Der große Opferdienst im Ahnentempel.

[346] Wo wild Gesträuch verworren stand,

Riß man die Dornen aus mit Händen;

Warum ward das voreinst gethan?

Daß unsre Hirsen Anbau fänden;

Daß Hirs' uns reif' im Überfluß

Und Opferhirse zum Verschwenden;

Und wären unsre Speicher voll,

Und tausend Feimen aller Enden, –

Zu Speis' und Wein sie zu verwenden,

Zur Darbringung, zu Opferspenden,

Um hinzutreten, einzuladen,1

Noch größern Segen herzuwenden.


Voll Würd' und Anstand geh'n wir fein,

Mit Stieren und mit Widdern rein,

Zum Herbst- und Winteropfer ein.

Die häuten ab, Die kochen klein,

Die richten zu, Die tragen ein.

Der Beter opfert thürherein.2[347]

Gar glänzend sind die Opferweih'n;

Und herrlich zieh'n die Ahnen ein;3

Es freuen sich die Geisterreih'n,

Dem frommen Enkel zum Gedeih'n;

Sie lohnen ihm mit großem Segen,

Sein Alter soll ohn' Ende sein.


Am Herd' ist eifriger Verkehr,

Gewalt'ge Trachten stellt man her;

Der bratet und es röstet Der.

Die hohen Frau'n gehn still einher,

Und richten an der Schüsseln Heer.

Die Fremden und die Gäst' umher

Trinken sich zu in Kreuz und Quer.

Man feiert ganz nach Brauchs Begehr;

Lächeln und Wort sind schicklich sehr.

Die Geister thun sich gnädig her,

Und lohnen es mit großem Segen,

Zehntausend Jahren und noch mehr.


Sind wir ermattet ganz und gar,

Da nichts am Brauch versäumet war,

So kommt dem weisen Beter Kunde,4

Der giebt's dem frommen Enkel dar:

»Süß roch des frommen Opfers Weise;

Die Geister freute Trank und Speise.

Sie fügen, daß dich Glück umkreise,

Gehoffterweis', verdienterweise.

Du zeigtest Eifer, bliebst im Gleise,

Du thatst es recht, du sorgtest weise:

Sie schenken dir das Höchst' im Preise

Zehntausend-, hunderttausendweise.«
[348]

Erfüllt ist jeder Brauch zur Stunde,

Es mahnten Glock' und Pauk im Bunde,

Der fromme Enkel ging zum Thron;

Da kommt dem weisen Beter Kunde:

»Satt ist des Weins der Geisterchor.«

Da steht der Todtenknab' empor.5

Ihn leiten Pauk' und Glock' hinaus;

Die gnäd'gen Geister zieh'n nach Haus.6

Die Schaar der Diener und der Frauen

Trägt alles ungesäumt hinaus.

Die Oheim' aber und die Brüder7

Vereinigt ein besondrer Schmaus.


Spielleute treten ein, mit Tönen

Den Folgesegen zu verschönen;

Und sind die Speisen aufgetragen,

Fühlt Keiner Unlust, nur Behagen.

Dann, satt von Speisen, satt vom Wein,

Verneigt die Häupter Groß und Klein:

»Die Geister werden, froh des Mahles,

Lang Leben unserm Herrn verleih'n.

Ganz willig, ganz zur rechten Zeit

Erfüllt' er alles nach Gebühren.

Ihr Söhn' und Enkel allzumal,

Ermangelt nicht, es fortzuführen!«

1

Beides soll sich den Auslegern zufolge auf den später erwähnten Vertreter der Geister beziehen.

2

Der Beter hatte das Amt, die vorgeschrieben Gebete zu sprechen. Er opfert »jü fāng«, ad latus januae, – as if to give the Spirits of the dead a welcome on their entrance into the edifice, wie Legge bemerkt.

3

Von dem an wird die Anwesenheit der Ahnengeister vorausgesetzt.

4

Die Kunde empfängt er von den Geistern.

5

»Hoâng schī« heißt wörtlich »der erlauchte Todte«; es schien zweckmäßig, den von Rückert dafür geprägten Namen »Todtenknabe« anzunehmen. Derselbe war ein lebender Stellvertreter Verstorbenen, dem geopfert wurde, ein »Bild des Geistes«, und man nahm dazu ein Kind, vorzugsweise einen Enkel, welcher, mit dem Oberkleide des von ihm vertretenen Ahnherrn bekleidet, alle Ehren desselben empfing.

6

Bei der Entfernung des Todtenknaben kehren die Ahnengeister in den Himmel zurück.

7

Sämmtliche ältere und jüngere Blutsverwandte des Königshauses.

Quelle:
Schī-kīng. Heidelberg 1880, S. 346-349.
Lizenz:

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