Vierter Prapâṭhaka.

[325] Die weitere Frage, wie eine Erlösung aus dem geschilderten Elende möglich sei, wird weder im Sinne des Vedânta (Erkenntnis seiner selbst als des Âtman), noch in dem der Sâ khyalehre (Unterscheidung des Purusha von dem, was er nicht ist), sondern in reaktionärem Sinne beantwortet: Vedastudium, Beobachtung der Pflichten der eignen Kaste (svadharma) und Innehaltung der brahmanischen Lebensordnung durch die Âçrama's sind unerlässliche Bedingungen: ohne Erfüllung der im Veda gelehrten Pflicht der Kaste ist keine Lebensordnung durch die Âçrama's, ohne sie keine wahre Askese, ohne diese weder die Erkenntnis des Âtman noch das Gelingen der Werke möglich. Vidyâ d.h. hier »Glaube an Brahman« (asti brahma, iti), Tapas »Askese« und Cintâ »verehrende Meditation des Brahman«, – das sind die drei Bedingungen, welche über das (niedere) Brahman und die Götter hinaus zu ewiger, unendlicher, ungetrübter Lust, zur Erlösung von der Überwältigung und zur Vereinigung mit dem Âtman führen. Die Verehrung der Naturgötter wird zugelassen, sofern sie die höchsten Erscheinungsformen (agryâs tanavaḥ) des Brahman sind; man erhebt sich dadurch zunächst zu ihrer Sphäre und geht mit ihnen beim Weltende zur Einheit des Purusha ein.

Diese Reaktion gegen die Ideale des Vedânta, nach welchem nur die Erkenntnis des Âtman zur Erlösung erforderlich ist, erklärt sich, wenn wir bedenken, dass die praktische Verwirklichung jener Lehre zu Erscheinungen führen musste, deren Hauptvertreter für uns heute der Buddhismus ist. Eine Polemik, wenn nicht geradezu gegen diesen, so doch gegen die Tendenzen, die in ihm zum Ausdrucke kommen, ist unverkennbar. Ohne die alten Anforderungen des Brahmanismus, brahman (Vedastudium) und tapas (sich betätigend in Kasten und Âçrama's) ist der Weg zum Heile nicht zu finden.


1. Da geschah es, dass die Zeugungserhabenen in höchster Bewunderung alle im Vereine sprachen: ›O Ehrwürdiger! Verehrung sei dir! belehre [uns weiter]! du bist unsre Zuflucht, und eine andre gibt es nicht. Welches ist für diesen natürlichen Âtman die Weise, auf die er, diese Welt dahintenlassend, nur allein in dem Âtman [steht und mit ihm] zur Vereinigung gelangt?‹ – Da sprach er zu ihnen also:

2. ›Auch an einem andern Orte heisst es: »Wie die Wellen[325] grosser Ströme ist für ihn keine Abwendung des früher Begangenen; wie die Flutschwellung des Ozeans ist für ihn nicht abzuwehren das Herannahen des Todes; gleichwie ein Lahmer ist durch die Fesseln der Vergeltung guter und böser Werke sein Gebunden[sein]; gleichwie eines Gefangenen ist seine Unfreiheit; gleichwie eines im Bereiche des Yama [im Angesicht des Todes] Stehenden ist sein in vieler Furcht Befangen[sein]; gleichwie ein vom Rauschtrank Berauschter ist sein vom Rauschtrank der Verblendung Berauscht[sein]; gleichwie ein von einem Übel Besessener ist sein Umhergetrieben[werden]; gleichwie ein von einer grossen Schlange Gebissener ist sein von den Sinnendingen Gebissen[sein]; gleichwie tiefe Finsternis ist sein von Leidenschaft Blind[sein]; gleichwie ein Zauberwerk ist sein In-Blendwerk-verstrickt[sein]; gleichwie ein Traum ist sein Trugbilder-sehen; gleichwie die Bananenfrucht ist sein Kraftlos[sein]; gleichwie ein Tänzer ist sein für den Augenblick Ausstaffiert[sein]; gleichwie eine bemalte Kulisse ist sein trügliches Herzerfreuend[sein].« Auch heisst es:


»Als wesenlos die Eindrücke,

Gehör, Gefühl im Menschen sind,

Und doch vergisst, in sie vergafft,

Der Bhûtâtman die höchste Welt.«


3. Dieses aber ist die Heilung des natürlichen Âtman (bhütâtman): Studium der Wissenschaft des Veda, Einhaltung der eignen [Kasten-]Pflicht, Leben in den zukommenden Lebensstadien, – denn darin besteht der Wandel in der eignen [Kasten-]Pflicht; alles andre ist [so wertlos] wie die Ausläufer eines Grasbüschels; dadurch wird er des, was da droben ist, teilhaftig; wo nicht, so geht es abwärts. Und das ist die eigne [Kasten-]Pflicht, die in den Veden befohlen wird; wer diese seine eigne Pflicht übertritt, kann nicht die Lebensstadien einhalten; wenn aber einer nicht in den Lebensstadien sich hält und etwa ein Asket genannt wird, so ist das ungereimt; ohne ein Asket zu sein aber, kann man weder die Erkenntnis des Âtman erreichen, noch auch die Werke vollbringen. Darum heisst es:


»Durch Tapas wird erlangt Sattvam,

Durch Sattvam Manas wird erlangt;[326]

Durch Manas wird erlangt Âtman,

Wer den hat, kehrt nicht wieder her.«


4. »Das Brahman ist«, so spricht wer das Brahmanwissen hat; – »dieses ist die Pforte des Brahman«, so bezeichnet sein Tun, wer durch die Askese vom Bösen sich befreit; – »Om! über die Grösse des Brahman«, mit diesen Worten bringt sein Tun zum Ausdruck, wer wohlvorbereitet ohne Unterlass die Meditation übt; darum wird durch Wissen, durch Askese und durch Meditation das Brahman erkannt. Und wer es tut, der geht noch über das [niedere] Brahman hinaus und zur Übergöttlichkeit über die Götter; und so erlangt er unvergängliche, unermessliche, leidenfreie Lust, wer, solches wissend, durch jene Dreiheit (vidyâ, tapas, cintâ) das Brahman verehrt. Aber womit er [vordem] angefüllt, wovon er überwältigt, wodurch er an jenen Wagen [oben 2,3. 6] gebannt war, von dem erlöst, geht er in dem Âtman zur Gemeinschaft [mit ihm] ein.‹

5. Da sprachen sie: ›O Ehrwürdiger, du bist ein Niedersprecher1, du bist ein Niedersprecher! Das soll von uns, so wie du es gesprochen, im Geiste wohl bewahrt werden. Aber nun beantworte uns noch eine weitere Frage. Agni, Vâyu, Âditya, der die Zeit ist [Prajâpati], Prâṇa, Nahrung, Brahmán (masc)., Rudra, Vishṇu, – von diesen verehren meditierend die einen diesen, die andern jenen. Welcher von ihnen am besten [verehrt wird], wer der ist, das sage uns!‹ – Da sprach er zu ihnen:

6. ›Diese, fürwahr, sind die obersten Erscheinungsformen (tanavas) des höchsten, unsterblichen, körperlosen Brahman. Und »wer einem von diesen anhängt, der freuet sich hienieden in dessen Welt«, so heisst es.2 Denn Brahman, fürwahr, ist diese ganze Welt (vgl. Chând. 3,14,1); was aber seine (lies asya) obersten Erscheinungsformen sind, die soll man meditieren,[327] verehren und verleugnen. Dadurch wird man zusammen mit ihnen höher und höher in den Welten streifen und beim Untergange des Alls [eingehen in] die Einheit des Purusha, – des Purusha.3

Fußnoten

1 Sehr wahrscheinlich ist hier (wie auch M. Müller gesehen) ativâdî (Chând. 7,15,4, vgl. Bṛih. 3,9,19) zu lesen.


2 Vgl. das Zitat bei Ça k. ad Taitt. p. 134,10 und ad Brahmas, p. 112,8 (1047,12. 1135,6): tam yathâ yathâ upâsate, tad eva bhavati (in der Upanishadliteratur habe ich diese Worte bis jetzt nur Mudgala-Up. 3 gefunden); und Bṛih. 4,1,2-7 devo bhûtvâ devân apyeti.


3 Die Rede des Çâkâyanya geht bis 6,30 weiter, aber das von ihm nacherzählte Gespräch zwischen Kratu Prajâpati und den Vâlakhilya's ist wohl hier zu Ende, wenn auch 6,29 noch einmal auf dasselbe zurückgewiesen wird. Nicht nur dass die bisher herrschende Form von Rede und Gegenrede im folgenden verlassen wird (statt dessen findet sich in Prap. 5 dreimal die Anrede brahmacâriṇaḥ), sondern auch das eigentliche Thema der Upanishad ist mit obigem erschöpft und alles Weitere hat den Charakter von Nachträgen.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 325-328.
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