Die einzelnen Linien

[226] Anfangs eine Sechs bedeutet:

Der Vogel kommt durch Fliegen ins Unheil.


Der Vogel soll zunächst im Nest bleiben, bis er flügge ist. Will er vorher fliegen, so zieht er sich Unheil zu. Außerordentliche Maßnahmen dürfen erst getroffen werden, wenn es nicht mehr anders geht. Zunächst muß man sich so lange als möglich ins Herkömmliche fügen, sonst verbraucht man sich und seine Kraft und erreicht doch nichts.


Û Sechs auf zweitem Platz bedeutet:

Sie geht an ihrem Ahnherrn vorbei und trifft die Ahnfrau.

Er erreicht nicht seinen Fürsten und trifft den Beamten.

Kein Makel.


Zwei Ausnahmefälle sind hier genannt: Im Ahnentempel, wo Generationenwechsel stattfindet, steht der Enkel auf derselben Seite wie der Großvater; darum hat er zu ihm die nächsten Beziehungen. Hier ist die Frau des Enkels gezeichnet, die beim Opfer am Ahnherrn vorübergeht und sich der Ahnfrau zuwendet. Dieses außerordentliche Verhalten ist aber ein Ausdruck ihrer Bescheidenheit. Sie wagt es eher, vor die Ahnfrau zu treten, der sie sich durch ihr Geschlecht verwandt fühlt; darum ist dieses Abwei chen von der Regel kein Fehler.

Ein anderes Bild ist das des Beamten, der zunächst ordnungsgemäß bei seinem Fürsten Audienz sucht. Wenn er ihn aber nicht trifft, sucht er nichts mit Gewalt zu erzwingen, sondern findet sich in gewissenhafter Pflichterfüllung zurecht, indem er sich einreiht in die Zahl der Beamten. Auch diese außerordentliche Zurückhaltung ist in Ausnahmezeiten kein Fehler. (Als Regel gilt, daß jeder Beamte zunächst eine Audienz bei seinem Fürsten hat, durch den er angestellt wird. Hier geht die Anstellung von dem Minister aus.)


Neun auf drittem Platz bedeutet:

Wenn man sich nicht außerordentlich vorsieht,

so kommt etwa einer von hinten und schlägt einen.

Unheil!


Zuzeiten ist außerordentliche Vorsicht unbedingt nötig. Aber gerade in solchen Lebenslagen gibt es gerade und starke Persönlichkeiten, die im Bewußtsein ihres guten Rechts es verschmähen, sich vorzusehen, weil sie das für kleinlich halten. Vielmehr gehen sie stolz und unbekümmert ihre Straße. Aber dieses Selbstvertrauen[227] täuscht sie. Es gibt Gefahren, die aus dem Hinterhalt sich nahen und denen sie nicht gewachsen sind.

Immerhin handelt es sich um eine Gefahr, der man nicht unbedingt ausgesetzt ist, sondern die sich vermeiden läßt, wenn man die Zeitlage versteht, die eine Hinwendung auf das Kleine, Unbedeutende in außerordentlicher Weise verlangt.


Neun auf viertem Platz bedeutet:

Kein Makel. Ohne vorbeizugehen, trifft er ihn.

Hingehen bringt Gefahr. Man muß sich hüten.

Handle nicht. Sei dauernd beharrlich.


Die Härte des Charakters ist durch die Weichheit der Stellung gemildert, so daß man keinen Fehler macht. Man befindet sich in einer Lage, da man sich aufs äußerste zurückhalten muß. Man darf von sich aus nichts unternehmen, um das Gewünschte zu treffen. Und wenn man hingehen wollte, um gewaltsam sein Ziel zu erreichen, so käme man in Gefahr. Darum muß man sich hüten und nicht handeln, sondern dauernd die innere Beharrlichkeit wahren.


Û Sechs auf fünftem Platz bedeutet:

Dichte Wolken,

kein Regen von unserm westlichen Gebiet.

Der Fürst schießt und trifft jenen in der Höhle.


Da hier ein hoher Platz ist, ist aus dem Bild des fliegenden Vogels das der fliegenden Wolken geworden. Aber ob die Wolken auch noch so dicht sind, sie fliegen am Himmel dahin und spenden keinen Regen. So kann in außerordentlichen Zeiten wohl ein geborener Herrscher da sein, der berufen wäre, die Welt in Ordnung zu bringen, aber er vermag nichts auszurichten und dem Volk seinen Segen nicht zuzuwenden, weil er allein steht und keinen Gehilfen hat.

In solchen Zeiten muß man nach Gehilfen suchen, mit denen zusammen man das Werk vollbringen kann. Aber diese Gehilfen muß man bescheiden in der Verborgenheit suchen, in die sie sich zurückgezogen haben. Nicht auf Berühmtheit und großen Namen kommt es an, sondern auf wirkliche Leistungen.

Durch solche Bescheidenheit findet man den rechten Mann und vermag das außerordentliche Werk trotz aller Schwierigkeit zu vollenden.


Oben eine Sechs bedeutet:

Ohne ihn zu treffen, geht er an ihm vorbei.[228]

Der fliegende Vogel verläßt ihn. Unheil!

Das bedeutet Unglück und Schaden.


Wenn man über das Ziel hinausschießt, so kann man es nicht treffen. Wenn der Vogel nicht in sein Nest will, sondern immer höher hinaus, so fällt er schließlich dem Jäger ins Netz. Wer in Zeiten des Außerordentlichen im Kleinen nicht haltzumachen weiß, sondern unruhig immer weiter will, der zieht sich Unheil durch Götter und Menschen zu, weil er sich von der Naturordnung entfernt.


Die einzelnen Linien
Quelle:
I Ging. Köln 141987, S. 226-229.
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