Alâtaçânti, die Widerlegung des Funkenkreises.1

[204] Gauḍapâda's Kârikâ IV.


30.

Wär' anfanglos der Samsâra,

So könnte er nicht endlich sein;

Wär' die Erlösung anfangend,

Sie könnte nicht unendlich sein.


38.

Unbegreiflich ist Entstehung;

Alles als ewig lehrt die Schrift;

Nimmermehr kann hervorgehen

Aus Seiendem Nichtseiendes (Werdendes).


39.

Nichtseiendes sehn wir wachend;

Das Traumbild ist aus gleichem Stoff:

Nichtseiendes sehn wir träumend;

Wenn wir erwachen, ist es nichts.


45.

Werden ist Schein, Bewegung Schein,

Das Dingliche ist blosser Schein;

Nichtwerdend, unbewegt, dinglos,

Still, zweiheitlos die Wahrheit ist.


47.

Wie Funkenschwingung den Schein gibt

Grader und krummer Linien,

So den Schein Bewusstseinsschwingung

Von Auffassen und Auffasser.


48.

Wie ungeschwungen der Funke

Nicht erscheint, nicht entsteht (als Kreis),[205]

So Bewusstsein ungeschwungen

Erscheint nicht und entsteht auch nicht.


49.

Schwingt der Funke, so kommt der Schein

Nicht von aussen her irgendwie,

Nicht von anderm als dem Schwingen,

Nicht ist Zuwachs dem Funken er.


50.

Auch nicht entflieht er dem Funken,

Weil er nicht hat ein Wirklichsein,

Ebenso ist's beim Erkennen,

Denn auch dieses ist blosser Schein.


51.

Schwingt Erkenntnis, so kommt der Schein

Nicht von aussen her irgendwie,

Nicht von anderm als dem Schwingen,

Nicht ist Bewusstseinszuwachs er.


54.

Weder aus Geist entspringt Dasein,

Noch aus Dasein entspringt der Geist;

Drum nehmen Weise kein Werden

Des Grunds oder Erfolges an.


55.

Wer noch Grund und Erfolg annimmt,

Dem entstehn auseinander sie;

Wer frei von dieser Annahme,

Für den entstehen sie nicht mehr.


56.

Wer noch Grund und Erfolg annimmt,

Für den streckt der Samsâra sich;

Wer frei von dieser Annahme,

Der ist auch vom Samsâra frei.


59.

Wie, wo der Same nur Blendwerk,

Auch die Pflanze ein solches ist,

Nicht wesenhaft noch austilgbar,

So steht's mit allen Dingen hier.
[206]

60.

Da alle Dinge nicht wirklich,

Gibt nicht Dauer es noch Vergang;

Wo alle Farben wegfallen,

Ist keine Unterscheidbarkeit.


61.

Wie in des Traumes Scheinvielheit

Der Geist irrtümlich ist verstrickt,

So in des Wachens Scheinvielheit

Ist irrtümlich der Geist verstrickt.


62.

Wie träumend eine Scheinvielheit

Erblickt der vielheitlose Geist,

So wachend eine Scheinvielheit

Erblickt der vielheitlose Geist.


63.

Was man, im Traum umherschweifend

In allen Himmelsgegenden,

An Tieren, Vögeln, Insekten

Nur immer wahrzunehmen meint,


64.

Das besteht nirgendwo anders

Als im Geiste des Träumenden;

Drum alles, was er dann sieht, ist

Nur Bewusstsein des Träumenden.


65.

Was man, wachend umherschweifend

In allen Himmelsgegenden,

An Tieren, Vögeln, Insekten

Nur immer wahrzunehmen meint,


66.

Das besteht nirgendwo anders

Als im Geiste des Wachenden;

Drum alles, was er dann sieht, ist

Nur Bewusstsein des Wachenden.
[207]

67.

Das Ding und seine Vorstellung

Bedingen gegenseitig sich;

Bestandlos ist für sich jedes,

Nur im Bewusstsein stehn sie da.


78.

Grundlosigkeit als wahr wissend,

Verwerfend Einzelursachen,

Gelangt man zu dem furchtlosen,

Wunschlosen, kummerlosen Ort.


82.

Gar leicht verbirgt er uns immer,

Gar schwer enthüllt sein Wesen er,

Solang wir einzeln auffassen

Die Dinge, – er, der heilige.


85.

Wer voll besitzt die Allschauung,

Den zweiheitlosen Brahmanort,

An dem nicht Anfang, Mitt', Ende,

Dem bleibt nichts zu erstreben mehr.


86.

Das heisst echte Gemütsruhe,

Das ist die wahre Priesterzucht,

Das ist der Selbstnatur Zähmung,

Wer sie kennt, geht zur Ruhe ein.


92.

Alle Wesen sind ursprünglich

Urerweckte (âdibuddha), das ist gewiss; –

Wer dieses sich genug sein lässt,

Der ist reif zur Unsterblichkeit.


93.

Sie alle sind auch ursprünglich

Urberuhigt, voll Seligkeit;

Sich gleich alle und unteilbar,

Ew'ge, reine Identität.
[208]

98.

Alle Seelen sind ursprünglich

Frei vom Dunkel und fleckenlos,

Urerweckt schon und urerlöst

Erwachen sie, der Meister spricht.


99.

Wie die Sonne durch sich leuchtet,

So Wissen ohne Dinge auch;

Alle Dinge sind nur Wissen, –

Unsagbar dem Erweckten selbst.


100.

Die dunkle, überaus tiefe,

Ew'ge, reine Identität,

Der Einheit Stätte nach Kräften

Erkannt habend, verehren wir!

1

Der eine Âtman erscheint als vielheitliche Welt, wie der eine Feuerfunke, wenn er im Kreise geschwungen wird, als vielheitlich erscheint.

Quelle:
Die Geheimlehre des Veda. Leipzig 1919, S. 204-209.
Lizenz:

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