Schlimme Zustände.1

[458] Ich schau' empor zum hohen Himmel, –

Uns zeigt er nicht Barmherzigkeit.

So lange schon war keine Ruhe;

Nun schickt er dieses große Leid.

Nichts Festes giebt es mehr im Lande;

Wie quält sich Volk und Obrigkeit!

Ein Wurmfraß ist's, ein Würmerschaden,2

Dem nichts mehr Halt noch Ziel verleiht.

Nie wird das Strafnetz aufgewunden;3

Da ist kein Halt und kein Gesunden.


Die Menschen hatten Feld und Gründe,

Ihr aber nahmt sie in Besitz;

Die Menschen hatten Volk, Gesinde,

Ihr habet sie davon entblößt;

Die keine Strafe sollten leiden,

Die habet ihr in's Netz gebracht,

Und die da sollten Strafe leiden,

Die habet ihr davon erlöst.


Der kluge Mann erbaut die Mauer,

Das kluge Weib zerstört die Mauer.4

Ist jenes kluge Weib auch schön,

Sie ist ein Leichhuhn, eine Eule.[459]

Das Weib von langer Zunge ist

Die Treppe zum Tumultgeheule.

Vom Himmel wird der Aufruhr nicht gesandt,

Vom Weibe kommt er in das Land.

Nicht darf man Zucht noch Lehre suchen,

W nur sind Weiber und Eunuchen.


Sie foltern Leut' aus Tück' und Haß,

Erst heuchlerisch, dann ohne das.

Heißt's wol: »darüber kann's nichts geben«?

Vielmehr: »was ist's denn Schlimmes eben?«

Wie wenn ein Kaufmann dreifach nimmt.

Doch, kennt der Edle bess'res Streben,

Das Weib, zum Staatsdienst nicht bestimmt,

Läßt seine Seidenzucht, sein Weben.


Weßwegen dich der Himmel züchtigt?

Weßhalb der Geister Segen wich?

Nicht deiner großen Feinde denkst du?5

Und wendest deinen Haß auf mich.

Dich kümmern nicht die bösen Zeichen,

An dir wird Würd' und Ernst nicht kund.

Was Männer sind, die geh'n und weichen,

Und kläglich geht das Reich zu Grund.


Des Himmels ausgeworf'ne Schlingen,

Wie zahllos sind sie allerwärts!

Die Männer, die von dannen gingen,

Wie tief bekümmern sie mein Herz!

Des Himmels ausgeworfne Schlingen,

Wie nahe drohen sie herein!

Die Männer, die von dannen gingen,

Wie bringen sie mein Herz in Pein!
[460]

Der Springquell, der nach oben sprudelt,

Aus welcher Tiefe kommt er, oh!

Ach, meines Herzens Kümmernisse!

O, warum ist dem heute so?

Und konnte dieß denn vor mir nicht,

Und konnte dieß nicht nach mir sein? –

Der unerforschte hohe Himmel

Ist nicht unfähig, Heil zu leih'n.

Entehre nicht die hohen Ahnen,

Dann wird dein Nachgeschlecht gedeih'n.6

1

Unter König Jeū, während dessen Kebsweib Pāo-ssé und deren Creaturen das Volk mit großer Willkür und Grausamkeit bedrückten und ausplünderten.

2

Dieß ist natürlich bildlich gemeint und soll das Aussaugesystem der Hofgünstlinge bezeichnen.

3

Fortwährend wird gestraft, um die Güter der Angeschuldigten einziehen zu können.

4

Ist auf Pāo-ssé zu beziehen.

5

Genauer: »deiner großen Tĭ«. Dieß war ein mächtiger Barbarenstamm, der eben jetzt das Reich bedrohte.

6

Diese Schlußverse richten sich geradezu an König Jeū, dem eigentlich das ganze Lied gilt.

Quelle:
Schī-kīng. Heidelberg 1880, S. 458-461.
Lizenz:

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