Kapitel VI.
De rhetorica
oder
Von der Redekunst

[49] Ob die Rednerkunst, welche auf die Historie die nächste ist, eine Kunst sei oder nicht, davon wird unter wackeren Leuten gestritten, und ist der Streit noch vor dem Richter. Der Sokrates, bei dem Platone, will mit festen Gründen behaupten, dass es weder eine Kunst, noch eine Wissenschaft, sondern nur eine Scharfsinnigkeit und Listigkeit sei, die weder löblich noch ehrbar, sondern vielmehr schändlich und eine garstige servilische Schmeichlerei nach sich zieht. Auch Lysias, Cleanthes und Menedemus haben dafür gehalten, dass die Beredsamkeit aus keiner Kunst, sondern vielmehr von der Natur herrührt, welche einem jedweden lehrete, wann es vonnöten wäre, zu schmeicheln und annehmliche Sachen vorzubringen, und dieselben mit Beweistümern zu bekräftigen. Denn der rechte Vortrag und der treffliche Gebrauch des Gedächtnisses kommt nirgends anders her als von der Natur, welches man bei dem Antonio, dem vornehmsten römischen Redner, wahrgenommen hat.

Auch als für alten Zeiten noch niemand von der Rednerkunst geschrieben oder dieselbe gelehrt, so hat[49] man viel der beredtesten Leute gefunden. Weil nun diese Kunst beschrieben wird, dass sie sei eine Zusammensammlung gewisser Gebote, die auf ein gleiches Ende zielen, so streiten die Redner diese Stunde noch, was diese Kunst vor einen endlichen Zweck habe, ob es Überreden sei oder Wohlreden; und sie brauchen neben den wahren Ursachen auch erdichtete.

Überdieses, so haben sie so viel Sätze und Gegensätze, so viel Figuren, Umdrehungen, Charakteres, Strittigkeiten, Lobe und künstliche Überredung erfunden, die man fast nicht zählen kann, und gleichwohl leugnen sie selbst, dass der rechte Endzweck dieser Rednerkunst noch nicht an Tag kommen ist. Eben diese Kunst improbieren die Lazedämonier und halten dafür, dass eine Rede eines rechtschaffenen Menschen nicht von der Kunst, sondern aus dem Herzen notwendig müsste herkommen. Auch die alten Römer haben erst gar sehr spät die Rhetores oder Redner in ihre Stadt gelassen, als nach vielfältigem Streit Cicero sich unterstanden hat, zu beweisen, dass die Art und Macht, wohl zu reden, nicht sowohl aus der Kunst, als aus der Menschen natürlichem Nachsinnen herkomme. Dahero hat er ein Buch von einem perfekten Oratore geschrieben. Dieser Redner aber, den er allda als ein Muster gleichsam fabriziert hat, ist nicht von allen gebilligt worden. Ja, dem Bruto selbst, einem sonderlich aufrichtigen Manne, ist derselbe sehr verdächtig vorkommen, und hat dieser allezeit, dass der Redner Lehre und Gesetze dem menschlichen Leben mehr schädlich als nützlich seien, behauptet. Ja, endlich die reine Wahrheit zu bekennen, so ist die ganze Disziplin der Rhetorica eine Kunst zu schmeicheln und zu überreden, oder dass ich ein wenig freier rede, zu lügen, also dass was man nicht durch die Wahrheit ausrichten kann, das muss durch eine angestrichene und gefärbte Rede geschehen, wie von dem Pericle, dem Redner, der Archidamus sagt (davon Eunapius meldet) dass, als er gefragt wurde, wer unter ihnen der Mächtigste wäre, so hat er geantwortet: Obgleich der[50] Pericles im Kriege von mir überwunden worden, so ist er doch mit einer solchen Beredsamkeit begabt gewesen, dass er scheinbar beigebracht hat, er wäre nicht der Überwundene, sondern der Überwinder.

Auch sagt Plinius von dem Carneade, dass, wenn er durch seine Rednerkunst argumentiert hätte, so hätte man nicht können unterscheiden, was wahr oder nicht wahr gewesen; von diesem saget man, dass, als er von der Gerechtigkeit schön und weislich öffentlich diskurieret, so hätte er tags darauf nicht mit geringerer Gelehrsamkeit und Weitläuftigkeit das Contrarium behauptet. Bei den Syrakusern ist Corax ein Redner hohen Verstandes und artlicher Zungengeschwindigkeit gewesen, welcher diese Kunst ums Lohn einem gelernt; als zu diesem der Thisias gekommen, und den Lohn, den er ihm zu geben versprochen, nicht alsobald parat hatte, hat er ihm denselben doppelt versprochen, wenn er ihm die Rhetoricam recht lernen würde, welches auch Corax mit dieser Kondition angenommen. Nachdem nun Thisias diese Kunst gelernt und den Meister um seinen verdienten Lohn zu bringen gesucht hatte, hat er gefragt, was doch endlich die Rhetorica sei? Hat er geantwortet: sie sei eine Meisterin, zu überreden. Da hat er seinem Praeceptori dieses Argument gemacht: Quodcunque igitur de mercede dixero, si tibi me nihil debere persuasero, nihil debeo, quia non debere persuasi; si non persuasero, non debebo etiam, quia me scire persuadere non docuisti. Das ist: Was ich werde vom Lohne sagen, wenn ich dich werde überredet haben, dass ich dir nichts schuldig bin, so bin ich dir auch nichts schuldig, weil ich dich so überredet habe. Wenn ich dich aber nicht überredet habe, so bin ich dir auch nichts schuldig, weil du mir die Kunst, zu überreden, nicht recht gelernet hast.

Darauf hat Corax dieses Argument auf Thisiam gleich retorquiert: Ouodcunque ego quoque de mercede dixero, si me accepturum persuasero, accipiam, quoniam persuasi. Si non persuasero, etiam accipere[51] debeo, quoniam tantum discipulum erudivi, qui praeceptorem superaret. Das ist: Was ich werde vom Lohn sagen, wenn ich dich werde überredet haben, dass ich solches zu bekommen hätte, so will ich es auch nehmen, weil ich dich überredet habe. Wenn ich dich aber nicht überredet habe, so kann ich es doch auch nehmen, weil ich einem Discipul soviel gelernt, dass er seinen Praeceptorem übertroffen hat.

Als die Syrakuser gehört, dass sie miteinander mit solchen umgekehrten Argumenten gestritten haben, haben sie laut angefangen zu rufen: Mali corvi, malum ovum. Böse Raben, böse Eier, und damit zu verstehen gegeben: Böse Praeceptores machen böse Discipul. Dergleichen Historie erwähnt Gellius von dem Redner Protagora und von dem Euathlo seinem Discipul. Es ist zwar schön, lustig und nützlich, wenn man die Worte schön und zierlich führen kann, zuweilen aber gar unzeitig und schädlich; zum öfteren aber gefährlich und allezeit suspect. Derohalben hat Sokrates selber solche in keiner Aestime gehalten, und dass man sie in einer wohlbestellten Republik zu keiner Gewalt und Macht soll kommen lassen, gelehret. Plato hat dafürgehalten, dass man die Rhetores mit den Komödianten und Poeten aus seiner Republik ausschliessen sollte, und zwar nicht mit Unrecht; denn bei den bürgerlichen Ämtern ist nichts Gefährlicheres als diese Kunst. Von dieser kommen die Praevaricatores, oder die bei einer Sache Ausflüchte suchen. Die Calumniatores oder Lästerer, die Sycophanten oder betrüglichen falschen Ankläger und andere leichtfertige Zungen.

Denn welche dermassen damit begabt sind, die erwecken gemeiniglich Aufruhr, und betrügen diese Spottvögel andere mit ihrer künstlichen Wäscherei, andern schmeicheln sie und gebrauchen sich bei den Unschuldigen einer wütenden Tyrannei. Dahero hat der Euripides wohl recht gesagt: viel wissen zu reden ist etwas tyrannisch; und der Aeschylus hat die auf solche Art zusammengesetzten Reden das Schändlichste[52] unter allem Rosen genannt. Der Raphael Volaterranus, welcher sich der Historien und Exempel beflissen, hat bekannt, dass, soviel er gelesen und der alten und neuen Exempel zusammengetragen, hätte er unter den beredten Leuten die wenigsten gut befunden. Mein! sind nicht durch dieselben die grössten Republiken oft trefflich geplaget, oder zuweilen gar ausgerottet worden?

Dieser Sache sind uns Vorbilder und Exempel die Bruti, Cassli, Gracchi, Catones, Cicero, Demosthenes, welche, wie sie für die Beredetesten, also sind sie auch für die Aufrührigsten unter allen gehalten worden.

Denn der Cato Censorius, welcher, indem er vierzigmal ist angeklagt worden, hat er siebzig und mehr Angeklagte gemacht, und hat in seinem ganzen Leben mit seinen unsinnigen Orationen die ganze Ruhe der Republik verstöret; und hat der andere Cato, der von Utica, den Kaiser rausgefordert, die ganze römische Freiheit von Grund aus umgekehrt.

Nicht viel weniger hat Cicero den Antonium zum Schaden der Republik und Demosthenes den Philippum zum Untergang der Athenienser rausgefordert. Endlich ist ja keine Republik, welche nicht durch diese Kunst ist einmal umgekehrt, oder keine, so auf diese Kunst gehöret, unangetastet geblieben. Auch kann die Beredsamkeit bei Gericht viel tun; durch diese Wortrednerin werden viel böse Sachen defendiert, der schuldig Beklagte wird oftmals losgelassen, und der Unschuldige zum öftern verdammt.

Marcus Cato, der Klügste unter den Römern, hat verboten, die drei Redner zu Athen, als den Carneadem, den Critolaum und den Diogenem öffentlich in der Stadt Rom zu hören, welche mit einer so scharfen Vernunft, Beredsamkeit und Eloquenz sind begäbet gewesen, dass sie einem gar leicht billige und unbillige Sachen haben bereden können. Es ist bekannt, dass der Demosthenes bei seinen Freunden sich berühmet habe, dass, wenn er wollte, so könnte er durch seine Rednerkunst die Urteile der Richter nach seinem Willen umdrehen,[53] wie er wolle. Nach dessen Gefallen ist bei den Atheniensern mit dem Philippo oft Krieg, oft Friede worden; so eine Macht zu reden hat er gehabt, dass er der Menschen Affekten stillen und wieder er wecken können und hat die Gewalt über seine Bürger gehabt, wie er gewollt.

So ist auch wegen dergleichen sonderlichen Beredsamkeit der Cicero zu Rom von den meisten ein König genennet worden, weil er mit seiner Redekunst alles regiert und den Rat hingekehrt, wo er hin begehrt. Dahero ist es klar genug, dass diese Kunst nichts anders sei als eine Kunst zu überreden, und die Affekten zu bewegen mit einer subtilen Beredsamkeit, artigem Betrug und Listigkeit, mit welchem sie die Gemüter der Unvorsichtigen auf solche Art zu sich ziehen und mit Verkehrung der Wahrheit in das Gefängnis des Irrtums führen. Aber wenn durch Güte und Hilfe der Natur keine Sache nicht mit Wahrheit und wie sie an sich selbst ist, soll ausgesprochen werden, was ist doch also dann schädlicher, als solcher angestrichenen Worte sich zu befleissigen.

Die Rede der Wahrheit ist an sich selber zwar schlecht, aber lebhaft und durchdringend, welche als eine Herzenserkundigerin gleichsam wie eine Axt oder Schwert alle künstliche und subtile Rednerschlüsse leicht auf einmal abschneiden und übern Haufen werfen kann.

Dahero Demosthenes, als er alle andere künstliche Redner gering geachtet, fürchtete er sich doch für den einzigen Phocionem, weil er nur schlechthin und kurz die Wahrheit aufrichtig gesagt; derowegen er ihn das Beil seiner Reden genennet. Vielleicht wussten die guten alten Römer dieses, als sie die Redner, wie Suetonius bezeugt, zweimal aus der Stadt Rom, einmal unter dem Bürgermeister C. Fannio Strabone und M. Valerie Messala, und wiederum einmal unter dem Cn. Domitio Aenobarbo und L. Licinio Crasso durch ein öffentliches Edikt weggeschafft; drittens als sie unter[54] dem Kaiser Domitiano durch einen allgemeinen Ratschluss nicht allein aus der Stadt Rom, sondern aus ganz Italia sind ausgetrieben worden. Die Athenienser haben ihnen als Verkehrern der Gerechtigkeit das Rathaus verboten, und den Thymagoram, weil er den König Darium nach Perser-Art gegrüsset, und zugleich ihn mit angestrichenen schönen Reden geschmeichelt, am Leben gestraft. Die Lazedämonier haben den Ktesiphonem aus der Ursach weggeschaffet, weil er sich gerühmet, dass er von einer jeden Sache, sie möchte sein wie sie wollte, einen ganzen Tag lang reden könnte.

Denn es ist bei denselben nichts verdächtiger gewest als die kuriose Rednerkunst derjenigen, welchen kein Ernst gewesen ist, die Wahrheit zu sagen, sondern eine schlechte Sache vorzubringen, und dieselbe mit lauter anreizenden und bravierenden Worten zu erheben, und mit einer Schmeichelei und angestrichenen Süssigkeit die Gemüter der Zuhörer zu betrügen, und nach ihrer Zunge derselben Ohren zu leiten. So ist es ja auch offenbar, dass keiner durch diese Kunst ist frömmer worden, viele aber böser und schlimmer. Denn obgleich sie von den Tugenden zierlich reden können, so sind sie auch dabei vielmehr geschickt und beflissen, Irrtümer zu defendieren, Streit und Aufruhr zu erwecken, Kalumnien und Lästerungen vorzubringen, als etwan Friede, Ruhe, Einigkeit, Glauben und Liebe zu erwecken und zu erhalten. Ferner sehen wir dass viel, die sich auf diese Kunst verlassen, von dem wahren Glauben abgewichen, dahero nichts als Irrtum in der Religion, Aberglaube und Ketzereien entstanden, indem etliche derselben die Heilige Schrift, weil sie nicht mit einer Ciceronianischen Beredsamkeit oder Zierde geschrieben, also verachtet, dass sie mit ihren angestrichenen Argumenten und heidnischen Überredungen oftermals wider den allgemeinen katholischen Glauben was statuiert haben, welches fürnehmlich[55] bei den Tatianischen Ketzern offenbar ist; oder auch bei denen, welche die Redner Libanius und Symmachus als Schmeichler der Götzen, wie auch Celsus Africanus und Julianus Apostata, die wider Christum mit ihren rhetorischen Fratzen aufgestanden, verführt haben; und von dieser schädlichen und blasphemischen Beredsamkeit haben die Ketzer hernachmals ihre Beweistümer hergenommen, damit die Ohren einfältiger Leute voll gemacht, und sie ganz von dem Wort der Wahrheit abgeführt.

Also sind ihrer heutigen Tages1 noch viel, die der Beredsamkeit ergeben; indem sie wollen Ciceronisch werden, so werden sie Unchristen, und indem sie in Aristotele oder Platone studieren, so werden sie abergläubisch und gottlos. Aber alle diejenigen, welche über die schlechten Worte der Wahrheit vergebliche Reden in die Ohren der Menschen auf solche Art eingeflösst haben, werden dermaleinst für Gericht stehen, und von dem, was sie so vergeblich gemutmasset und wider Gott gelogen haben, schwere Rechenschaft geben müssen.[56]

1

In der alten deutschen und auch in der alten französischen Übersetzung fehlt hier: »Blicken wir auf unsere Zeit. Die deutschen Ketzereien, von dem einen Luther begonnen, sind heute so zahlreich, dass fast jede Stadt ihre eigene Ketzerei hat; und die Führer und Urheber waren noch vor wenigen Jahren um ihrer Beredsamkeit und ihrer Federgewandtheit willen so berühmt, dass man ihrem Ruhme nichts hinzufügen konnte; jetzt sind sie Häupter und Fürsten der Ketzer.«

Quelle:
Agrippa von Nettesheim: Die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaften und die Verteidigungsschrift. München 1913, Band 1, S. 49-57.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Komtesse Mizzi oder Der Familientag. Komödie in einem Akt

Komtesse Mizzi oder Der Familientag. Komödie in einem Akt

Ein alternder Fürst besucht einen befreundeten Grafen und stellt ihm seinen bis dahin verheimlichten 17-jährigen Sohn vor. Die Mutter ist Komtesse Mizzi, die Tochter des Grafen. Ironisch distanziert beschreibt Schnitzlers Komödie die Geheimnisse, die in dieser Oberschichtengesellschaft jeder vor jedem hat.

34 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon