Schilderung des Selbst in Gestalt des ›Weisen‹

[164] Der Weise wird nicht geboren, noch stirbt er. Nicht hat er einen Ursprung, noch ist er wandelbar5. Ungeboren, beständig, ewig und von altersher wird er mit dem Leib nicht getötet.

Wenn ein Töter zu töten meint oder ein Toter tot zu sein glaubt, so urteilen diese beide nicht richtig. Der eine tötet nicht und der andere wird nicht getötet.

Feiner als ein Atom, größer als groß wohnt der Âtman in der (Herzens-)höhlung des Geschöpfes. Der aller Wünsche Ledige erblickt, von allem Leid befreit, durch die Gnade des Schöpfers die Größe des Âtman.

Auch wenn er sitzt, wandert er in die Ferne; auch wenn er liegt, wandert er überall. Wer anders als ich kann diesen Gott, der Wonne und Nichtwonne6 in sich schließt, begreifen.

Der Kluge denkt bei den Körpern an den Körperlosen, an den Stetigen bei den Ruhelosen, an den großen, alldurchdringenden Âtman und fühlt kein Leid.

Dieser Âtman ist nicht durch Belehrung, nicht durch Opfer, nicht durch viel Gelehrsamkeit zu begreifen. Wen er selbst sich ausersieht, von dem ist er zu begreifen. Dem offenbart sich der Âtman.

Wer vom schlechten Wandel nicht abläßt, nicht zum inneren Frieden gelangt und nicht zur Sammlung, wer nicht beruhigten Herzens ist, vermag ihn mittels der Erkenntnis nicht zu erreichen.

Brahmanen und Kriegerstand, beide sind für ihn (nur wie) ein Reisgericht, der Tod ist ein Überguß: wer fürwahr weiß, wo der ist?

5

Wörtlich: ›wird nicht zu irgendwem‹.

6

Vereinigung der Gegensätze: Wonne der reinen Erkenntnis und Nichtwonne der geschaffenen Welt.

Quelle:
Upanishaden. Altindische Weisheit aus Brâhmanas und Upanishaden. Düsseldorf/Köln 1958, S. 164-165.
Lizenz: