XI. Von einem auf den Gesichtsinn beschränkten Menschen.

[68] 1. Es wird gewiss viele Leser befremden, wenn man sagt, das Auge sei für sich allein nicht im Stande, einen draussen befindlichen Raum zu sehen. Wir haben eine solche Fertigkeit darin erworben, beim Anblick der uns umgebenden Gegenstände zu urtheilen, dass wir uns nicht denken können, wie wir nicht im ersten Augenblick, da sich unsere Augen dem Lichte öffneten, über sie geurtheilt haben sollten.

Die Vernunft vermag recht wenig, und ihre Fortschritte sind recht langsam, wenn sie Irrthümer zu zerstören hat, von denen sich Niemand hat frei erhalten können, und die, weil sie mit der ersten Entwickelung der Sinne angefangen haben, ihren Ursprung in Zeiten verbergen, von denen wir keine Erinnerung bewahren. Zunächst denkt man, dass wir immer so gesehen haben, wie wir sehen; dass alle unsere Vorstellungen mit uns geboren seien und unsere ersten Jahre dem fabelhaften Zeitalter der Dichter gleichen, wo die Götter, der Dichtung nach, dem Menschen alle die Kenntnisse gegeben haben, die er durch sich selbst erlangt zu haben sich nicht erinnert.

Wenn ein Philosoph muthmasst, dass alle unsere Erkenntnisse[68] wohl aus den Sinnen stammen könnten, so empören sich alsbald die Gemüther gegen eine ihnen so befremdliche Meinung. »Welche Farbe hat der Gedanke,« fragt man ihn, »da er durch das Gesicht zur Seele gelangt? Wie schmeckt er, wie riecht er etc., da man ihn dem Geschmack, dem Geruch etc. verdankt?« Kurz, man überhäuft ihn mit tausend Schwierigkeiten dieser Art, mit all der Zuversicht, die ein allgemein angenommenes Vorurtheil verleiht. Der Philosoph, der seinen Ausspruch eher gethan, bevor er die Erzeugung aller unserer Vorstellungen klar erkannt hat, kommt in Verlegenheit, und man zweifelt nicht daran, dass das ein Beweis für die Unrichtigkeit seiner Ansicht sei.

Die Philosophie thut einen Schritt weiter: sie entdeckt, dass unsere Empfindungen nicht die Eigenschaften der Objekte selbst, vielmehr nur Wandlungen unserer Seele sind. Sie prüft jede Empfindung einzeln, und da sie bei dieser Untersuchung wenig Schwierigkeiten findet, so scheint sie kaum eine Entdeckung zu machen.

Von hier aus wäre der Schluss leicht, dass wir nur wahrnehmen, was in uns ist, und dass folglich ein auf den Geruchsinn beschränkter Mensch nur Duft sein würde, ein auf den Geschmacksinn beschränkter: Geschmack, auf das Gehör: Geräusch oder Ton, auf das Gesicht: Licht und Farbe. Am schwierigsten würde es alsdann sein, sich davon einen Begriff zu machen, wie wir die Gewöhnung erlangen, Empfindungen, die in uns sind, nach aussen zu beziehen. Wirklich erscheint es sehr befremdlich, dass man mit Sinnen, die nur in sich selbst etwas erfahren, und die keine Ursache haben, draussen einen Raum zu vermuthen, seine Empfindungen auf Objekte beziehen könne, welche sie veranlassen. Wie kann sich die Empfindung über das Organ, das sie erfährt und das sie begrenzt, hinaus erstrecken?

Allein wenn man die Eigenthümlichkeiten des Tastsinns bedächte, so würde man erkennen, dass er jenen Raum entdecken, und die anderen Sinne lehren kann, ihre Empfindungen auf die Körper zu beziehen, die darin verbreitet sind. Alsdann würden selbst Solche, die ihr Vorurtheil weiter von dieser Wahrheit entfernt, anfangen wenigstens einigen Zweifel zu hegen. Man würde sich darüber einigen, dass man sich mit dem[69] Geruch- oder Geschmacksinn nur für Geruch oder Geschmack halten würde. Das Gehör würde etwas mehr Schwierigkeit bieten, wegen unserer Gewöhnung, das Geräusch als ausser uns seiend zu hören. Aber diesem Sinne macht es so viel Mühe, Entfernungen und Lagen zu beurtheilen, und er täuscht sich dabei so oft, dass man endlich dahin übereinkommen würde, er urtheile darüber nicht für sich allein. Man würde ihn als einen Schüler betrachten, der den Unterricht des Tastsinns schlecht behalten hat.

Aber der Gesichtsinn, wie kann der durch das Getast unterrichtet worden sein, er, der über Entfernungen urtheilt, welche dieses nicht erreichen kann, er, der in einem Augenblick Objekte überblickt, die dieses nur langsam durchläuft oder deren Gesammtheit es sogar niemals umfassen kann?

Nach der Analogie dürfte man nur voraussetzen, dass es mit ihm ebenso sein muss, wie mit den anderen Sinnen: da der Eindruck des Lichtes, die sinnliche Erregung ganz in den Augen ist, so könnte man vermuthen, dass sie nur in sich selbst sehen müssen, wenn sie noch nicht gelernt haben, ihre Empfindungen auf die Objekte zu beziehen. In der That, wenn sie nur so sähen, wie sie empfinden,[70] könnten sie wohl auf die Vermuthung kommen, dass es draussen einen Raum und in diesem Raum Objekte giebt, die auf sie wirken?

Man würde also annehmen, dass sie durch sich selbst nur Kenntniss vom Licht und den Farben erlangen, und nachdem man auf Grund dieser Hypothese von allen Erscheinungen Rechenschaft gegeben, nachdem man erklärt hätte, wie sie es mit Hülfe des Getastes dahin bringen, über die Objekte im Baum zu urtheilen, würden nur noch Experimente fehlen, um alle unsere Vorurtheile völlig zu zerstören.

Man muss Molineux die Gerechtigkeit angedeihen lassen, dass er zuerst Vermuthungen über die von uns behandelte Frage aufgestellt hat. Er theilte seinen Gedanken einem Philosophen mit. Das war der einzige Weg, einen Anhänger zu gewinnen. Locke stimmte ihm darin bei, dass ein Blindgeborner, dessen Augen sich dem Lichte öffnen, durch das Gesicht nicht eine Kugel von einem Würfel unterscheiden würde. Diese Vermuthung ist seitdem durch Cheselden's Versuche bestätigt worden, zu denen sie Veranlassung gegeben hat, und ich denke, man kann heutigen Tages ziemlich genau unterscheiden,[71] was den Augen gehört und was sie dem Getagt verdanken.

2. Ich glaube also zu der Behauptung ermächtigt zu sein, dass unsere Statue nur Licht und Farben sieht, und dass sie nicht meinen kann, es sei etwas ausser ihr da.

Wenn dem so ist, so nimmt sie in der Wirkung der Lichtstrahlen nur ihre eigenen Daseinsweisen wahr. Es geht ihr mit diesem Sinne so, wie mit denen, deren Wirkungen wir schon untersucht haben, und sie erlangt dieselben Fähigkeiten.

3. Wenn sie vom ersten Augenblick an mehrere Farben gleichmässig wahrnimmt, so kann sie meines Erachtens noch keine einzeln beachten; ihre allzu getheilte Aufmerksamkeit fasst sie verworren auf. Wir wollen sehen, wie sie dieselben unterscheiden lernen kann.

4. Das Auge ist derjenige unter allen Sinnen, dessen Mechanismus wir am besten kennen. Mehrfache Versuche haben uns gelehrt, die Lichtstrahlen bis auf die Netzhaut zu verfolgen, und wir wissen, dass sie dort gesonderte Eindrücke machen. Zwar wissen wir nicht, wie diese Eindrücke sich durch den Sehnerven bis zur Seele fortpflanzen; aber es scheint ausser Zweifel, dass sie dort ohne Verwirrung ankommen; denn würde der Weltschöpfer die Vorsicht gebraucht haben, sie so sorgfältig auf der Netzhaut zu sondern, wenn er hätte zulassen wollen, dass sie einige Linien hinter ihr zusammenfliessen? und wenn das doch geschähe, wie würde die Seele jemals sie unterscheiden lernen?

Die Farben sind also ihrer Natur nach Empfindungen, die sich zu sondern streben, und wie unsere Statue es dahin bringen wird, auf eine gewisse Anzahl derselben zu achten, das denke ich mir so:

unter den Färben, die sich im ersten Augenblick in ihrem Auge ausbreiten und seinen Hintergrund erfüllen, kann es eine geben, die sie auf besondere Weise unterscheidet, die sie wie abgesondert sieht: das wird die sein, auf welche das Lustgefühl ihre Aufmerksamkeit mit[72] einem gewissen Grade von Lebhaftigkeit richtet. Beachtete sie dieselbe nicht mehr als die anderen, so würde sie sie noch nicht unterscheiden. Desgleichen würden wir in einer Landschaft nichts erkennen, wo wir Alles zugleich und gleichmässig sehen wollten.

Wenn sie mit derselben Lebhaftigkeit zwei zusammen anschauen konnte, so würde sie dieselben mit der nämlichen Leichtigkeit wie eine einzige beachten. Könnte sie drei so anschauen, so würde sie diese in gleicher Weise beachten. Dessen scheint sie mir jedoch noch nicht fähig; das Lustgefühl beim Betrachten der einzelnen muss Sie auf das Lustgefühl beim gleichzeitigen Betrachten mehrerer erst vorbereiten.

Es geht ihr wohl in Bezug auf zwei oder drei Farben, die sich ihr mit einer Anzahl anderer darbieten, wie uns selbst in Bezug auf ein etwas verwickeltes Gemälde, mit dessen Gegenstand wir nicht vertraut sind. Anfangs nehmen wir die Einzelheiten verworren wahr; nachher heften sich unsere Augen auf eine Gestalt, darnach auf eine andere, und erst, wenn wir sie nach einander bemerkt haben, sind wir in den Stand gesetzt, über alle zusammen zu urtheilen.

Die verworrene Anschauung beim ersten Blicke ist nicht die Wirkung einer jederzeit feststehenden und bestimmten Anzahl von Objekten, so dass, was für mich verworren ist, es auch für jeden Andern sein müsste. Sie ist die Wirkung einer im Verhältniss zu der geringen Uebung meiner Augen allzugrossen Menge. Ein Maler und ich sehen alle Partien eines Gemäldes gleicherweise; allein während er sie rasch erkennt, entdecke ich sie mit solcher Mühe, dass ich jeden Augenblick noch nicht Gesehenes zu sehen glaube.

Wie also in diesem Gemälde für seine Augen mehr gesonderte Dinge und für meine weniger vorhanden sind, so kann unsere Statue unter allen Farben, die sie im ersten Augenblick sieht, wahrscheinlich nur eine bemerken, da ja ihre Augen noch gar nicht geübt sind.

Alsdann sind, obgleich andere Farben sich getrennt von einander auf ihrer Netzhaut ausbreiten und sie folglich dieselben sieht, diese für sie ebenso verworren, als wenn sie wirklich zusammenflössen.

So lange sie der von ihr beachteten Farbe ganz und[73] gar zugewandt ist, hat sie demnach eigentlich keine Kenntniss von den anderen.

Jedoch ihre Augen ermüden, sei es, weil diese Farbe lebhaft wirkt, sei es, weil sie nicht ohne einige Anstrengung in der Lage bleiben können, die sie dahin richtet. Sie nehmen daher durch mechanische Bewegung eine andere an, und wieder eine andere, wenn sie zufällig von einer andern Farbe getroffen werden, die zu lebhaft ist, als dass sie ihnen gefallen könnte, und verweilen erst, wenn sie eine antreffen, die ihnen angenehmer ist, weil sie ihnen Ruhe gewährt.

Nach einiger Zeit ermüden sie wiederum und gehen zu einer andern minder lebhaften Farbe über. So wer den sie stufenweise dahin gelangen, ihr grösstes Lustgefühl darein zu setzen, dass sie nur Schwarz bemerken. Am Ende kann die Ermüdung so weit gehen, dass sie sich dem Lichte gänzlich verschliessen.

Wenn unsere Statue, nachdem sie die Farben in dieser Reihenfolge unterschieden hat, niemals mehrere gleichzeitig bemerken könnte, so würde es ihr mit dem Gesichte gerade so gehen, wie es ihr mit dem Geruche ergangen. Denn obwohl sie bisher immer mehrere zugleich gesehen, so sind doch alle die, welche sie nicht bemerkt hat, für sie so gut wie gar nicht gesehen; sie kann sie nicht beachten. Allein nach meinem Dafürhalten muss sie mehrere auf einmal erkennen lernen.

5. Roth, nehme ich an, ist die erste Farbe, die ihr besonders aufgefallen ist, und die sie bemerkt hat. Ist ihr Auge ermüdet, so ändert es die Lage und trifft auf eine andere Farbe, z.B. Gelb; sie gefällt sich in dieser[74] neuen Daseinsweise; allein sie vergisst das Roth nicht, noch das von ihm erregte Lustgefühl. Ihre Aufmerksamkeit theilt sich also zwischen diese beiden Farben: wenn sie das Gelb als eine Daseinsweise, die sie jetzt erfährt, bemerkt, so bemerkt sie das Roth als eine Daseinsweise, die sie erfahren hat. Allein Roth kann nicht ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen und ihr dabei immer nur als eine frühere Daseinsweise erscheinen, wenn die Empfindung, wie ich annehme, ihr ebenso gegenwärtig ist, wie die des Gelben. Nachdem sie sich erinnert hat, nach einander Roth und Gelb gewesen zu sein, bemerkt sie also, dass sie Roth und Gelb zugleich ist.

Es lenke sich darauf ihr ermüdetes Auge auf eine dritte Farbe, z.B. Grün. Ihre auf diese Daseinsweise gerichtete Aufmerksamkeit wendet sich von den beiden ersten ab. Doch ist diese nicht so sehr darauf gerichtet, dass die Statue vergässe, was sie gewesen. Sie bemerkt mithin noch das Roth und Gelb als zwei vorausgegangene Daseinsweisen.

Diese Erinnerung thut der Aufmerksamkeit in dem Maasse Abbruch, als das auf das Grün gerichtete Organ ermüdet. Unmerklich erlangt sie fast eben so viel Antheil, als die gerade beachtete Farbe; mithin erkennt die Statue, dass sie Roth und Gelb gewesen, mit derselben Lebhaftigkeit, wie dass sie Grün ist. Von nun an bemerkt sie, dass sie diese drei Farben gleichzeitig ist. Und wie sollte sie auch zwei davon bloss als vergangene ansehen, da diese Empfindungen alle drei zur selben Zeit in ihren Augen und darin von einander gesondert sind?

Mit Hülfe des Gedächtnisses also bringt es das Auge dahin, Farben bis zu zweien oder dreien zu bemerken, die sich zusammen darstellen. Würde die erste, wenn es die zweite bemerkt, völlig vergessen, so würde es niemals zu dem Urtheile gelangen, dass es gleichzeitig auf zweierlei Arten da ist. Da aber die Erinnerung daran fortdauert, so theilt sich die Aufmerksamkeit zwischen die eine ml Ale andere, und sobald es bemerkt hat, dass es nach einander auf zweierlei Arten dagewesen, urtheilt es, dass es auf zwei zugleich ist.

6. Wie wir es gelehrt haben, nach einander drei Farben kennen zu lernen, so worden wir es auch eine grössere Anzahl kennen lehren. Aber in dieser ganzen Aufeinanderfolge[75] wird es sich immer nur drei gesondert vorstellen; denn die Vorstellungen unserer Statue betreffs der Zahlen reichen nicht weiter als bei dem Geruche.

Wenn wir ihr darauf alle diese Farben zusammen vorhalten, so wird sie gleicherweise nur drei auf einmal unterscheiden und die Zahl der anderen nicht bestimmen können. Nachdem nachgewiesen ist, dass das Auge, um sie zu unterscheiden, des Gedächtnisses bedarf, so steht es ausser Zweifel, dass es nicht mehrere als das Gedächtniss selbst unterscheiden wird.

7. Da unsere Statue den Blick von einer Farbe auf eine andere richtet, so geniesst sie nicht immer die Daseinsweise, die, ihrer Erinnerung nach, ihr am angenehmsten war. Ihre Einbildungskraft muss dadurch, dass sie sich anstrengt ihr den Gegenstand ihres Begehrens lebhaft vorzuführen, nothwendig auf ihre Augen wirken. Sie bringt in ihnen, ohne dass sie es merken, eine Bewegung hervor, in Folge deren sie mehrere Farben durchlaufen, bis sie auf die gesuchte getroffen sind. Die Statue hat folglich mit diesem Sinn ein Mittel mehr, als mit den früheren, um den Genuss des Begehrten zu erlangen. Es ist sogar möglich, dass ihre Augen, wenn sie zuerst wie zufällig eine Farbe wiedergefunden haben, sich eine Fertigkeit in der Bewegung aneignen, die geeignet ist, sie dieselbe wiederfinden zu lassen, und dies wird geschehen, vorausgesetzt, dass die Objekte vor ihnen ihre Lage nicht ändern.

8. Eine Tonempfindung kann der durch sie modifizirten Seele keine Ausdehnung zeigen, weil ein Ton nicht ausgedehnt ist. Nicht so die Farbenempfindung; sie zeigt der durch sie modifizirten Seele Ausdehnung, weil sie selbst ausgedehnt ist. Das ist eine Thatsache, welche[76] man nicht in Zweifel ziehen kann; Beobachtung liefert den Nachweis. Es ist ebenso unmöglich, eine Farbe ohne Ausdehnung zu denken, als einen ausgedehnten Ton.

Da jede Farbe ausgedehnt ist, so bilden mehrere an einander grenzende Farben nothwendig ein zusammenhängendes Ganze mit mehreren ausgedehnten und von einander geschiedenen Theilen. Diese Erscheinung ist eine bunte Oberfläche. So wenigstens nehmen wir selbst sie wahr.

Würde sich also unsere Statue, wenn sie der Meinung ist, dass sie mehrere Farben auf einmal sei, wohl wie bunte Oberfläche vorkommen?

Die Vorstellung der Ausdehnung setzt die Wahrnehmung mehrerer Dinge voraus, die ausser und an einander und folglich alle ausgedehnt sind; denn unausgedehnte Dinge können nicht an einander sein. Nun kann man aber der Statue diese Wahrnehmung nicht absprechen; denn sie fühlt eben so oft, dass sie sich ausserhalb ihrer selbst wiederholt, als Farben da sind, die sie modifiziren. So lange sie Roth ist, fühlt sie sich ausserhalb des Grün, so lange sie Grün ist, ausserhalb des Roth u.s.w.

Sie kommt sich also wie eine bunte Fläche vor, allein diese Fläche ist für sie weder eine Oberfläche, noch irgend eine bestimmte Grosse. Eine Oberfläche ist sie nicht, weil die Vorstellung »Oberfläche« die Vorstellung des Festen voraussetzt, eine Vorstellung, die sie nicht hat und nicht haben kann. Auch eine bestimmte Grosse ist sie nicht, denn eine derartige Grosse ist eine in Grenzlinien, die sie umschreiben, eingeschlossene Ausdehnung. Nun kann aber das Ich der Statue sich nicht von Grenzen umschlossen fühlen. Es ist alle die Farben zugleich, die es gleichzeitig modifiziren, und da es nichts weiter[77] sieht, so kann es sich nicht als umschlossen wahrnehmen; weil es durch mehrere Farben zugleich modifizirt ist und sich in jeder gleicherweise findet, so fühlt es sich als ausgedehnt, und weil es nichts Umschliessendes wahrnimmt, so hat es von seiner Ausdehnung nur ein unbestimmtes Gefühl; sie ist ihm eine Ausdehnung ohne Grenzen. Es wiederholt sich nach seinem Dafürhalten ohne Ende, und da es jenseits der Färben, die es zu sein glaubt, nichts kennt, so ist es in Bezug auf sich so gut wie unendlich gross, es ist überall, ist Alles.

Allein in ihrer Ausdehnung, die ihr unendlich gross erscheint, begrenzen sich die verschiedenen Färben wechselweise; sie beschreiben also Figuren. Wird nun die Statue wieder glauben diese Figuren zu sein? Hat sie Vorstellungen von Figuren, sobald sie Farbenempfindungen hat?

»Eine Empfindung schliesst die oder jene Vorstellung ein: folglich haben wir diese Vorstellungen, sobald wir jene Empfindung haben.« Das ist ein Schluss, den schlechte Metaphysiker zu ziehen niemals unterlassen. Allein wir haben nicht alle die Vorstellungen, welche unsere Empfindungen einschliessen. Wir haben nur die, auf welche wir dabei zu achten vermögen. So sehen wir Alle die nämlichen Gegenstände, aber weil wir an ihrer Betrachtung nicht das gleiche Interesse haben, so hat jeder von uns sehr verschiedene Vorstellungen von ihnen. Du bemerkst das, was mir entgeht, und oft, wenn Du genaue Rechenschaft davon geben kannst, habe ich selbst so gut wie nichts gesellen.

Da nun Licht und Färben unter Allem, wodurch die Statue sich kennen lernt und sich selbst geniesst, am stärksten auf die Sinne wirken, so wird sie mehr geneigt sein, ihre Wandlungen daraufhin zu richten, dass sie erhellt und bunt sind, als daraufhin, dass sie Figuren bilden. Weil sie also ganz darein versenkt ist, die Färben nach den unterscheidenden Schattirungen zu beurtheilen, wird sie nicht an die verschiedenen Arten denken, auf welche sie nach unserer Voraussetzung begrenzt sind. Uebrigens ist es für das Auge nicht hinreichend, dass es eine Figur ganz sieht, wenn es sich eine Vorstellung von ihr bilden soll, wie das Sehen einer Farbe ihm genügt, wenn es sie kennen soll. Es fasst die Gesammtheit auch der einfachsten erst[78] auf, wenn es sie zerlegt, d.h. wenn es alle Theile nach einander bemerkt hat. Es braucht ein Urtheil für jeden einzelnen, und ein weiteres Urtheil, um sie zu vereinigen; es muss sich sagen: da ist eine Seite, da eine zweite, da eine dritte, da der Zwischenraum, den sie begrenzen, und aus dem Allen ergiebt sich dieses Dreieck.

Wie also die Augen nur dadurch drei Farben auf einmal zu unterscheiden verstehen, weil sie dieselben erst nach einander betrachtet haben und sie darauf in dem Eindruck, den sie mitsammen machen, bemerken, ebenso werden sie die drei Seiten eines Dreiecks erst dann unterscheiden lernen, wenn sie vorher auf jede einzeln geachtet haben, darauf auf alle zusammen achten und über die Art und Weise urtheilen, wie sie sich vereinigen. Aber das ist ein Urtheil, zu dem die Statue keine Veranlassung haben wird.

Die Figuren, nehmen wir an, sind in den Empfindungen enthalten, die sie an sich erfährt. Allein unsere Erfahrung zeigt uns hinlänglich, dass wir nicht alle die Vorstellungen haben, die unsere Empfindungen mit sich bringen. Unsere Erkenntnisse beschränken sich einzig und allein auf die Vorstellungen, auf die wir zu achten gelernt haben; unsere Bedürfnisse sind die einzige Ursache, die unsere Aufmerksamkeit lieber auf die einen als auf die anderen lenkt, und die, welche eine grössere Anzahl Urtheile erfordern, sind auch die, welche wir zuletzt erlangen. Nun kann ich mir aber nicht denken, welcherlei Bedürfniss unsere Statue nöthigen konnte, alle die Urtheile zu bilden, die zur Erlangung einer Vorstellung selbst von der einfachsten Figur nothwendig sind.

Welcher glückliche Zufall sollte übrigens die Bewegung ihrer Augen so regeln, dass sie dem Umriss derselben[79] folgen? Und wie könnte sie selbst dann, wenn sie ihm folgten, sicher sein, dass sie nicht fortwährend aus einer Figur in eine andere kommt? Woraus konnte sie schliessen, dass drei Seiten, die sie nach einander gesehen hat, ein Dreieck bilden? Es ist viel wahrscheinlicher, dass ihr Gesichtsinn, indem er ganz allein der Einwirkung des Lichts gehorcht, in einem Chaos von Figuren umherirren wird, einem Gemälde mit beweglichen Figuren, dessen Theile ihr nach einander entschwinden.

Zwar bemerken wir die Urtheile nicht, die wir fällen, um das Ganze eines Kreises oder Vierecks aufzufassen, aber wir bemerken diejenigen eben so wenig, in Folge deren wir die Färben ausser uns sehen, und doch wird nachgewiesen werden, dass diese Anschauung die Wirkung gewisser urtheile ist, die uns durch Gewöhnung geläufig geworden sind. Man zeige uns ein sehr zusammengesetztes Gemälde: das Studium, das wir darauf wenden, entzieht sich der Beobachtung nicht; wir nehmen an uns wahr, dass wir die Personen zählen, ihre Stellungen, ihre Züge durchgehen, dass wir über dies Alles eine Reihe Urtheile fällen, und erst nach allen diesen Operationen es mit einem Blick übersehen. Die Augen unserer Statue wären nun genöthigt, wenn sie eine ganze Figur sehen sollen, das zu thun, was die unserigen thun, um ein ganzes Gemälde zu sehen. Wir haben es ohne Zweifel selbst gethan, als wir das erste Mal ein Viereck sehen lernten. Allein heute gestattet uns die Raschheit, mit der wir seine Seiten gewohnheitsmässig durchlaufen, nicht mehr die Reihe unserer Urtheile gewahr zu werden. Man hat allen Grund zu der Annahme, dass unsere Augen, als sie ganz ungeübt waren, ebenso verfahren mussten, um die einfachsten Gegenstände zu sehen, wie sie jetzt verfahren, um zusammengesetztere zu sehen.

9. Wir urtheilen nur deshalb über Lagen, weil wir die Objekte an einem Orte sehen, wo jedes einen bestimmten Raum einnimmt, und nur deshalb über Bewegung, weil wir sie ihre Lage ändern sehen. Nun kann aber die Statue bei den Empfindungen, die sie modifiziren,[80] nichts dergleichen beobachten. Wenn es, wie wir beweisen werden, Sache des Getastes ist, uns in den Farben umschriebene Grössen oder Figuren bemerken zu lassen, so ist es auch seine Sache, uns in den Farben Lagen und Bewegungen bemerken zu lassen. Da die Statue blos eine unklare und unbestimmte Vorstellung von Ausdehnung hat, weil sie jeder Vorstellung von Figur, Ort, Lage und Bewegung entbehrt, so fühlt sie nur, dass sie auf vielerlei Weisen existirt. Wechseln mehrere Objekte ihren Platz, ohne ihren Augen zu verschwinden, so ist sie immer noch dieselben Farben, die sie vorher war. Die einzige Veränderung, die mit ihr vorgehen kann, ist die, dass sie bald die eine, bald die andere mit grösserer Fühlbarkeit ist, je nach den verschiedenen Lagen, welche die Objekte in Folge ihrer Bewegung annehmen; ist sie z.B. zugleich Gelb, Purpurroth und Weiss, so wird sie in einem Augenblick mehr Gelb, in einem andern mehr Purpurroth und in einem dritten mehr Weiss sein. Sie ist alle Farben, die sie sieht; aber sie ist besonders die Farbe, auf die sie achtet.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 68-81.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Abhandlung über die Empfindungen
Abhandlungen über die Empfindungen.

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