III. Wie das Auge die Entfernung, Lage, Figur, Grösse und Bewegung der Körper sehen lernt.

[141] 1. In dem Augenblick, wo wir ihr das Gesicht wiedergeben, ist das Erstaunen unserer Statue wieder zuerst bemerkbar. Allein wahrscheinlich werden die Erfahrungen, die sie mit den Geruchs-, Gehörs- und Tastempfindungen gemacht hat, sie bald auf die Vermuthung bringen, was ihr noch als Daseinsweisen ihrer selbst erscheint, könnten Eigenschaften sein, die sie durch einen neuen Sinn als an den Körpern haftend erkennen werde.

2. Wir haben gesehen, dass sie mit dem Getast allein Grössen, Lagen und Entfernungen mittels zweier Stöcke, deren Länge und Richtung sie nicht kannte, nicht zu beurtheilen vermochte. Nun sind aber für ihre Augen die Strahlen das, was die Stöcke für ihre Hände, und das Auge kann als ein Organ angesehen werden, das gewissermassen unendlich viele Hände besitzt, um unendlich viele[141] Stöcke zu ergreifen. Wäre es für sich allein im Stande, die Länge und Richtung der Strahlen kennen zu lernen, so könnte es, wie die Hand, auf das eine Ende beziehen, was es am andern empfindet, und Grössen, Entfernungen und Lagen beurtheilen. Aber weit entfernt, durch das in ihm erzeugte Gefühl die Länge und Richtung der Strahlen zu er fahren, erfährt es dadurch nicht einmal, ob Strahlen vorhanden sind. Das Auge empfindet ihren Eindruck nur wie die Hand den des ersten Stockes, den sie an einem seiner Enden berührt.

Selbst wenn wir unserer Statue eine vollkommene Kenntniss der Optik zugeständen, so würde sie dadurch nicht gefördert sein. Sie würde wissen, dass im Allgemeinen die Strahlen grössere oder kleinere Winkel je nach der Grösse und Entfernung der Objekte bilden, allein diese Winkel zu messen würde ihr nicht möglich sein. Wenn, wie es wirklich der Fall ist, die Grundsätze der Optik unzureichend sind, das Sehen zu erklären, so sind sie es alsdann erst recht, wenn wir durch sie sehen lernen sollen. Zudem lehrt diese Wissenschaft nichts über die Art, wie man die Augen bewegen muss. Sie setzt nur voraus, dass sie verschiedener Bewegungen fähig sind und ihre Form je nach den Umständen andern müssen.

Das Auge hat also die Mitwirkung des Tastgefühls nöthig, soll es sich in den für das Sehen geeigneten Bewegungen eine Fertigkeit erwerben, soll es sich daran gewöhnen, seine Empfindungen auf den Endpunkt der Strahlen oder ungefähr dahin zu beziehen, und dadurch Entfernungen, Grössen, Lagen und Figuren beurtheilen. Wir haben nun zu erforschen, welche Erfahrungen zu ihrer Belehrung am meisten geeignet sind.

3. Sei es Zufall, sei es durch zu starkes Licht verursachter Schmerz: die Statue legt die Hand auf ihre Augen; augenblicklich verschwinden die Farben. Sie zieht die Hand zurück, und die Farben zeigen sich wieder. Von nun an nimmt sie dieselben nicht mehr für ihre Daseinsweisen. Ihres Bedünkens ist es etwas Ungreifbares, was sie an der Oberfläche ihrer Augen fühlt, wie sie die Dinge, die sie berührt, an den Fingerspitzen fühlt.

Allein, wie wir gesehen haben, ist jede einzelne eine einfache Modifikation, die an sich keine deutliche Vorstellung[142] von Ausdehnung giebt; denn eine derartige Vorstellung wäre die einer gestalteten oder umschriebenen Ausdehnung, folglich eine Vorstellung, welche der auf den Gesichtsinn beschränkten Statue völlig abgeht. Eine Farbe wird also für Augen, die nicht gelernt haben, sie auf alle Theile einer Oberfläche zu beziehen, keine Grössenverhältnisse darstellen; sie werden sich nur in sich selbst modifizirt fühlen und weiter noch nichts sehen.

Allein obwohl die Wärme- und Kälteempfindungen keine Vorstellung von Ausdehnung mit sich bringen, so dehnen sie sich doch nach allen Dimensionen über die Körper aus, auf die wir sie zu beziehen gelernt haben. Gerade so werden sich die Farben über die Dinge ausdehnen: durch den Tastsinn eignen sich die Augen die Gewöhnung an, sie auf eine Oberfläche zu verlegen, wie dieser selbst Wärme oder Kälte dahin verlegt.

4. Weil der Statue die Farben verschwinden, wenn sie die Hand auf die äussere Oberfläche des Sehorgans legt, und ihr wiedergegeben werden, so oft sie die Hand wegzieht, so muss sie dieselben nothwendig so erscheinen oder verschwinden sehen, als wenn sie auf dieser Oberfläche selbst wären, und nun beginnt sie ihnen Ausdehnung zu geben.

Wenn die Körper sich entfernen oder nähern, so urtheilt sie also noch nicht über ihre Entfernung und ihre Bewegung. Sie nimmt nur Farben wahr, die mehr oder weniger sichtbar werden oder ganz verschwinden.[143]

5. Diese helle Fläche ist gleich der äusseren Oberfläche des Auges, ist Alles, was die Statue sieht. Ihre Augen nehmen nichts weiter wahr, sie erkennt also an dieser Fläche keine Grenzen, sondern sieht sie als unermesslich gross.

6. Gewähren wir ihr den Anblick eines grossen Theiles des Horizonts, so wird die Fläche, die sie auf ihren Augen sieht, eine weite Landschaft mit allerlei Farben und Formen einer Unzahl von Dingen darstellen können. Die Statue sieht also diese Dinge alle; sie sieht dieselben, behaupte ich, hat aber keine Vorstellung von ihnen und kann sogar keine haben.

Dieser Satz wird denen ohne Zweifel paradox er scheinen, die wissen wollen, das Gesicht allein gehe uns, unabhängig vom Tasten, die. Vorstellung der Ausdehnung, weil Ausdehnung das nothwendige Objekt des Sehens sei, und wegen der Verschiedenheit der Farben müssten wir nothwendig die Grenzen oder Trennungslinien, welche zwei Farben gegen einander abgrenzen, bemerken und folglich eine Vorstellung von Gestalt erlangen.

Gewiss ist, dass wir selbst das Alles bemerken, und ich gebe zu, dass die Statue Alles sieht, was wir bemerken, und noch mehr. Allein ist sie, wenn sie nicht vom Tastsinn gelernt hat, ihren Augen Richtung zu geben, im Stande, diese Dinge so wie wir zu bemerken? Und hat sie Vorstellungen von ihnen, wenn sie dieselben nicht bemerkt?

Es genügt nicht, nach Locke zu wiederholen, dass alle unsere Erkenntnisse aus den Sinnen stammen; wenn ich nicht weiss, wie sie daraus stammen, so werde ich glauben, dass wir sogleich alle Vorstellungen, die unsere[144] Empfindungen in sich schliessen können, haben, wenn die Dinge Eindrucke auf uns machen, und werde irre gehen. So ist mir's gegangen und geht noch allen Denen so, die über diese Frage schreiben. Man scheint nicht zu wissen, dass zwischen sehen und anschauen ein Unterschied ist; und doch bilden wir uns nicht gleich Vorstellungen, wenn wir sehen, sondern nur dann, wenn wir nach einer bestimmten Ordnung und Methode anschauen. Mit einem Worte: unsere Augen müssen analysiren; denn sie werden von einer Figur, sei sie auch noch so wenig zusammengesetzt, das Gesammtbild nicht auffassen, wenn sie nicht alle ihre Theile gesondert nach einander und in der Ordnung, wie sie auf einander folgen, beobachtet haben. Können nun die Augen der Statue analysiren, so lange sie noch die Farben nur in sich selbst oder höchstens auf ihrem Augapfel sehen? Darum handelt sich's eigentlich nur bei dieser Frage. Ich bin überzeugt, ein Mathematiker, dem man sie vorlegt, indem man sich, wie ich, des Ausdrucks »analysiren« bedient, würde unbedenklich antworten, dass die Augen der Statue nicht analysiren; denn er erinnert sich, wie schwer es ihm selbst geworden, die Analyse zu erlernen. Wollte man sie ihm aber mit dem Ausdruck »anschauen« vorlegen, was im Grunde nichts an der Sache ändert, so würde er, glaube ich, ebenso unbedenklich antworten: ihre Augen schauen an, weil sie sehen.

Sicherlich wird er diese Antwort geben, wenn er denkt, dass die Augen allein, unabhängig vom Tastsinn, uns Figurvorstellungen geben, sobald sie Farben sehen. Allein wie vermögen Augen, deren Sehen sich nicht über den Augapfel hinaus erstreckt, »anzuschauen«? Denn kurz, wenn sie anschauen sollen, so müssen sie verstehen, sich auf ein einzelnes der Objekte, die sie sehen, zu richten, und sollen sie sich eine Vorstellung von der Figur dieses Objektes machen, so müssen sie, so wenig zusammengesetzt es auch sein mag, sich auf jeden seiner Theile nach der Reihe und in der Ordnung, wie sie auf einander folgen, zu richten verstellen. Aber wie sollen sie im Anschluss an eine Reihenfolge, die sie nicht kennen, ihre Richtung nehmen? Ja, wie sollen sie sich auf irgend etwas richten? Setzt nicht diese ihre Thätigkeit einen Raum voraus, in welchem sie die Objekte[145] in verschiedenen Abständen von ihrem Augapfel und in verschiedenen Abständen unter einander aufnehmen müssten, einen Raum, den sie noch nicht kennen? Ich werde also nicht sagen, wie man gemeiniglich sagt und ich selbst bisher, sehr wenig genau, gesagt habe: unsere Augen müssten das Sehen erst erlernen; denn sie sehen nothwendig Alles, was Eindruck auf uns macht, sondern weil das Sehen zur Bildung von Vorstellungen nicht ausreicht, so werde ich sagen, dass sie das Anschauen erst erlernen müssen.

Von der Verschiedenheit dieser beiden Worte hing die Fragestellung ab. Warum entgeht nun diese Verschiedenheit, die den kleinsten Grammatikschülern nicht entgeht, den Philosophen? Wir stellen die Frage falsch, verstehen sie nicht zu stellen, und maassen uns doch an, sie zu lösen.20 Ich habe mich eben selbst auf der That ertappt und gestehe, dass ich mich oft dabei ertappt habe, Andere aber noch öfter.

So ist nun schliesslich die Frage, so schwer es uns auch geworden sein mag, auf eine sehr einfache zurückgeführt, und bewiesen, dass die Augen der Statue das Anschauen erst erlernen müssen. Wir wollen sehen, wie der Tastsinn sie unterweist.

7. Aus Wissbegier oder Unruhe hält die Statue die Hand vor ihre Augen; sie entfernt sie, nähert sie, und die Oberfläche, die sie sieht, wird dadurch heller oder dunkler. Alsbald urtheilt sie, die Bewegung ihrer Hand sei die Ursache dieser Veränderungen, und da sie weiss, dass sie dieselbe in einer gewissen Entfernung bewegt, so muthmaasst sie, dass ihr diese Fläche nicht so nahe sei, als sie geglaubt hat.

8. Darauf möge sie einen Körper berühren, den sie vor Augen hat, so wird sie, wenn sie ihn mit der Hand bedeckt, an die Stelle der einen Farbe eine andere setzen,[146] und wenn sie die Hand wegzieht, wird die erste Farbe wieder zum Vorschein kommen. Ihre Hand scheint ihr also in einer gewissen Entfernung zu bewirken, dass diese zwei Farben auf einander folgen.

Ein andermal streicht sie mit ihr über eine Fläche, und da sie eine Farbe sieht, die sich über eine andere hinbewegt, deren Theile abwechselnd zum Vorschein kommen und verschwinden, so urtheilt sie, dass an jenem Körper die unbewegliche und an ihrer Hand die sich bewegende Farbe sei. Dieses Urtheil wird ihr geläufig, und sie sieht die Farben sich von ihren Augen entfernen und auf ihre Hand und die Dinge legen, die sie berührt.

9. Ueber diese Entdeckung erstaunt, sucht sie umher, ob sich nicht Alles, was sie sieht, berühren lässt. Ihre Hand trifft einen Körper mit einer neuen Farbe, ihr Auge nimmt eine andere Fläche wahr, und gleiche Erfahrungen veranlassen sie zu gleichen Urtheilen.

Begierig zu erforschen, ob es mit allen Empfindungen dieser Art ebenso sei, legt sie die Hand auf Alles, was sie umgiebt, und indem sie einen Körper mit mehreren Farben berührt, eignet sich ihr Auge die Fertigkeit an, diese auf einer Oberfläche, die sie für entfernt hält, zu unterscheiden.

Ohne Zweifel ist es eine Reihe sehr angenehmer Gefühle für sie, ihre Augen in diesem Chaos von Licht und Farben sich zurechtfinden zu lassen. Vom Lustgefühl getrieben, wird sie nicht müde, dieselben Versuche von vorn anzufangen und neue zu machen. Allmählich gewöhnt sie ihre Augen daran, sich auf die von ihr berührten Gegenstände zu heften. Sie erlangen eine Fertigkeit in gewissen Bewegungen, und bald durchdringen sie gleichsam eine Wolke, um in der Ferne Dinge zu sehen, welche die Hand ergreift, und über die sie Licht und Farben zu verbreiten scheint.

10. Indem sie ihre Hand abwechselnd von ihren Augen auf die Körper und von den Körpern auf die Augen legt, misst sie die Entfernungen. Darauf bringt sie die nämlichen Körper einander näher und ferner, studirt die verschiedenen Eindrücke, die ihr Auge jedesmal empfängt, und wenn sie sich daran gewöhnt hat, diese Eindrücke mit den durch das Getast bekannten Entfernungen zu verknüpfen, so sieht sie die Dinge bald näher, bald ferner,[147] weil sie dieselben dort sieht, wo sie von ihr gefühlt werden.

11. Wenn sie zum ersten Mal ihren Blick auf eine Kugel richtet, so stellt der Eindruck, den sie von ihr empfängt, nur eine aus Schatten und Licht gemischte Kreisfläche dar. Sie sieht mithin noch keine Kugel; denn ihr Auge hat nicht gelernt, auf einer Fläche, wo Schatten und Licht in einem gewissen Verhältniss vertheilt sind, Erhöhungen anzunehmen. Allein sie betastet, und weil sie mit dem Gesichtsinn dieselben Urtheile fällen lernt, wie mit dem Getagt, so nimmt jener Körper unter ihren Augen die Erhabenheit an, die er unter ihren Händen hat.

Sie wiederholt diesen Versuch und fällt wieder das nämliche Urtheil. Dadurch verknüpft sie die Vorstellungen der Rundung und Wölbung mit dem Eindruck, den eine gewisse Mischung von Schatten und Licht auf sie macht. Weiterhin versucht sie, eine Kugel zu beurtheilen, die sie noch nicht befühlt hat. Anfänglich geräth sie dabei ohne Zweifel manchmal in Verlegenheit; allein das Tastgefühl hebt die Unsicherheit, und in Folge ihrer Gewöhnung an das Urtheil, dass sie eine Kugel sieht, bildet sie dieses Urtheil so rasch und sicher und verknüpft die Vorstellung von dieser Figur so fest mit einer Oberfläche, wo Schatten und Licht in einem gewissen Verhältniss stehen, dass sie am Ende jedesmal nur noch das sieht, was sie, wie sie sich oft genug gesagt hat, sehen soll.

12. Ebenso wird sie einen Würfel sehen lernen, wenn ihre Augen genau auf die Eindrücke achten, die sie in dem Augenblicke, wo die Hand die Winkel und Flächen dieser Figur fühlt, empfangen, und sie sich dadurch die Fertigkeit aneignet, an den verschiedenen Lichtstärken eben diese Winkel und Flächen zu erkennen, und dann erst wird sie eine Kugel von einem Würfel unterscheiden.

13. Das Auge bringt es also nur deshalb dahin, eine Figur deutlich zu sehen, weil es von der Hand lernt, das Gesammtbild derselben aufzufassen. Sie muss dadurch, dass sie es auf die verschiedenen Theil eines Körpers richtet, seine Aufmerksamkeit zunächst einem, dann zweien, nach und nach einer grösseren Anzahl und gleichzeitig den verschiedenen Lichteindrücken zuwenden. Wenn es nicht jeden Theil gesondert erforschte, so würde es[148] nie die ganze Figur sehen, und wenn es nicht auf die Mannichfaltigkeit genau achtete, mit der das Licht auf es wirkt, so würde es nur ebene Flächen sehen. Mithin gelingt es der Statue nur deshalb, so Vieles auf einmal zu sehen, weil sie sich, nachdem sie es einzeln bemerkt hat, in einem Augenblicke aller Urtheile erinnert, die sie nach einander gefällt.

14. Unsere Erfahrung kann uns davon überzeugen, wie nothwendig das Gedächtniss ist, wenn es uns gelingen soll, das Gesammtbild eines vielfach zusammengesetzten Gegenstandes aufzufassen. Beim ersten Blick, den man auf ein Gemälde wirft, sieht man es sehr unvollkommen; allein man besieht eine Figur nach der andern und betrachtet die einzelne nicht einmal ganz. Je schärfer man sie ins Auge fasst, desto mehr beschränkt sich die Aufmerksamkeit auf einen ihrer Theile; man nimmt z.B. nur den Mund wahr.

Dadurch erlangen wir eine Fertigkeit darin, rasch alle Einzelheiten des Gemäldes zu übersehen, und sehen es ganz, weil das Gedächtniss uns alle Urtheile, die wir nach einander gefällt haben, auf einmal vorführt.

Aber auch für uns gilt das nur in engen Grenzen; trete ich z.B. in eine grosse Gesellschaft, so habe ich von ihr zunächst nur eine unbestimmte Vorstellung der Vielheit. Dass ich inmitten von zehn oder zwölf Personen bin, weiss ich erst, nachdem ich sie gezählt habe, d.h. nachdem ich sie eine nach der andern mit einer Langsamkeit durchgegangen habe, an der ich die Zeitfolge meiner Urtheile bemerke. Wären es nur drei gewesen, so würde ich sie nicht minder durchgegangen haben, aber mit einer Raschheit, dass ich es unmöglich hätte gewahr werden können.

Wenn unsere Augen eine Vielheit von Dingen nur mit Hülfe des Gedächtnisses überblicken, so werden die unserer Statue dieselbe Hülfe nöthig haben, wenn sie das Gesammtbild der einfachsten Figur auffassen sollen. Denn da sie nicht geübt sind, so ist diese Figur für sie noch zu sehr zusammengesetzt. Die Statue wird also die Vorstellung eines Dreiecks erst dann haben, nachdem sie es analysirt hat.

15. Die Hand ist's, welche dem Blick der Reihe nach die Richtung auf die verschiedenen Theile einer Figur giebt und[149] sie dadurch alle dem Gedächtnisse einprägt; sie ist es, die so zu sagen den Pinsel führt, wenn die Augen anfangen, Licht und Farben nach aussen zu verlegen, die sie anfänglich in sich selbst empfunden haben. Sie nehmen sie dort wahr, wo sie nach der Angabe des Tastsinnes sein müssen, sehen oben, was er sie als oben befindlich, unten, was er sie als unten befindlich erkennen lässt, kurz, sie sehen die Dinge in derselben Lage, wie das Getast sie darstellt.

Dass das Bild verkehrt ist, bildet dabei kein Hinderniss, weil es für sie, so lange sie nicht unterwiesen worden sind, eigentlich kein Oben und Unten giebt. Der Tastsinn, der allein derartige Beziehungen entdecken kann, kann sie auch allein lehren, dieselben zu beurtheilen.

Da sie übrigens nur darum nach aussen sehen, weil sie die Farben auf die von der Hand berührten Dinge beziehen, so müssen sie sich nothwendig darein fügen, über die Lagen dieselben Urtheile wie der Tastsinn zu fallen.

16. Jedes von beiden richtet sich auf das Objekt, nach dem die Hand greift, jedes bezieht die Farben auf dieselbe Entfernung, auf denselben Ort, und wie die Umkehrung des Bildes sie nicht hindert, ein Ding in seiner wahren Luge zu sehen, so hindert das nämliche Bild, obwohl es doppelt ist, sie doch nicht, es einfach zu sehen. Die Hand zwingt sie, nach dem zu urtheilen, was sie an sich selbst empfindet. Dadurch, dass diese sie nöthigt, die Empfindungen, die sie in sich verspüren, nach Aussen zu verlegen, bewirkt sie, dass jedes sie auf das eine Ding bezieht,[150] das sie berührt, und sogar bloss auf die Stelle, wo sie es berührt. Es ist also nicht naturgemäss, dass sie es doppelt sehen.

17. Auf gleichem Wege lernen sie von ihr Grössen augenblicklich beurtheilen. Sobald sie bewirkt, dass sie an dem, was sie berührt, Farben sehen, lernen sie von ihr jede einzelne über alle Theile, von welchen sie ihnen zugesendet wird, auszubreiten; sie zeichnet vor ihnen eine Fläche, deren Grenzen sie hervorhebt.

Mag sie demnach ein Ding nähern oder entfernen, so erscheint es ihnen in der nämlichen Grösse, obgleich das Bild alsdann grösser oder kleiner wird, gleichwie es ihnen einfach und in seiner Lage erscheint, obwohl das Bild doppelt und verkehrt ist.

18. Endlich zeigt sie ihnen die Bewegung der Körper, weil sie von ihr daran gewöhnt werden, den Dingen zu folgen, die sie von einem Punkte des Raumes zum andern bewegt.

19. Bisher hat die Statue nur die Dinge durch Beschauen erforscht, die ihrer Hand erreichbar sind, denn damit muss sie nothwendig anfangen. Sie hat also noch nicht gelernt, weiter zu sehen und sieht sich wie in einen engen Raum eingeschlossen. Zwar hat sie durch Fortbewegung ihres Körpers erfahren, dass der Raum viel grösser sein muss; sie kann sich jedoch nicht denken, wie er ihren Augen so erscheinen könne. Vergeblich würde sie sich sagen: es giebt Ausdehnung über die hinaus, welche ich sehe; durch ein derartiges Urtheil kann sie ihr nicht sichtbar werden. Wie sie nur darum so weit sieht, als die Hand reicht, weil sie die Dinge in diesem Raume wiederholt zugleich gesehen und befühlt und dadurch die Tasturtheile mit den Lichtempfindungen so fest verknüpft hat, dass Sehen und Urtheilen gleichzeitig vor sich gehen und zusammenfliessen, so wird sie erst dann weiter sehen, wenn in Folge neuer Erfahrungen Urtheile über andere Entfernungen mit eben diesen Empfindungen zusammenfliessen.

Sie nimmt also einen Raum wahr, der sich ungefähr zwei Fuss um sie her erstreckt. Ihr durch das Getast belehrtes Auge misst die Theile desselben, bestimmt die[151] Gestalt und Grösse der in ihm enthaltenen Dinge, giebt ihnen ihren Platz in verschiedenen Entfernungen, urtheilt über ihre Lage, ihre Bewegung und Ruhe.

20. Was die entfernteren betrifft, so sieht sie dieselben alle am äussersten Ende jener Einkreisung, die ihren Blick begrenzt. Sie nimmt sie wie auf einer hellen, konkaven und unbeweglichen Fläche wahr; sie erscheinen ihr in Figuren, weil die Erfahrungen, welche sie mit den ihrer Hand erreichbaren gemacht hat, genügen, um diese Wirkung zu erzeugen. Bewegen sie sich horizontal, so sieht sie dieselben von einem Theile der Fläche zum andern gehen; rücken sie ihr näher oder ferner, so sieht sie nur, wie sie in sehr bemerklicher Weise grösser oder kleiner werden. Sie urtheilt jedoch nicht über ihre wahre Grösse; denn sie hat nur dadurch die in dem engen, ihr einzig sichtbaren Raum enthaltenen Dinge mit dem Gesichtsinn erkennen gelernt, dass das Getast sie gelehrt hat, verschiedene Grössenvorstellungen mit verschiedenen, ihren Augen zu Theil gewordenen Eindrücken zu verknüpfen. Diese Eindrücke andern sich nun nach Maassgabe der Entfernungen, da ja die Netzhautbilder in demselben Verhältniss kleiner oder grösser werden. Hat sie also noch keine Erfahrung in der Verknüpfung dieser Eindrücke mit den Grössen, die einige Schritte von ihr sind, so kann sie die entfernten Dinge nur nach den Gewöhnungen beurtheilen, die sie sich angeeignet hat. Der durch kleine Bilder verursachte Eindruck muss folglich bewirken, dass sie ihr klein erscheinen, und der durch grosse Bilder verursachte, dass sie ihr gross erscheinen; denn so urtheilt sie über die, welche das Getast ihren Augen erreichbar gemacht hat. Die Verknüpfungen, die sie vorgenommen, um mit dem Gesichtsinn Grössen zu beurtheilen, welche einen oder zwei Fuss weit sind, reichen nicht aus, wenn sie solche beurtheilen will, die weiter sind. Sie können sie dabei nur irreleiten.

Jene Fläche, die ihren Gesichtskreis begrenzt, ist genau dieselbe Erscheinung, wie das Himmelsgewölbe, an dem alle Gestirne angeheftet erscheinen, und das von allen Seiten auf die äussersten Enden der Fluren, zu denen der Blick schweifen kann, herabzureichen scheint. Dieselbe kommt ihr unbewegt vor, so lange sie selbst so ist; ändert sie ihren Platz, so kommt es ihr vor, als weiche diese[152] vor ihr zurück, oder als komme sie ihr nach. Ebenso scheint sich uns der Himmel am Horizonte zu bewegen.

21. Sie streckt jedoch die Arme aus, um das zu greifen, was sie sieht. Sie ist überrascht, dass sie nichts berührt, und geht vorwärts. Endlich trifft sie einen Körper an; sofort setzen sich die Urtheile des Gesichts mit denen des Getastes in Einklang. Einen Augenblick später geht sie zurück; zunächst scheint ihr das Objekt deshalb nicht weiter von ihr zu sein. Allein wenn sie versucht hat, es mit der Hand zu erreichen und es nicht hat erreichen können, so geht sie wieder darauf zu, und gewöhnt sich, nachdem sie ihm wiederholt näher und ferner gestanden, allmählich daran, es ausser dem Bereiche der Hand zu sehen.

Die Bewegung, durch welche sie sich von ihm entfernt hat, giebt ihr eine ungefähre Vorstellung von dem Raume, den sie zwischen sich und ihm lässt. Sie weiss, wie gross es war, als sie es berührte, und wenn das Getast sie gelehrt hat, es auf zwei Fuss in einer gewissen Grösse zu sehen, so lehrt sie die Erinnerung, die sie von dieser Grösse behält, sie ihm auch in einer weitem Entfernung zu belassen.

Alsdann kann sie mit dem Gesicht beurtheilen, ob es sich entfernt oder nähert oder in irgend einer andern Richtung bewegt; denn sie sieht seine Bewegungen an den Veränderungen, die mit den ihren Augen zukommenden Eindrücken vorgehn. Zwar sind diese Veränderungen dieselben, mag sie nun hingehen oder mag jenes herkommen, mag sie vor ihm in einer gewissen Richtung vorübergehen oder jenes vor ihr in der entgegengesetzten; jedoch das Gefühl, das sie von ihrer eignen Bewegung oder ihrer eignen Ruhe behält, bewahrt sie vor Irrthum.

Sie gewöhnt sich also daran, mit den verschiedenen Lichteindrücken verschiedene Vorstellungen von Entfernung Grösse und Bewegung zu verknüpfen. Sie weiss zwar nicht, dass die Bilder, die sich auf dem Hintergrunde des Auges abzeichnen, im Verhältniss zu den Entfernungen, kleiner werden; sie weiss nicht einmal, ob es solche Bilder giebt; allein sie erleidet verschiedene Empfindungen, und da die Urtheile, in denen sie sich eine den Umständen entsprechende Fertigkeit erwirbt, mit diesen Empfindungen zusammenfliessen, so empfindet sie Licht[153] und Farben nicht mehr in den Augen, sondern am andern Endpunkte der Strahlen, wie sie die Festigkeit, Flüssigkeit etc. am Ende des Stockes fühlt, mit dem sie die Körper berührt.

Je mehr demnach ihre Augen sich in ihren Urtheilen nach den Unterweisungen des Tastsinnes richten, desto mehr Tiefe scheint ihnen der Raum zu gewinnen. Sie nimmt Licht und Farben wahr, die sich über die Dinge verbreiten und dadurch deren Grösse, deren Gestalt hervorheben, ihre Bewegung im Raume andeuten; kurz, sie werden von ihr da gesehen, wo sie nach ihrem Urtheile sein müssen.

22. Welche Erinnerung sie jedoch von der Grösse eines Dinges auch haben mag, so kann sie doch nicht hindern, dass es für ihre Augen in dem Maasse kleiner wird, als es sich von ihr entfernt. Der Grund dieser Erscheinung ist folgender.

Ein Objekt ist nur dann sichtbar, wenn der Winkel, der die Ausdehnung seines Abbildes auf der Netzhaut bestimmt, eine gewisse Grösse hat. Ich nehme an, er müsse wenigstens eine Minute haben; doch geschieht das nur, um unseren Vorstellungen einen Anhalt zu geben, denn die Sache muss sich je nach den Augen andern.

Bei dieser Annahme begreift man leicht, dass ein in einer gewissen Entfernung deutlich gesehenes Objekt sich nicht entfernen kann, ohne dass die Winkel, unter welchen die kleinsten Theilchen sichtbar wurden, noch kleiner werden und dass mehrere unter einer Minute dabei sind. Bei einigen müssen sich die Seiten einander sogar so weit nähern, dass sie in eine und dieselbe Linie fallen. Aus mehreren Winkeln wird sich mithin einer bilden, dessen Seiten abermals zusammenfallen, wenn sich das Objekt weiter entfernt. Es werden also Theile da sein, die sich auf der Netzhaut nicht mehr abzeichnen. Diese drängen sich zu denen, die sich noch abbilden, durchdringen sie, fliessen mit ihnen zusammen, und die äussersten Enden des Objekts rücken aneinander. Der Kopf eines Men schen z.B. wird ein Bild ohne deutliche Züge geben.

Nun lehrt aber der Tastsinn nur dadurch das Auge, die Dinge in ihrer wahren Grösse zu sehen, dass er es lehrt, ihre Theile zu unterscheiden und sie neben einander wahrzunehmen.[154] Dies kann es nur dann, wenn sie auf der Netzhaut deutlich abgezeichnet sind; denn die Augen können es nicht dahin bringen, in ihren Empfindungen etwas zu bemerken, was nicht darin ist. Sie müssen ein Ding also für zusammengedrängter und kleiner halten, wenn es in einer Entfernung ist, wo eine Menge Züge seines Bildes zusammenfliessen. In welcher Entfernung demnach ein Ding auch sein mag, so erscheint es immerfort in der nämlichen Grösse, so lange die Verkleinerung der Winkel das Bild, das sich auf der Netzhaut malt, nicht merklich ändert, und weil diese Aenderung in unmerklichen Abstufungen vor sich geht, so scheint ein sich entfernendes Ding unmerklich kleiner zu werden.

23. Nicht allein die Dinge, welche die Statue nicht mehr berührt, erkennen ihre Augen, sondern auch solche, die sie gar nicht berührt hat, vorausgesetzt, dass sie von ihnen gleiche oder ähnliche Empfindungen erhalten; denn hat das Tastgefühl einmal verschiedene Urtheile mit verschiedenen Lichteindrücken verknüpft, so können sich diese Eindrücke nicht wiedererzeugen, ohne dass die Urtheile sich wiederholen und mit ihnen zusammenfliessen. Somit gewöhnt sie sich nach und nach daran, ohne Hülfe des Tastsinns zu sehen.

24. Die Erfahrungen, durch welche sie die Entfernung, Grösse und Gestalt eines Körpers sehen gelernt hat, werden jedoch nicht immer hinreichen, sie die Entfernung, Grösse und Gestalt eines jeden anderen sehen zu lehren. Sie muss so viele Beobachtungen machen, als es Dinge giebt, welche das Licht auf verschiedene Weise zurückwerfen; sie muss ihre Beobachtungen sogar bei jedem Dinge je nach den verschiedenen Graden der Entfernung vervielfältigen, und trotz aller dieser Vorsichtsmaassregeln wird sie sich noch oft über die Grössen, Entfernungen und Gestalten täuschen.

Erst nach langen Studien wird sie demnach allmählich in den Urtheilen ihres Gesichtsinnes sicherer werden; allein es wird ihr unmöglich sein , allen und jeden Irrthum zu vermeiden; oft wird sie gerade durch die Erfahrungen, auf welche sie sich zunächst verlassen zu müssen glaubt, getäuscht werden. Ist sie z.B. daran gewöhnt, die Vorstellung der Nähe mit der Helligkeit des Lichtes und die Vorstellung der Entfernung mit seiner Dunkelheit zu verknüpfen,[155] so werden ihr helle Körper manchmal näher scheinen, als sie sind, und wenig erhellte Körper dagegen ferner.

25. Ihre Augen können gelegentlich sogar mit dem Tastsinn in solchen Zwiespalt gerathen, dass sie nicht mehr in Uebereinstimmung mit ihm die gleichen Urtheile fällen können. Sie werden z.B. auf einem gemalten Relief da eine Wölbung sehen, wo die Hand nur eine ebene Fläche wahrnimmt. Ohne Zweifel weiss sie, über diese neue Erscheinung erstaunt, nicht, welchem dieser beiden Sinne sie glauben soll. Umsonst berichtigt das Tastgefühl den Irrthum des Gesichts; die Augen, die daran gewöhnt sind, für sich selbst zu urtheilen, fragen ihren Lehrer nicht mehr um Rath. Nachdem sie von ihm auf eine bestimmte Weise sehen gelernt haben, können sie nicht mehr lernen, anders zu sehen.

Wirklich haben sie sich eine Gewöhnung angeeignet, die ihnen nicht genommen werden kann, weil die Urtheile, welche sie an einem bestimmten Eindruck von Schatten und Licht eine Wölbung erkennen lassen, ihnen zur andern Natur geworden; denn nachdem sie sehr häufig gefällt worden sind, erneuern sie sich rasch und verschmelzen mit der Empfindung, so oft der nämliche Eindruck von Schatten und Licht stattfindet.

Wenn man die Dinge so anordnete, dass unter den Objekten, die unsere Statue zu berühren Gelegenheit hat, eben so viele auf ebenen Flächen gemalte Reliefs als wirklich gewölbte Körper sind, so würde sie in grosse Verlegenheit kommen, sollte sie die mit Wölbung von denen ohne Wölbung mittels des Gesichts unterscheiden. Sie würde dabei so oft irren, dass sie nicht mehr auf ihre Augen sich zu berufen wagen, sondern nur noch dem Tastsinn glauben würde.

Ein Spiegel würde diese beiden Sinne ebenfalls in Zwiespalt bringen. Die Statue würde nicht zweifeln, dass ein grosser Raum dahinter sei, würde sehr erstaunt sein, durch einen festen Körper aufgehalten zu werden, und nicht minder, wenn sie allmählich die Dinge wiedererkennt, die er wiedergiebt. Sie kann sich nicht denken, wie sie sich für das Gesicht verdoppeln, und weiss nicht, ob sie sich nicht etwa auch für das Tastgefühl verdoppeln können.[156]

26. Der Gesichtsinn wird nicht allein mit dem Tastsinn in Zwiespalt gerathen, sondern auch mit sich selbst. Die Statue urtheilt z.B., ein Thurm sei rund und sehr klein, wenn er in einer bestimmten Entfernung ist. Sie nähert sich und sieht Winkel hervortreten, sieht ihn vor ihren Augen grösser werden. Irrt sie oder hat sie geirrt? Das wird sie erst wissen, wenn sie den Thurm im Bereiche ihres Tastsinnes hat. So kann das Tastgefühl, welches allein die Augen unterwiesen hat, ihr auch allein zeigen, in welchen Fällen man sich auf deren Zeugniss verlassen kann.

27. Allein wenn die Statue dieser Unterstützung entbehrt, so wird sie alle Kenntnisse, die sie erworben hat, zu Hülfe nehmen. Das eine Mal beurtheilt sie die Entfernung nach der Grösse. Erscheint ein Objekt ihrem Gesichtsinn eben so gross, als dem Tastsinn, so sieht sie es nahe; erscheint es ihr kleiner, so sieht sie es fern. Denn sie hat bemerkt, dass die scheinbaren Grössen sich je nach den Entfernungen andern.

28. In anderen Fällen bestimmt sie die Entfernungen nach dem Deutlichkeitsgrade der Figuren, die sich ihren Augen darbieten. Da sie oft beobachtet hat, dass sie die entfernten Dinge verschwommener und die nahen deutlicher sieht, so verknüpft sie die Vorstellung der Entfernung mit dem verschwommenen, und die Vorstellung der Nähe mit dem deutlichen Sehen einer Figur. Sie nimmt also die Gewöhnung an, ein Ding weit entfernt zu sehen, wenn sie es nicht sehr deutlich sieht, und es nahe zu sehen, wenn sie seine Theile besser unterscheiden kann.

29. Wenn sie alsdann die Grösse nach der Entfernung beurtheilt, wie in andern Fällen die Entfernung nach der Grösse, so sieht ihr das grösser aus, was sie für weiter entfernt hält. Zwei Bäume z.B., die ihr Bilder von gleicher Ausdehnung zusenden, werden ihr weder gleich gross, noch in derselben Entfernung erscheinen, wenn sich der eine verschwommener als der andere malt. Der wird ihr grösser und entfernter aussehen, an dem sie weniger Dinge erkennt Ferner wird eine Fliege als ein Vogel in der Ferne erscheinen, wenn sie geschwind vor ihren Augen vorbeifliegt und darum nur ein verschwommenes,[157] dem eines entfernten Vogels ähnliches Bild wahrnehmen lässt.

Diese Sätze kennt Jedermann und die Malerei bestätigt sie. Ein Pferd, das auf der Leinwand denselben Raum einnimmt, als ein Schaf, wird grösser und im Hintergrunde erscheinen, vorausgesetzt, dass es verschwommener gemalt ist.

So stehen sich die zunächst durch den Tastsinn erworbenen Vorstellungen der Entfernung, Grösse und Gestalt in der Folge einander bei, um die Urtheile des Gesichts sicherer zu machen.

30. Da unsere Statue den Raum vor ihren Augen an Tiefe zunehmen sieht, so hat sie ein weiteres Mittel, die Entfernungen und folglich auch die Grössen genauer kennen zu lernen: sie richtet den Blick auf die Dinge, welche zwischen ihr und dem ins Auge gefassten sind. Es sieht weiter und grösser aus, wenn sie durch Felder, Wälder, Flüsse von ihm getrennt ist. Denn da ihr die Ausdehnung der Felder, Wälder und Flüsse bekannt ist, so ist das ein Maassstab, der angiebt, wie weit sie davon entfernt ist. Verbirgt ihr jedoch eine Erhöhung die dazwischen liegenden Dinge, so wird sie seine Entfernung nur dann beurtheilen können, wenn sie irgend ein Umstand an seine Grösse erinnert. Ein unbewegliches Pferd z.B. kann ihr ziemlich klein und nahe erscheinen. Es bewegt sich, sie erkennt es an seinen Bewegungen wieder, urtheilt sofort, dass es seine gewöhnliche Grösse habe und nimmt es als entfernt wahr.

Sie hält es darum zunächst für ziemlich klein und nahe, weil ihr kein dazwischen liegendes Objekt seine Entfernung zeigt und sie durch keinen Umstand erfährt, was es sein könne. Allein sobald sie es an der Bewegung wiedererkennt, sieht sie es ungefähr in der Grösse, die, wie sie weiss, diesem Thiere zukommt, und sieht es darum weit von sich, weil sie urtheilt, Entfernung sei die einzige Ursache, die es ihren Augen so verschwommen habe darstellen können.

31. Mit jenen Hülfsmitteln erkennt sie also die Entfernungen recht gut durch das Auge; es gelingt ihr jedoch nicht, sobald sie von ihnen im Stiche gelassen wird, und ihr Blick verengert sich, wo sie keine dazwischen liegenden Dinge mehr sieht und nur Körper wahrnimmt, deren[158] Grösse die durch das Tastgefühl nicht erfahren hat. Der Himmel scheint ihr ein Gewölbe zu bilden, das sich nicht über die Gebirge erhebt und sich nicht über die Fluren hinaus erstreckt, die ihr Auge überschaut. Zeige ihr andere Dinge über diesen Bergen und hinter diesen Fluren, so wird jenes Gewölbe grössere Höhe und Ausdehnung bekommen. Aber es würde eine noch geringere haben, wollte man annehmen, dass die Berge weniger hoch und die Fluren in engere Grenzen eingeschlossen seien. Der Gipfel eines Baumes würde ihr den Himmel zu berühren scheinen.

Diese Erscheinung ist also, wie gesagt, die nämliche, wie die, welche ihren Gesichtskreis auf zwei Fuss von ihr einengte, und weil ihr die Gestirne, in Ermangelung eines Anhaltes zur Beurtheilung ihrer Entfernung, alle gleich weit entfernt erscheinen, so ist das ein Beweis dafür, dass bei der oben von uns aufgestellten Annahme ihr alle Dinge erreichbar scheinen mussten.

32. Ist sie jedoch mit den Grössen vertraut geworden, so vergleicht sie dieselben und diese Vergleichung beeinflusst die Urtheile, die sie über sie fällt. Anfänglich hält sie ein Ding weder für an sich gross, noch für an sich klein, sondern beurtheilt es mit Bezug auf Grössen, die, weil sie mit ihnen mehr vertraut ist, für sie den Maassstab zu allen andern abgeben. Sie sieht z.B. Alles gross, was über, und Alles klein, was unter ihrer Grösse ist. Diese Vergleiche vollziehen sich späterhin so schnell, dass sie von ihr nicht mehr bemerkt werden, und von nun an werden Grösse und Kleinheit selbständige Vorstellungen für sie. Eine zwanzig Fuss hohe Pyramide, die sie neben einer von zehn Fuss an und für sich gross gefunden hat, wird sie neben einer vierzig Fuss hohen für an und für sich klein halten und wird nicht auf den Gedanken kommen, dass sie die nämliche sei.

Uebrigens ist es zu diesen Versuchen nicht nothwendig, dass die Dinge von einerlei Art sind, wenn nur das Auge Gelegenheit hat, Grösse mit Grösse zu vergleichen.[159] Darum werden ihr in einer weiten Ebene die nämlichen Gegenstände kleiner erscheinen, als in einer von Hügeln durchzogenen Landschaft.

Diese Art, die Grössen zu vergleichen, ist ebenfalls ein Umstand, der dazu beiträgt, dieselben für das Auge, je nachdem sie entfernter und besonders auch höher sind, zu verkleinern. Denn das Auge kann einem Objekte, das vor ihm zurückweicht oder in die Luft ragt, nicht folgen, ohne es mit einem um so grössern Raume zu vergleichen, je grösser die Entfernung ist, in der es gesehen wird.

33. Das sind die Mittel und Wege, wie die Statue den Raum, die Entfernungen, Lagen, Gestalten, Grössen und die Bewegung mit dem Gesichtsinn beurtheilen lernen wird. Je mehr sie sich ihrer Augen bedient, desto besser findet sie sich in deren Gebrauch. Sie bereichern das Gedächtniss mit den schönsten Vorstellungen, ergänzen die Unvollkommenheit der andern Sinne, urtheilen über die Dinge, welcher jenen unzugänglich sind, und dringen bis zu einem Raume vor, zu dem allein die Einbildungskraft noch etwas zusetzen kann. Auch verknüpfen sich ihre Vorstellungen so fest mit allen andern, dass es der Statue fast nicht mehr möglich ist an riechende, tönende oder greifbare Dinge zu denken, ohne sie alsbald mit Licht und Farbe zu bekleiden. Dadurch, dass sie sich die Fertigkeit aneignen, ein Gesammtbild im Ganzen aufzufassen, ja selbst mehrere zu überschauen und über ihre gegenseitigen Beziehungen zu urtheilen, dadurch erlangen sie eine so überlegene Unterscheidungsgabe, dass die Statue vorzugsweise sie zu Rathe zieht. Sie lässt es sich daher weniger angelegen sein, die Lagen und Entfernungen am Schall herauszuhören, die Körper an den feinen unterschieden der Düfte, die sie aushauchen, oder an den Verschiedenheiten, welche die Hand auf ihrer Oberfläche entdecken kann, zu erkennen. Gehör, Geruch und Getagt werden mithin weniger geübt, werden allmählich träger, achten an den Körpern nicht mehr auf alle die Verschiedenheiten, die sie früher herausfanden, und verlieren in dem Maasse an Feinheit, als das Gesicht an Scharfblick zunimmt.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 141-160.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Abhandlung über die Empfindungen
Abhandlungen über die Empfindungen.

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