VI. Vom Ich oder der Persönlichkeit eines auf den Geruchsinn beschränkten Menschen.

[56] 1. Da unsere Statue gedächtnissfähig ist, so ist sie nie ein Duft, ohne sich zu erinnern, dass sie ein anderer gewesen. Dies ist ihre Persönlichkeit; denn wenn sie »Ich« sagen könnte, würde sie es in allen Zeitpunkten ihrer Dauer sagen, und jedes Mal würde ihr »Ich« alle die Augenblicke umfassen, von denen sie Erinnerung bewahrt.

2. Zwar würde sie es nicht beim ersten Duft sagen. Was man unter diesem Worte versteht, scheint mir nur für ein Wesen zu passen, welches bemerkt, dass es im gegenwärtigen Augenblick nicht mehr ist, was es gewesen. Soweit es nicht wechselt, existirt es ohne an sich selbst zu denken; aber sobald es wechselt, urtheilt es, dass es dasselbe ist, was vorher so oder so da war, und sagt Ich.

Diese Beobachtung bestätigt es, dass die Statue im[56] ersten Zeitpunkte ihres Daseins keine Begehrungen bilden kann; denn ehe sie sagen kann: ich begehre, muss sie gesagt haben: Ich.

3. Die Gerüche, deren die Statue sich nicht erinnert, gehen also auch nicht in die Vorstellung ein, die sie von ihrer Person hat. Ihrem Ich eben so fremd, als Farben und Töne, von denen sie noch keine Kenntniss hat, sind sie für ihren Standpunkt so gut wie nie empfunden. Ihr Ich ist nur die Gruppe der Empfindungen, die sie erfährt, und derer, die ihr das Gedächtniss zurückruft.11 Kurz, es ist zugleich das Bewusstsein dessen, was sie ist, und die Erinnerung dessen, was sie gewesen.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 56-57.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Abhandlung über die Empfindungen
Abhandlungen über die Empfindungen.