Fürst Liêu.1

[419] Der edle Fürst Liêu –

Nicht rasten mocht' er und nicht weilen;

Er mußte messen, Land vertheilen,

Einernten, schobern Garbenzeilen,

Dörrfleisch und Kornfrucht ohne Weilen

In Beutel und in Säcke peilen.

Durch Einung wollt' er Ruhm ertheilen.2

Bewehrt mit Bogen und mit Pfeilen,

Mit Schilden, Speeren, Äxten, Beiden,

Macht' er sich fertig, fortzueilen.


Der edle Fürst Liêu –

Er übersah das flache Land;

Da er's zu voll, zu zahlreich fand,

Entschloß er sich und that's bekannt.

Das Seufzen war nicht von Bestand.3

Auf stieg er zu der Gipfel Rand,

Stieg wieder ab in's flache Land;

Was hatt' er an dem Gürtel da?

Nephrit und edle Steine werth,

Und in besteinter Scheid' ein Schwert.
[420]

Der edle Fürst Liêu –

Ging zu der hundert Quellen Strand,

Und schaut' in's weite flache Land;

Erstieg den Berg gen Süden dann

Und schaute sich das Hochland an.

Das Hochland paßte für das Heer;

Dort blieb er und dort wohnet' er,

Dort stellt' er Fremden Obdach her,

Dort sprach er seine Sprüche aus,

Dort hielt er Rath Berathender.


Der edle Fürst Liêu –

Als er im Hochland konnte ruh'n,

Ließ er den Wackern, Würd'gen nun

Rohrmatten hin und Sessel thun,

Darauf zu sitzen und zu ruh'n.

Er ging zu seinem Pferch hinein,

Holt' aus den Hürden sich ein Schwein,

Goß in die Kürbisflaschen Wein,

Und speiste sie und tränkte sie,

Beherrschte sie und lenkte sie.


Der edle Fürst Liêu –

Als er's besaß in Läng' und Breite,

Hielt Richtschau, trat auf Bergesweite,4

Verglich die Licht und Schattenseite,

Und nahm den Lauf der Quellen wahr.

Dreifältig theilt' er seine Schaar,5

Maß ihr die Marsch, das Flachland dar;

Bestimmte Zins vom Ackerland,[421]

Maß dar der Berge Abendwand,

Und Pīn ward groß an Wohnbestand.


Der edle Fürst Liêu –

Nach Pīn gelangt in Fremdlings Weisen,

Thät' über'n Wéi mit Fähren reisen,

Und holte Schleifstein, holte Eisen.

Besiedelt, ordnet' er das Land;

Da wuchs das Volk und sein Bestand,

Das ganze Hoâng-Thal füllt' es aus,

Bis in das Kō-Thal drang's hinaus,

Und als zu dicht die Meng' auch dort,

Ging's nach des Sjúi Gestaden fort.

1

Liêu war ein Nachkomme von Hëú-tsĭ (III. 2, 1), und seine hier erzählte Niederlassung in Pīn wird in das Jahr 1796 v. Chr. gesetzt.

2

Dadurch, daß er Lebensmittel für seinen Stamm sammelte und als Vorrath hielt, suchte er denselben zusammenzuhalten, um ihn dann zu Ruhm und Ehren zu bringen in einem angemessenen Wohnlande.

3

Als Liêu die Übervölkerung des bisherigen Wohngebietes erkannt hatte und dem Volke seinen Beschluß der Auswanderung verkündigte, war dasselbe zuerst unmuthig darüber, dieß währte jedoch nicht lange.

4

»Er hielt Richtschau« (kí jìng), er orientirte sich oder, wie Legge es umschreibt, »He determined the points of the heavens by means of the shadows«.

5

Er theilte sein Volk in drei Theile, gab Einem die Niederungen, dem Zweiten das höhere Flachland, dem Dritten die beschatteten Theile im Westen des Gebirges.

Quelle:
Schī-kīng. Heidelberg 1880, S. 419-422.
Lizenz:

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