Siebenter Prapâṭhaka.

[170] Nachdem schon in den Hymnen des Ṛigveda (1,164. 10,129) die Erkenntnis zum Durchbruche gekommen war, dass alle Götter, Welten und Wesen auf einer Einheit beruhen, war und blieb es die weitere Aufgabe, diese Einheit näher zu bestimmen. Typisch für das Suchen nach ihr ist vor allem der Prajâpatihymnus, Ṛigv. 10,121. Aber auch in der Brâhmaṇazeit setzt sich dieses Suchen fort, und nachdem man in den Upanishad's zur Bezeichnung jener Einheit als das Brahman oder der Âtman fortgeschritten war, so blieb es auch jetzt noch eine viel ventilierte Frage, was man als das Brahman, als den Âtman zu erkennen und zu verehren habe. Gewöhnlich tritt diese Untersuchung in Form einer Disputation auf, in welcher der unterliegende Teil eine Reihe von Definitionen aufstellt, die dann widerlegt werden und zur richtigen Erkenntnis führen. Beispiele dafür sind zahlreich. So erbietet sich Bṛih. 2,1 (Kaush. 4) Gârgya Bâlâki, dem Könige Ajâtaçatru das Brahman zu erklären, und stellt hintereinander zwölf (in Kaush. sechzehn) Definitionen desselben auf, welche als unzulänglich befunden werden. Bṛih. 3,9,10-18. 26 wird Vidagdha von Yâjñavalkya nach »dem Geiste (purusha), welcher aller Persönlichkeit höchster Gipfel ist (sarvasya âtmanaḥ parâyaṇam)« gefragt, stellt nacheinander acht Definitionen desselben auf, weiss aber den allen andern überlegenen »Geist der Upanishadlehre« (aupanishadaḥ purushaḥ) nicht zu nennen, was er mit dem Leben büssen muss. Bṛih. 4,1 werden sechs unzulängliche Definitionen andrer Lehrer von Yâjñavalkya kritisiert und durch eine höhere Auffassung berichtigt. Nicht immer sind es Gegner, in deren Munde die ungenügenden Definitionen auftreten. Chând. 5,11-24 suchen sechs Brahmanen, wie wir oben S. 144 fg. sahen, Aufschluss über den Âtman Vaiçvânara und werden, nachdem sie ihn einseitig als Himmel, als Sonne, als Wind, als Äther, als Wasser und als Erde erklärt haben, vom König Açvapati über das wahre Wesen desselben belehrt. Taitt. 3 ist es Bhṛigu selbst, welcher sich, von seinem Vater Varuṇa geleitet, durch wiederholte Kasteiung zu der stufenweise fortschreitenden Erkenntnis[170] erhebt, das Brahman als Nahrung, als Prâṇa, als Manas, als Bewusstsein, als Wonne zu begreifen. Chând. 8,7-12 gibt Prajâpati, den Indra belehrend, drei Erklärungen des Âtman oder Selbstes, als die Leiblichkeit, als die individuelle und als die höchste Seele, welche drei Stufen der sich schrittweise vertiefenden Erkenntnis repräsentieren.

Von dieser Art ist auch der vorliegende Abschnitt, in welchem (wie gewöhnlich ein Brahmane durch einen Kshatriya) Nârada als höchster Repräsentant des Brahmanentums (»unter den Götter-Ṛishi's bin ich Nârada«, sagt Kṛishṇa, Bhag. G. 10,26) durch den Kriegsgott Sanatkumâra oder Skanda als höchsten Vertreter der Kshatriya's (»unter den Heerführern bin ich Skanda« ib. 10,24) belehrt wird. Nacheinander stellt Sanatkumâra sechzehn Weisen, das Brahman zu verehren, auf, als nâman, vâc, manas, samkalpa, cittam, dhyânam, vijñânam, balam, annam, âpas, tejas, âkâça, smara, âçâ, prâṇa und zuhöchst als bhûman. Jede folgende Verehrungsform wird für grösser, bhûyas, als die vorhergehende erklärt bis hinauf zum bhûman selbst, »der Grösse« schlechthin oder »der Unbeschränktheit«, welche, in ihrer eignen Majestät ruhend, alles in sich, nichts mehr ausser sich hat, als identisch mit dem Ich (aham) und dem Selbste (âtman) allerorts sich befindet, in all den tausend Wesen zur Erscheinung kommt, und deren Erkenntnis allein Freiheit und »die Lösung aller Knoten« bewirkt. So klar hierin die Erhebung von allem Endlichen und Beschränkten zum bhûman als der Unendlichkeit und Unbeschränktheit schlechthin vorliegt, so seltsam sind doch mitunter die Stufen, auf denen zu dieser Unendlichkeit fortgeschritten wird. Wir wollen dieselben kurz überblicken.

1. Alles vedische und weltliche Wissen, welches Nârada besitzt, und dessen Unzulänglichkeit er selbst daran erkennt, dass es ihm den gesuchten Frieden nicht gibt, ist bloss Name (nâman), und als solcher der Verehrung würdig. »Wer den Namen als Brahman verehrt«, erntet dafür reichen Lohn; aber das Brahman, der Âtman, was er auch immer sein mag, ist jedenfalls das Grösste von allem, – und es gibt noch etwas Grösseres als den Namen.

2. Grösser als der Name ist die Rede (vâc), weil sie den Namen und mit ihm alles in der Welt kundmacht (vijñâpayati).

3. Grösser als die Rede ist das Manas (Verstand und zugleich bewusster Wille, hier namentlich der letztere), weil es Rede und Namen befasst, wie die Hand zwei Früchte umspannt.

4. Grösser als das Manas ist der Entschluss (auch die Vorstellung, samkalpa), weil vom Entschliessen das Wollen, wie von diesem wiederum Rede und Name abhängig ist.

5. Grösser als der Entschluss ist der Gedanke (cittam), weil von ihm das Entschliessen, Wollen usw. abhängt.

6. Grösser als der Gedanke ist das Sinnen (die Meditation, dhyânam); ein Grund dafür wird nicht angegeben; statt dessen findet sich nur ein Hinweis darauf, wie alles Grosse, in sich selbst Ruhende »gleichsam meditiert«.

[171] 7. Grösser als das Sinnen ist die Erkenntnis (vijñânam), weil sie – die Begründung knüpft nicht an 6. sondern an 2. an! – alles, was die Rede nach 2. kundmacht, und mit ihm alles in der Welt erkennt (vijânâti).

8. Grösser als die Erkenntnis ist die Kraft (balam), weil ein Kraftreicher mehr vermag als hundert Erkenntnisreiche. – Ein überraschender Übergang, namentlich für das indische Bewusstsein, welches sonst stets das Wesen der Dinge im Intellektuellen sucht. Noch befremdlicher ist das Folgende.

9. Grösser als die Kraft ist die Nahrung (annam), weil von ihr alle leibliche und geistige Leistungsfähigkeit abhängt.

10. Grösser als die Nahrung ist das Wasser (âpas), weil von ihm alles Wachstum, somit die Nahrung und mit ihr alles übrige abhängt.

11. Grösser als das Wasser ist die Glut (tejas), weil auf Sonnenglut und Blitz der Regen zu folgen pflegt.

12. Grösser als die Glut ist der Äther (oder Raum, âkâça), weil in ihm Sonne, Mond, Sterne, Blitz und Feuer, als Träger der Glut, enthalten sind, und wegen der Abhängigkeit des menschlichen Treibens von ihm.

War schon der Übergang von den psychischen Faktoren 2-7 durch Vermittlung des balam zu den Elemen ten 9-12 befremdlich, so hat er doch sein Analogon in Chând. 6,5, wonach Manas, Prâṇa und Rede von Nahrung, Wasser und Glut abhängig sind. – Aber ganz unverständlich ist das nun folgende Zurückspringen zum Psychischen, um durch Gedächtnis und Hoffnung zum Prâṇa zu gelangen.

13. Grösser noch als der Äther ist das Gedächtnis (die Erinnerung, smara), weil ohne dasselbe das nach 12. vom Äther abhängige menschliche Treiben nicht möglich wäre.

14. Grösser als das Gedächtnis ist die Hoffnung (âçâ), weil sie das Gedächtnis entflammt (der Wille den Intellekt anspornt).

15. Grösser als die Hoffnung ist der Prâṇa (der Odem, das Leben); ein Grund dafür wird nicht angegeben; wohl aber folgt eine schöne Schilderung des Prâṇa, welcher, wie die Nabe alle Speichen, so alles (zunächst alle Bestandteile des Leibes) zusammenhält, und nach dessen Auszug aus dem Leibe nur noch die wertlose Hülle übrig bleibt. – Diese Auffassung des Prâṇa als Brahman wird nicht mehr wie die frühern überboten, wer sie besitzt, ist ein Niedersprecher (ativâdin), d.h. er besiegt im Redekampfe alle andern. Und doch ist sie noch nicht das Höchsterreichbare; denn sie ist nur dessen empirische Erscheinungsform als individuelle Seele, welche als Subjekt sich noch die Objekte gegenüberstehen hat und daher beschränkt und klein ist. Sie wird zur höchsten, alles befassenden Seele, wenn man diese empirische Erscheinungsform ihr abstreift, – wenn man, die Unterschiede von Subjekt und Objekt aufhebend, sich zur vollen Unbeschränktheit (bhûman) erhebt. Dies geschieht auf folgendem Wege.

Nur der ist wirklich ein Niedersprecher, welcher durch die Wahrheit niederspricht; diese beruht auf der Erkenntnis, diese auf dem Denken, dieses auf dem Glauben, dieser auf dem Daringewurzeltsein, dieses auf dem Schaffen, dieses auf der Lust, diese auf der Unbeschränktheit. Unter der Lust, die aus der Unbeschränktheit abfliesst,[172] ja mit ihr identisch ist (yo vai bhûmâ, tat sukham), darf hier nicht die individuelle Lust, sondern die Wonne (meist ânanda genannt) als Attribut der Gottheit verstanden werden; dem entsprechend ist das Schaffen (kṛiti) nicht das individuelle, sondern die aus der Fülle der Werdelust abfliessende göttliche Schöpfertätigkeit; mit ihr wird eins, wer sich auf dem Wege der Erkenntnis, des Denkens und des Glaubens (çraddhâ, wörtlich: das »Knüpfen einer Verbindung« mit dem Göttlichen) zur niḥshṭhâ »dem Hervorwachsen aus (besser vielleicht nishṭhâ dem Wurzeln in) dem Göttlichen« erhebt. Sonach scheint die Stelle das stufenweise Erheben schildern zu sollen von dem zwar das Göttliche enthaltenden, aber noch dem Reiche der Vielheit angehörigen Prâṇa bis zu dem Bhûman, der Unbeschränktheit, in welcher alle Unterschiede verschwinden, mithin auch der Erkennende selbst mit seinem Gegenstande eins wird und in ihm aufgeht.

Herrlich ist die dann folgende Schilderung des Bhûman, der Unbeschränktheit, welche nichts ausser sich sieht, hört, erkennt, welche unsterblich allein in ihrer eignen überirdischen Majestät beruht, und, so wie das mit ihr identische Ich, die Seele, an allen Orten gleich sehr gegenwärtig ist. Wer, in dieser Anschauung lebend, nur an dem Âtman seine Freude hat und alles in seiner Be dingtheit durch den Âtman erkennt, der ist frei, ist über Tod, Schmerz und Kummer erhaben und findet sein Ich in all den tausend Erscheinungen der Schöpfung wieder.1

Wie konnte ein Denker, der über so erhabene Anschauungen gebot, Wohlgefallen finden an jenen vorhergehenden, den Leser ermüdenden und so das Interesse für die Hauptsache nur abschwächenden Definitionen? Als gegnerische, zu widerlegende Meinungen wären sie noch eher zu ertragen; aber sie treten auf als eine Reihe von Versuchen, in der Definition des Brahman sich selbst durch Grösseres und immer Grösseres (bhûyaḥ) zu überbieten (ativâda), und unter diesen Umständen wird jeder an der Willkür der Auswahl und noch mehr an der Willkür der Aufeinanderfolge Anstoss nehmen müssen. Es ist damit ganz ähnlich wie bei Platon im Sophista, wo den tiefsinnigen Untersuchungen über das ὄν und μὴ ὄν die puerilen und nachlässigen Definitionen des Sophisten vorausgeschickt werden, und wir werden uns wohl damit bescheiden müssen, dass beide Denker, wenn sie ihren mitzuteilenden Gedanken eine scheinbar so unangemessene Einleitung vorausschicken, wohl dazu ihre besondern, uns aber nicht mehr erkennbaren Gründe gehabt haben mögen, – wie ich denn für die Diaeresen des Platonischen Sophista ehedem eine Hypothese aufgestellt habe, welche mir auch heute noch, nach fünfundzwanzig Jahren, durchaus einleuchtend erscheint (vgl. meine Commentatio de Platonis Sophistae compositione ac doctrina, Bonnae 1869, p. 69 fg.).[173]

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 170-174.
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