VI. Wie man einen Blindgebornen, dem man den Staar sticht, beobachten könnte.

[171] 1. Eine vor der Staaroperation zu treffende Vorsichtsmaassregel würde die sein, dass man den Blindgebornen veranlasst über die Vorstellungen nachzudenken, die er durch den Tastsinn empfangen hat, so dass er, wenn er darüber Rechenschaft zu geben im Stande ist, sicher angeben kann, ob das Gesicht sie ihm übermittelt, und dass er aus eignem Antrieb sagen kann, was er sieht, ohne dass man eigentlich nöthig hätte, Fragen an ihn zu richten.

2. Ist der Staar gestochen, so würde es nothwendig sein, ihm den Gebrauch seiner Hände so lange zu verwehren, bis man die Vorstellungen erkannt hat, für welche die Mitwirkung des Tastsinns unnütz ist. Man müsste darauf achten, ob das Licht, welches er wahrnimmt, ihm sehr ausgedehnt erscheint; ob es ihm möglich ist, seine Grenzlinien anzugeben, ob es so verschwommen ist, dass er an ihm nicht mehrere Modifikationen unterscheiden kann.

Nachdem man ihm zwei Farben einzeln gezeigt hat, müsste man sie ihm mit einander zeigen und ihn fragen, ob er von dem, was er gesehen hat, etwas wiedererkenne. Bald müsste man sie nach einander in grosser Zahl unter seinen Augen vorüberziehen lassen, bald sie gleichzeitig vorführen und untersuchen, wie viele von ihnen er auf einmal erkennen kann. Besonders darauf müsste man sehen, ob er die Grössen, Figuren, Lagen, Entfernungen und Bewegung erkennt! Doch müsste man ihn geschickt befragen, und alle Fragen, welche die Antwort andeuten, vermeiden. Wollte man ihn fragen, ob er ein Dreieck oder ein Viereck sieht, so hiesse das ihm sagen, wie er sehen soll, und seinen Augen Unterricht ertheilen.

3. Ein sehr sicheres Mittel, Erfahrungen zu machen, die alle Zweifel zu zerstreuen vermöchten, wäre das, wenn man den Blinden, dem man eben den Staar gestochen, in eine gläserne Zelle einschlösse. Denn entweder wird er die draussen befindlichen Dinge sehen und über ihre Form und Grösse urtheilen, oder er wird nur[172] den durch die Wände seiner Zelle eingeschränkten Raum wahrnehmen und alle jene Dinge nur für verschieden gefärbte Flächen nehmen, die sich ihm nur so weit auszudehnen scheinen, als er mit der Hand reichen kann.

Im ersten Falle wird es ein Beweis dafür sein, dass das Auge urtheilt, ohne das Getast zu Hülfe genommen zu haben, und in dem zweiten, dass es erst dann urtheilt, wenn es dieses zu Rathe gezogen hat.

Wenn, wie ich annehme, dieser Mensch nichts als ausser seiner Zelle befindlich sieht, so folgt daraus, dass der Raum, den er mit dem Auge entdeckt, um so beschränkter sein wird, je kleiner seine Zelle ist; er wird einen Fuss, einen halben Fuss oder noch kleiner sein. Dadurch wird man sich überzeugen, dass er die Farben nicht ausserhalb seiner Augen hätte sehen können, wenn ihn der Tastsinn nicht gelehrt hätte, sie an den Wänden seiner Zelle zu sehen.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 171-173.
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