X. Von dem mit dem Tastsinn vereinigten Geschmack.

[179] 1. Der Geschmacksinn lernt so rasch, dass man kaum bemerkt, er habe eine Lehrzeit nöthig. Das musste so sein, weil er von den ersten Augenblicken unseres Entstehens an zu unserer Erhaltung nothwendig ist.

2. Der Hunger kann, wenn die Statue dieses Gefühl zum ersten Mal erfährt, noch kein bestimmtes Objekt haben; denn die zur Linderung geeigneten Mittel sind ihr gänzlich unbekannt. Sie verlangt also nach keinerlei Nahrung, sondern verlangt nur, aus einem ihr missfälligen Zustande herauszukommen.

In dieser Absicht giebt sie sich allen angenehmen Empfindungen hin, von denen sie Kenntniss hat. Es ist das einzige Gegenmittel, das sie anwenden kann, und das sie einigermaassen ihr Schmerzgefühl vergessen lässt.

3. Jedoch die Unruhe verdoppelt sich, verbreitet sich über alle Theile ihres Körpers und geht ganz besonders[179] auf ihre Lippen, in ihren Mund über. Alsdann wendet sich ihr Zahn gegen Alles, was sich ihr darbietet; sie beisst auf Steine, Erde, kaut Gras und geht zunächst darauf aus, sich von den Dingen zu nähren, die ihren Anstrengungen am wenigsten Widerstand entgegensetzen. Zufrieden mit einer Nahrung, die ihr Erleichterung verschafft hat, sinnt sie nicht darauf, bessere zu suchen. Sie kennt noch keine andere Lust beim Essen, als die, welche das Stillen des Hungers gewährt.

4. Aber da sie ein anderes Mal Früchte findet, deren Farben und Wohlgerüche ihre Sinne reizen, so greift sie darnach. Die Unruhe, die sie empfindet, so oft der Hunger sich erneut, ist für sie ein natürlicher Antrieb, alle Dinge, die ihr gefallen können, zu ergreifen. Jene Frucht bleibt in ihrer Hand, sie besieht, beriecht sie mit lebendigster Aufmerksamkeit. Ihr Hunger nimmt zu; sie beisst hinein, ohne davon einen andern Genuss als die Linderung ihres Schmerzgefühls zu erwarten. Aber wie gross ist ihr Entzücken! Mit welcher Lust schlürft sie nicht diese wonnigen Säfte! Und kann sie dem Reiz, davon zu essen und wieder zu essen, widerstehen?

5. Hat sie diese Erfahrung22 wiederholt gemacht, so kennt sie ein neues Bedürfniss, entdeckt, durch welches Organ sie es befriedigen kann, und erfährt, welche Dinge dazu geeignet sind. Alsdann ist der Hunger nicht mehr wie früher ein Gefühl, das kein bestimmtes Objekt hat, sondern sie strebt mit allen Kräften dahin, sich den Genuss dessen, was ihn zu stillen vermag, zu verschaffen.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 179-180.
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