Angelegenheit um ein sehr Erhebliches gefördert hat.

Um die zugehörigen Rechnungen auszuführen, war die Kenntnis gewisser Konstanten (der Wanderungsgeschwindigkeiten[47] der Anionen) nötig; auch hierfür wurden die Wege gefunden und ausgearbeitet, wobei sich wiederum eine Anzahl Gesetzlichkeiten ergaben. Das Arbeiten in diesem neuen und dankbaren Gebiet war wie ein Spaziergang in einem Garten, wo eben das Obst reif geworden ist: man brauchte den in Gesichtshöhe hängenden Apfel nur anzurühren, so blieb er einem reif und süß in der Hand. So ging es nicht nur mir, sondern allen meinen Mitarbeitern. Die ersten Bände der Zeitschrift für physikalische Chemie, welche die damals von uns getätigten Arbeiten enthalten, sind ganz erfüllt von Aufsätzen, welche die Anfangspunkte erheblicher wissenschaftlicher Entwicklungen darstellen. Man wird den Unterschied besonders deutlich gewahr, wenn man sie mit den daneben veröffentlichten Arbeiten aus anderen Laboratorien vergleicht, in denen die so grenzenlos fruchtbaren Gedanken von van't Hoff und Arrhenius noch nicht Wurzel gefaßt hatten.

Kein Chemiker. Durch die Untersuchung der elektrischen Leitfähigkeit so vieler organischer Säuren konnten mancherlei Fragen der chemischen Konstitution erläutert werden, so daß eine Beziehung des neuen Arbeitsgebietes zur »eigentlichen« Chemie, als welche von der Mehrzahl der Fachgenossen die Herstellung neuer Stoffe und die Bestimmung ihrer Konstitution angesehen wurde, zweifellos hergestellt war. Trotzdem wurde auch später nicht selten die Behauptung ausgesprochen, ich sei überhaupt kein Chemiker, weil ich nie einen neuen Stoff hergestellt habe.

In solchem Sinne bin ich sogar ein negativer Chemiker zu nennen, denn ich habe die Liste der organischen Verbindungen nicht nur nicht vermehrt, sondern vermindert, allerdings leider nur um ein Glied. Dies ging so zu:

Im Jahre 1863 hatte H. Kämmerer aus einem alten photographischen Silberbad eine Säure erhalten, die er als verschieden von allen bekannten ansah. Bei der Elementaranalyse[48] fand er Zahlen, die denen der Apfelsäure nahe kamen; da die Säure aber von dieser bestimmt verschieden war, sah er sie als isomer an und nannte sie deshalb Isomalsäure. Er kam in mehreren Veröffentlichungen auf seine Säure zurück, konnte sie aber auf keine Weise wiedererhalten. Immerhin führte sie ein unbestrittenes Dasein und wurde u.a. in den ersten Auflagen des fundamentalen Handbuches von Beilstein angeführt.

In der Präparatensammlung des alten Instituts fand ich nun ein Glasröhrchen mit einer sehr kleinen Probe dieser merkwürdigen Säure, die vom Entdecker selbst signiert war; sie war offenbar von ihm Erdmann geschenkt worden. Es war viel zu wenig für eine Elementaranalyse, wie sie damals gehandhabt wurde, zehnmal mehr als genug aber für eine Untersuchung auf die elektrische Leitfähigkeit in verdünnter Lösung. Die Messung wurde an der freien Säure und ihrem Natriumsalz ausgeführt mit dem Ergebnis, daß die Isomalsäure nichts als Zitronensäure war. Ich wandte mich an Kämmerer selbst um eine kleine Probe seiner Säure; er besaß noch welche und teilte mir davon mit; sie erwies sich als völlig übereinstimmend mit dem Leipziger Präparat. Er hatte unter seinen Versuchsbedingungen die Zitronensäure in wasserfreien Kristallen erhalten, die sonst mit Kristallwasser anschießt und war anscheinend dadurch verhindert worden, sie zu erkennen. Das Ergebnis veröffentlichte ich in den Berichten der Deutschen chemischen Gesellschaft und in den folgenden Auflagen des »Beilstein« war die Isomalsäure nicht mehr zu finden.

Obwohl damals kein anderes Verfahren bekannt war, welches mit so geringen Stoffmengen derartig vollkommen eindeutige Feststellungen auszuführen gestattete, kann ich mich doch nicht erinnern, jemals eine Anerkennung für diese Austreibung eines Gespenstes irgendwo[49] gefunden zu haben. Freilich auch keinen Widerspruch; selbst der Entdecker gab sich zufrieden.

Deutsche und ausländische Schüler. Nachdem die in bezug auf die Frequenz mageren Semester vergangen waren, mehrte sich die Anzahl der Mitarbeiter schnell. Neben den Deutschen kamen ziemlich bald Ausländer, vor allem Amerikaner und Engländer. Beide blieben auch in der Folgezeit überwiegend, obwohl so gut wie alle Kulturvölker früher oder später im Leipziger Laboratorium vertreten waren.

Einer meiner ersten auswärtigen Schüler war der Schotte James Walker, der in England bald hernach eine erfolgreiche Lehrtätigkeit entwickelt und sehr viel für Einführung der Lehre in jenem Lande getan hat. Er bekleidet heute an der Universität Edinburgh eine der einflußreichsten Lehrstellen. Unter den Amerikanern ist A.A. Noyes zuerst zu nennen, der alsbald in Boston an der dortigen technischen Hochschule einen Mittelpunkt für die physikalische Chemie geschaffen hat. Später haben ihn Gesundheitsrücksichten gezwungen, ein südliches Klima aufzusuchen und seine erfolgreiche Tätigkeit einzuschränken. Beide sind nicht nur als Forscher und Lehrer ausgezeichnet, sondern gehören auch als Menschen zu den besten Exemplaren dieses mannigfaltigen Geschlechts.

Was meine Deutschen Schüler anlangt, so setzten sie sich aus zwei ganz verschiedenen Gruppen zusammen. Erstens einige wenige, welche durch das neue wissenschaftliche Leben angezogen wurden, das sich bei uns entwickelte und an den Arbeiten aus Freude an der Sache teilnahmen, ohne viel nach künftigen Aussichten zu fragen. Bekanntlich ist deren Anzahl überhaupt niemals groß gewesen, und sie war besonders klein zufolge der stillen Gegnerschaft gegen die neue Richtung, welche natürlich sehr stark auf die studentische Jugend einwirkte.[50]

Außerdem kam zu Beginn jedes Semesters eine Gruppe zufälliger Praktikanten in das Anfängerlaboratorium, welche sich hier anmeldeten, teils weil in dem anderen die Plätze bereits alle besetzt waren, teils durch Kameradschaft oder andere sekundäre Gründe veranlaßt. Das waren meist durchschnittliche Köpfe, wie sie hernach von der hochentwickelten chemischen Industrie in großer Zahl mit gutem Nutzen gebraucht werden. Wenn sie die vorbereitenden Übungen durchgemacht hatten, meldeten sie sich wie üblich zur Doktorarbeit, da sie in anderen Laboratorien nicht eben sehr entgegenkommend behandelt worden wären.

Es ist mir in der Erinnerung ein gutes und freudiges Gefühl, daß auch diese Studenten mit sehr wenigen Ausnahmen von dem Schwung unserer Forscher- und Entdeckerfreude sich zu Leistungen hinreißen ließen, die merklich über das hinausgingen, was ich zunächst von ihnen erwarten zu dürfen glaubte. Und vergleiche ich das, was sie später im Kampf um das Dasein erreicht haben, mit den durchschnittlichen Erfolgen ihrer Fachgenossen, so kann ich eine deutliche Überlegenheit erkennen.

Bei dieser Gelegenheit lernte ich eine Eigentümlichkeit der Deutschen kennen, die ich bei meinen baltischen Landesgenossen nicht beobachtet hatte. Es ist dies die Fähigkeit, bei geringer Entwicklung allgemeiner Interessen und der entsprechenden allgemeinen Bildung auf einem einmal gewählten Sondergebiete nicht nur mäßige, sondern hervorragend gute Leistungen hervorzubringen. Die Vorschrift Schillers: so sammle still und unerschlafft im kleinsten Punkt die größte Kraft, wird von diesen unscheinbar-tüchtigen Köpfen streng befolgt, und oft genug konnte ich beobachten, wie der im Sondergebiet erreichte höhere Standpunkt hernach auch erhebend auf den ganzen geistigen Zustand zurückwirkte.[51]

Dies bezieht sich aber nur auf jene zufälligen Mitläufer. In dem Maße, als sich die Erfolge der neuen Arbeitsrichtung auswirkten, vermehrte sich auch die Anzahl der Schüler, die aus innerem Beruf sich uns anschlossen und ich habe eine ganze Reihe feiner Köpfe und guter Menschen unter ihnen kennen lernen können. Ihre Anzahl war stets so groß, daß ich nicht nur meine Assistentenstellen, die sich bald vermehrten, immer mit Deutschen habe besetzen können (sie sind hernach alle ohne Ausnahme Professoren geworden), sondern auch zu ähnlichen Tätigkeiten eine gute Zahl nach auswärts abgeben konnte.

1

Ich bin natürlich nicht berechtigt, zu behaupten, daß durch dieses Gespräch im Eckzimmer des alten Instituts, das mir noch mit dem Anschauungsbilde des Zimmers gegenwärtig ist, der erste Keim für jene Gedankenreihe entstand. Doch hatte ich damals den Eindruck, als handele es sich für Nernst um Vorstellungen, denen er sich nicht ohne einen inneren Widerstand hingeben wollte.

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 52.
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Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

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