Dritter Prapâṭhaka.

[322] Die grosse Frage, wie es komme, dass die höchste Seele zur individuellen werde, wird hier nicht sowohl idealistisch nach der Vedântalehre, der zufolge die individuelle Seele ein blosser Schein ist, als vielmehr realistisch nach der Sâ khyalehre beantwortet: der höchste Âtman wird zum natürlichen Âtman (bhûtâtman) dadurch, dass er in den aus den fünf Ta mâtra's und den fünf Mahâbhûta's bestehenden Leib eingeht; und obgleich er mit diesem sich so wenig verbindet wie der Wassertropfen mit dem Lotosblatte, so wird er doch durch die drei Guṇa's der Prakṛiti so überwältigt und verwirrt, dass er, seiner wahren Wesenheit uneingedenk und sich selbst durch sich selbst (freiwillig) wie der Vogel in ein Netz verstrickend, dem Ichbewusstsein, den Werken und ihrer Vergeltung und damit der Seelenwanderung verfällt. Zum Schluss folgen drei Zitate: das erste vergleicht die höchste Seele, die individuelle und die Guṇa's mit der Glut, dem Eisen und dem Schmiede, der nur das Eisen, nicht die dasselbe erfüllende Glut hämmert; – das zweite schildert Entstehen und Bestand des Leibes; – das dritte führt die körperlichen und psychischen Übel auf den Einfluss des Tamas und des Rajas zurück. Alle diese Termini entstammen, wie wohl auch die Zitate, der Sâ khyaphilosophie, welche, wenn auch nicht in der Form wie sie uns heute vorliegt, von unserm Autor vorausgesetzt wird.


1. Da sprachen sie: ›O Ehrwürdiger, wenn du so die Majestät des Âtman kennzeichnest, wer ist denn wohl jener andre, von ihm verschiedene, der auch Âtman heisst, jener, der, von den hellen und dunkeln Früchten der Werke überwältigt, in einen guten oder schlimmen Mutterschoss eingeht, also dass seine Wanderung abwärts und aufwärts gehet, und er, von den Gegensätzen [Wärme und Kälte, Ehre und Schande, Lust und Schmerz, usw.] überwältigt, umläuft?‹

– 2. ›Allerdings gibt es jenen andern, von ihm verschiedenen, der Bhûta-Âtman heisst, jenen, der, von den hellen[322] und dunkeln Früchten der Werke überwältigt, in einen guten oder schlimmen Mutterschoss eingeht, also dass seine Wanderung abwärts und aufwärts gehet, und er, von den Gegensätzen überwältigt, umläuft. Und dieses ist seine Erklärung.

Die fünf Tanmâtra's (Reinstoffe, feinen Urbestandteile der Körper) werden mit dem Namen Bhûta (Elemente) benannt; dann aber auch die fünf Mahâbhûta's (groben Elemente) werden mit dem Namen Bhûta benannt; und was das Aggregat aller dieser ist, das ist der sogenannte Leib, und der, welcher in dem sogenannten Leibe wohnt, das ist der sogenannte natürliche Âtman (bhûta-âtman, wörtlich: der Element-Âtman). Zwar besteht sein [des Menschen] unsterblicher Âtman [unvermischt] fort wie der Wassertropfen auf der Lotosblüte [das Bild ist wohl aus Chând. 4,14,3 entlehnt und umgestaltet], aber doch wird die ser Âtman überwältigt von den Guṇa's der Prakṛiti. Nun durch diese Überwältigung gerät er in eine Verwirrung, und vermöge dieser Verwirrung erkennt er den in ihm selbst stehenden, hehren, heiligen Schöpfer nicht, sondern vom Strome der Guṇa's fortgerissen und besudelt, wird er haltlos, schwankend, gebrochen, begehrlich, ungesammelt, und in den Wahn [des Ichbewusstseins, aha kâra, vgl. Sâ khya-Kârikâ v. 24: abhimâno 'ha kâraḥ] verfallend wähnt er: »ich bin dieser, mein ist dieses«, und bindet sich selbst durch sich selbst1 wie ein Vogel durch das Netz; und, von den auf die Taten folgenden Früchten überwältigt, geht er in einen guten oder schlimmen Mutterschoss ein, also dass seine Wanderung abwärts und aufwärts gehet, und er, von den Gegensätzen überwältigt, umläuft.‹ – ›Aber welcher ist dieser?‹ so fragten sie. – Da sprach er also:

3. ›Auch an einem andern Orte heisst es: »Der da handelt, das ist der natürliche Âtman, und der ihn durch die Organe handeln macht, das ist der innere Purusha. Nämlich gleichwie ein Eisenklumpen, vom Feuer überwältigt, von den Werkleuten gehämmert in Mannigfaltigkeit übergeht [vgl. das Bild Bṛih. 4,4,4], also geht auch jener natürliche Âtman, von[323] dem innern Purusha überwältigt und von den Guṇa's gehämmert, in Mannigfaltigkeit ein. Und die Erscheinungsform dieser Mannigfaltigkeit ist diese, dass sie aus der, vier Gruppen2 bildenden, in vierzehn Arten3 vorhandenen, vierundachtzigfach4 umgewandelten, Wesensschar besteht (bhûta-gaṇam, Adjektiv zu rûpam). Aber alle diese Vervielfältigungen (wohl guṇitâni zu lesen) werden von dem Purusha in Bewegung gesetzt, gleichwie das Rad vom Töpfer. Sowie aber, wenn der Eisenklumpen gehämmert wird, das Feuer nicht mit überwältigt wird, so wird auch jener Purusha nicht mit überwältigt, sondern überwältigt wird nur der natürliche Âtman, wegen seiner Verflochtenheit.«

4. Auch an einem andern Orte heisst es: »Dieser Leib, aus Begattung entstanden, erwachsen in der Hölle [des Mutterleibes] und herausgekommen durch die Pforte des Harns, ist eine Ansammlung von Knochen, mit Fleisch überschmiert, mit Haut umflochten, mit Kot, Harn, Galle, Phlegma, Mark, Fett und Speck und dazu mit vielen Krankheiten angefüllt wie eine Schatzkammer mit Schätzen.«

5. Auch an einem andern Orte heisst es: »Verwirrung, Furcht, Verzweiflung, Schlaf, Trägheit, Unbesonnenheit, Greisenalter, Kummer, Hunger, Durst, Geiz, Zorn, Nihilismus, Unwissenheit, Missgunst, Grausamkeit, Dummheit, Schamlosigkeit, Haltungslosigkeit, Hoffärtigkeit, Launenhaftigkeit, diese stammen aus dem Tamas; innerer Durst, Liebe, Leidenschaft, Begierde, Schädigungssucht, Wollust, Hass, Verschlagenheit, Eifersucht, liebloses Wesen (akâmam), Unfestigkeit, Wankelmütigkeit, Zerstreutheit, Rechthaberei, Habgier, Freundwerbung, Weiberknechtschaft, Abneigung gegen unerwünschte Sinneseindrücke, Zuneigung zu erwünschten, sauertöpfischer Ton [der Rede] und Völlerei hingegen stammen aus dem Rajas. Von[324] diesen erfüllt, von diesen überwältigt, so ist der natürliche Âtman; darum geht er in die vielerlei Gestalten ein, – Gestalten ein.«‹

Fußnoten

1 nibadhnâti âtmanâ âtmânam; vgl. Sâ khya-K.v. 63: badhnâti âtmânam âtmanâ prakṛitiḥ.


2 Nach dem Schol. die vier Arten der lebenden Wesen (Lebendgeborne, Eigeborne, Schweissgeborne, Keimgeborne) und die vierzehn Welten (Vedântasâra § 129). – Es könnten auch der caturjâla brahmakoça (annamaya, prâṇamaya, manomaya, vijñânamaya) wie 6,28. 38, und die vierzehn Wesensklassen wie Sâ khya-K.v. 53 verstanden werden.


3 Nach dem Schol. die vier Arten der lebenden Wesen (Lebendgeborne, Eigeborne, Schweissgeborne, Keimgeborne) und die vierzehn Welten (Vedântasâra § 129). – Es könnten auch der caturjâla brahmakoça (annamaya, prâṇamaya, manomaya, vijñânamaya) wie 6,28. 38, und die vierzehn Wesensklassen wie Sâ khya-K.v. 53 verstanden werden.


4 Ausdruck der unbestimmten Vielheit (entweder 21 mal 4, oder 6 mal 14) der Unterarten.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 322-325.
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