IX. Von der Reihe der Erkenntnisse, Abstraktionen und Begehrungen, wenn das Gesicht sich zum Tastsinn, Gehör und Geruch gesellt.

[177] 1. Wir haben bewiesen, dass es Urtheile sind, welche mit den Licht- und Farbenempfindungen die Vorstellungen von Raum, Grösse und Gestalt verknüpfen. Zunächst bilden sich diese Urtheile auf Veranlassung der Körper, die auf Gesicht und Getast gleichzeitig wirken; später werden sie so geläufig, dass die Statue sie selbst dann wiederholt, wenn das Ding nur auf das Auge einwirkt, und sie bildet sich dieselben Vorstellungen, als wenn Gesicht und Tastsinn noch immer zusammen urtheilten.

Dadurch werden Licht und Farben zu Eigenschaften der Dinge und verknüpfen sich mit dem Begriff der Ausdehnung, der Grundlage aller Vorstellungen, aus denen das Gedächtniss sich bildet.

Mithin erweitert sich dadurch die Reihe der Erkenntnisse, es kommt grössere Mannichfaltigkeit in die Kombinationen, und im Schlafe verursachen die ausfallenden Vorstellungen tausenderlei verschiedene Verbindungen. Trotz der Dunkelheit wird die Statue im Traume die Dinge mit demselben Licht erleuchtet und in denselben Farben sehen, wie am hellen Tage.

2. Von dem, was wir Empfindung nennen, wird sie einen allgemeineren Begriff bekommen; denn da sie weiss, dass Licht und Farben ihr durch ein besonderes Organ zukommen, so wird sie dieselben daraufhin ansehen und vier Arten Empfindungen unterscheiden.

3. Als sie auf das Gesicht beschränkt blieb, war eine Farbe nur eine einzelne Modifikation ihrer Seele. Jetzt wird jede Farbe eine abstrakte und allgemeine Vorstellung; denn sie bemerkt sie an mehreren Körpern; damit hat sie ein Mittel mehr, die Dinge in verschiedene Klassen einzutheilen.

4. Das Gesicht, das fast ganz passiv war, als es den einzigen Sinn der Statue ausmachte, zeigt sich, seit es mit dem Tastsinn verbunden ist, mehr aktiv; denn es versteht nun die ihm verliehene Kraft, sich auf die Gegenstände zu richten, anzuwenden. Es wartet nicht, bis es[178] ihre Einwirkung erfährt, sondern kommt ihr entgegen. Kurz, es versteht anzuschauen.

5. Weil die Selbstthätigkeit des Gesichtes zunimmt, so zeigt es sich um so deutlicher als der Sitz des Begehrens. Wir haben gesehen, dass das Begehren in der Wirksamkeit der Vermögen besteht, welche von der Unruhe, die durch Entbehrung eines Lustgefühls hervorgerufen wird, angeregt werden.

6. Auch wird die Einbildungskraft die Farben jetzt nicht mehr mit derselben Lebhaftigkeit vergegenwärtigen, weil man, je leichter es ist sich die Empfindungen selbst zu verschaffen, sich um so weniger darin übt, sie zu denken.

7. Endlich wird die Statue, da sie mit dem Gesichte ebenso, wie mit den drei anderen Sinnen, zum Aufmerken befähigt ist, sich von Tönen und Gerüchen dadurch abziehen können, dass sie sich der eitrigen Betrachtung eines farbigen Gegenstandes hingiebt. So haben die Sinne dieselbe Herrschaft über einander, welche die Einbildungskraft über sie alle hat.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 177-179.
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